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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Adolf wilbrandt

Spannung, einen großen Stoff zu organisiren, zu Zeiten gern entrinnt, daß es
ihn erquickt, ein Stück Leben, einen eigentümlichen Vorgang in dem gedämpfter"
Lichte der Erinnerung zu verkörpern. Daß die Novellen des Dramatikers
meist doch ein dramatisches Element, eine dramatische Episode und manchmal
selbst einen dramatischen Konflikt einschließen, wird niemand Wunder nehmen.
In drei Sammlungen "Ein neues Novellcnbuch" (1875), "Novellen aus der
Heimat" (1882) und "Der Verwalter," "Die Verschollner" (1884) zeigte
Wilbrandt, daß seine novellistische Erfindungs- und Darstellungskraft so gut
wuchs wie seine Lust an der gedrängten, knappen Form der echten Novelle.
Das Meisterstück in dieser zweiten Erzählungsreihe scheint uns "Der Lotsen¬
kommandeur," eine Novelle, in der dieselbe Luft weht und dieselbe Menschenart
atmet wie in "Johann Osterins," nur daß in dem "Lotsenkmmnandeur" ein
grimmig drohender und erschütternder Ernst statt des behaglich-humoristischen
Phlegmas vorwaltet. Innerlich bedeutend und mit den einfachsten Mitteln
zu großer Wirkung erhoben zeigt sich auch die Geschichte "Die Verschollner,"
der die Überlieferung von dem geheimnisvollen Paar im Schlosse zu Eishausen
bei Hildburghausen zu Grunde liegt, und die eine poetisch wahre Deutung
und Lösung jener wunderbaren Menschenschicksale sucht, deren wirkliche Lösung
niemals gefunden werden wird. Es lebt dichterische Kraft, tiefer Anteil an
dem Schicksal der Verschollner, volles Gefühl für das Glück der Einsamkeit
in dieser Novelle. Und wenn Wilbrandt den Helden Leonardus Cornelius,
den Dunkelgrafen, sagen läßt: "Was ich auch sah oder hörte, that oder litt --
früh schon erschien ich mir als ein Fremdling, als ein Durchreisender auf
dieser Erde -- ich weiß es nicht anders zu nennen. Ich hatte an nichts eine
so geheimnisvolle Freude wie an den Wolken, die auch so ohne Dauer, ohne
Untergrund über die Erde dahinziehen. Wie lange Stunden konnte ich auf
dem Rücken liegen und ihre wechselnden Formen, ihr fernes, geräuschloses
Wandern, ihre leuchtende Mürchenpracht anstaunen. Und wenn dann zwischen
den abendlichen zerflatternden Wolken die ersten Sterne erschienen, wenn ihr
matter Silberglanz nur entgegenwnchs, und je länger ich hinauf starrte,
desto mehr dieser stummen rätselhaften Augen aus dem melancholischen Blau
des Nachthimmels hervorbrachen! Ich habe mir oft gewünscht, ein fliegender
Vogel zu sein, aber bis zur Sehnsucht quoll der Wunsch in mir auf, aus
dieser Sternenhöhe auf die Erde und mich selbst hinnnterzuschauen, alles
Treiben der Menschen und mein eignes mit so einem Sternenauge zu über¬
fliegen und in seiner märchenhaften Kleinheit zu empfinden," so trifft er genau
den Punkt, wo die moderne Sehnsucht, in das All zu zerfließen, sich mit dem
uralt mystischen Drange begegnet, dem Ewigen nahezukommen. Da es aber
dem Menschen nicht vergönnt ist, in solchen Stimmungen ausschließlich und
dauernd zu leben, so geht die Novelle doch nur daraus hervor, daß wenigstens
einmal der Wall der Abgeschiedenheit durchbrochen wird, den der Graf und


Adolf wilbrandt

Spannung, einen großen Stoff zu organisiren, zu Zeiten gern entrinnt, daß es
ihn erquickt, ein Stück Leben, einen eigentümlichen Vorgang in dem gedämpfter»
Lichte der Erinnerung zu verkörpern. Daß die Novellen des Dramatikers
meist doch ein dramatisches Element, eine dramatische Episode und manchmal
selbst einen dramatischen Konflikt einschließen, wird niemand Wunder nehmen.
In drei Sammlungen „Ein neues Novellcnbuch" (1875), „Novellen aus der
Heimat" (1882) und „Der Verwalter," „Die Verschollner" (1884) zeigte
Wilbrandt, daß seine novellistische Erfindungs- und Darstellungskraft so gut
wuchs wie seine Lust an der gedrängten, knappen Form der echten Novelle.
Das Meisterstück in dieser zweiten Erzählungsreihe scheint uns „Der Lotsen¬
kommandeur," eine Novelle, in der dieselbe Luft weht und dieselbe Menschenart
atmet wie in „Johann Osterins," nur daß in dem „Lotsenkmmnandeur" ein
grimmig drohender und erschütternder Ernst statt des behaglich-humoristischen
Phlegmas vorwaltet. Innerlich bedeutend und mit den einfachsten Mitteln
zu großer Wirkung erhoben zeigt sich auch die Geschichte „Die Verschollner,"
der die Überlieferung von dem geheimnisvollen Paar im Schlosse zu Eishausen
bei Hildburghausen zu Grunde liegt, und die eine poetisch wahre Deutung
und Lösung jener wunderbaren Menschenschicksale sucht, deren wirkliche Lösung
niemals gefunden werden wird. Es lebt dichterische Kraft, tiefer Anteil an
dem Schicksal der Verschollner, volles Gefühl für das Glück der Einsamkeit
in dieser Novelle. Und wenn Wilbrandt den Helden Leonardus Cornelius,
den Dunkelgrafen, sagen läßt: „Was ich auch sah oder hörte, that oder litt —
früh schon erschien ich mir als ein Fremdling, als ein Durchreisender auf
dieser Erde — ich weiß es nicht anders zu nennen. Ich hatte an nichts eine
so geheimnisvolle Freude wie an den Wolken, die auch so ohne Dauer, ohne
Untergrund über die Erde dahinziehen. Wie lange Stunden konnte ich auf
dem Rücken liegen und ihre wechselnden Formen, ihr fernes, geräuschloses
Wandern, ihre leuchtende Mürchenpracht anstaunen. Und wenn dann zwischen
den abendlichen zerflatternden Wolken die ersten Sterne erschienen, wenn ihr
matter Silberglanz nur entgegenwnchs, und je länger ich hinauf starrte,
desto mehr dieser stummen rätselhaften Augen aus dem melancholischen Blau
des Nachthimmels hervorbrachen! Ich habe mir oft gewünscht, ein fliegender
Vogel zu sein, aber bis zur Sehnsucht quoll der Wunsch in mir auf, aus
dieser Sternenhöhe auf die Erde und mich selbst hinnnterzuschauen, alles
Treiben der Menschen und mein eignes mit so einem Sternenauge zu über¬
fliegen und in seiner märchenhaften Kleinheit zu empfinden," so trifft er genau
den Punkt, wo die moderne Sehnsucht, in das All zu zerfließen, sich mit dem
uralt mystischen Drange begegnet, dem Ewigen nahezukommen. Da es aber
dem Menschen nicht vergönnt ist, in solchen Stimmungen ausschließlich und
dauernd zu leben, so geht die Novelle doch nur daraus hervor, daß wenigstens
einmal der Wall der Abgeschiedenheit durchbrochen wird, den der Graf und


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[0136] Adolf wilbrandt Spannung, einen großen Stoff zu organisiren, zu Zeiten gern entrinnt, daß es ihn erquickt, ein Stück Leben, einen eigentümlichen Vorgang in dem gedämpfter» Lichte der Erinnerung zu verkörpern. Daß die Novellen des Dramatikers meist doch ein dramatisches Element, eine dramatische Episode und manchmal selbst einen dramatischen Konflikt einschließen, wird niemand Wunder nehmen. In drei Sammlungen „Ein neues Novellcnbuch" (1875), „Novellen aus der Heimat" (1882) und „Der Verwalter," „Die Verschollner" (1884) zeigte Wilbrandt, daß seine novellistische Erfindungs- und Darstellungskraft so gut wuchs wie seine Lust an der gedrängten, knappen Form der echten Novelle. Das Meisterstück in dieser zweiten Erzählungsreihe scheint uns „Der Lotsen¬ kommandeur," eine Novelle, in der dieselbe Luft weht und dieselbe Menschenart atmet wie in „Johann Osterins," nur daß in dem „Lotsenkmmnandeur" ein grimmig drohender und erschütternder Ernst statt des behaglich-humoristischen Phlegmas vorwaltet. Innerlich bedeutend und mit den einfachsten Mitteln zu großer Wirkung erhoben zeigt sich auch die Geschichte „Die Verschollner," der die Überlieferung von dem geheimnisvollen Paar im Schlosse zu Eishausen bei Hildburghausen zu Grunde liegt, und die eine poetisch wahre Deutung und Lösung jener wunderbaren Menschenschicksale sucht, deren wirkliche Lösung niemals gefunden werden wird. Es lebt dichterische Kraft, tiefer Anteil an dem Schicksal der Verschollner, volles Gefühl für das Glück der Einsamkeit in dieser Novelle. Und wenn Wilbrandt den Helden Leonardus Cornelius, den Dunkelgrafen, sagen läßt: „Was ich auch sah oder hörte, that oder litt — früh schon erschien ich mir als ein Fremdling, als ein Durchreisender auf dieser Erde — ich weiß es nicht anders zu nennen. Ich hatte an nichts eine so geheimnisvolle Freude wie an den Wolken, die auch so ohne Dauer, ohne Untergrund über die Erde dahinziehen. Wie lange Stunden konnte ich auf dem Rücken liegen und ihre wechselnden Formen, ihr fernes, geräuschloses Wandern, ihre leuchtende Mürchenpracht anstaunen. Und wenn dann zwischen den abendlichen zerflatternden Wolken die ersten Sterne erschienen, wenn ihr matter Silberglanz nur entgegenwnchs, und je länger ich hinauf starrte, desto mehr dieser stummen rätselhaften Augen aus dem melancholischen Blau des Nachthimmels hervorbrachen! Ich habe mir oft gewünscht, ein fliegender Vogel zu sein, aber bis zur Sehnsucht quoll der Wunsch in mir auf, aus dieser Sternenhöhe auf die Erde und mich selbst hinnnterzuschauen, alles Treiben der Menschen und mein eignes mit so einem Sternenauge zu über¬ fliegen und in seiner märchenhaften Kleinheit zu empfinden," so trifft er genau den Punkt, wo die moderne Sehnsucht, in das All zu zerfließen, sich mit dem uralt mystischen Drange begegnet, dem Ewigen nahezukommen. Da es aber dem Menschen nicht vergönnt ist, in solchen Stimmungen ausschließlich und dauernd zu leben, so geht die Novelle doch nur daraus hervor, daß wenigstens einmal der Wall der Abgeschiedenheit durchbrochen wird, den der Graf und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/136>, abgerufen am 22.07.2024.