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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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August Loute und der Positivismus

der.Moral mit der Liebe erschöpft, noch ist ein Gesellschaftszustand denkbar,
der die Selbstliebe ausschlösse. Wir gehen auf diesen schon vielfach behandelten
Gegenstand nicht weiter ein und bemerken nur, daß sich Comte mit dieser
Lehre in Widerspruch mit der Geschichte und in doppelten Widerspruch mit
sich selbst verwickelt. Er selbst hat wiederholt die Überzeugung ausgesprochen,
daß der Wille zum Handeln nicht den Vorstellungen, sondern dem Gemüt,
den Trieben und Leidenschaften entspringe, wie könnte uns also eine wissen¬
schaftliche Überzeugung die angeblich verloren gegangne Kraft der Selbst-
hingebnng wiederbringen? Diese Kraft ist etwas ursprüngliches, von aller
Reflexion unabhängiges und wirkt gerade ohne alle Reflexion am stärksten,
wie wir an der Mutterliebe sehen, die die Preisgebung des eignen Lebens am
ausnahmslosesten bei den Tieren bewirkt. Die Aufopferung auf Grund von
Vorstellungen und Glaubenssätzen hin ist meistens nur eine besondre Form
berechnender Selbstsucht, wenn auch einer sehr verfeinerten und erhabnen
Selbstsucht, wie wenn ein Christ den Märtyrertod sucht, um sich dadurch die
ewige Seligkeit oder einen besonders hohen Grad der Seligkeit zu sichern.
Sodann widerspricht Comte, wenn er die Entwicklung vom Egoismus zum
Altruismus fortschreiten läßt, sowohl sich selbst -- beklagt er doch die gegen¬
wärtig herrschende Lieblosigkeit -- als der Erfahrung, die uns lehrt, daß die
Beispiele heldenmütiger Selbstaufopferung und entsagender Liebe in alten
Zeiten nicht seltener gewesen sind als heute. Im Privatleben dürfte sich zu
alleu Zeiten ungefähr dasselbe Verhältnis zwischen Liebe und Selbstsucht be¬
haupten.. Wenn im öffentlichen Leben die Selbstsucht heute stärker und hä߬
licher hervortritt als in frühern Zeiten, so liegt das an unsrer vielfach wider¬
sinnigen Produktious- und Eigentumsordnung. In einer rein bäuerlichen
Gesellschaft giebt es keine scharfen Interessengegensätze; für gewöhnlich nützt
das, was dem einen nützt, z. B. gutes Erntewetter, auch allen übrigen, und
schädigt das, was den einen schädigt, z. B. eine Wasserflut, auch viele andre.
I" Nöten hat nicht einer den andern, sondern alle zusammen haben nur feind¬
liche Naturgewalten anzuklagen. Es nistet sich also, von persönlichen Ver¬
feindungen abgesehen, kein Haß und kein Groll ein, und nichts hindert die
Erweisungen des natürlichen gegenseitigen Wohlwollens. In unsrer gegen¬
wärtigen Produktions- und Eigentumsordnung aber hängt das Wohlbefinden
des einzelnen nur zum kleinsten Teile von dem ab, was die Natur mit Hilfe
der menschlichen Arbeit spendet, ja der größte Überfluß wird vou vielen als
ein Unglück beklagt, weil er die Preise der Waren drückt, hierdurch die Ein¬
nahme der Produzenten und damit ihren Anteil an der Gesamtgütermasse ver¬
ringert. Das Wohlbefinden des einzelnen hängt weit weniger von der Größe
der vorhandnen Gütermasse ab als von der Stellung, die er in der Gesell¬
schaft einnimmt, nämlich davon, in welchem Grade ihn diese Stellung befähigt
oder hindert, den Teil der Gütermasse, den er sich wünscht oder auf den er


August Loute und der Positivismus

der.Moral mit der Liebe erschöpft, noch ist ein Gesellschaftszustand denkbar,
der die Selbstliebe ausschlösse. Wir gehen auf diesen schon vielfach behandelten
Gegenstand nicht weiter ein und bemerken nur, daß sich Comte mit dieser
Lehre in Widerspruch mit der Geschichte und in doppelten Widerspruch mit
sich selbst verwickelt. Er selbst hat wiederholt die Überzeugung ausgesprochen,
daß der Wille zum Handeln nicht den Vorstellungen, sondern dem Gemüt,
den Trieben und Leidenschaften entspringe, wie könnte uns also eine wissen¬
schaftliche Überzeugung die angeblich verloren gegangne Kraft der Selbst-
hingebnng wiederbringen? Diese Kraft ist etwas ursprüngliches, von aller
Reflexion unabhängiges und wirkt gerade ohne alle Reflexion am stärksten,
wie wir an der Mutterliebe sehen, die die Preisgebung des eignen Lebens am
ausnahmslosesten bei den Tieren bewirkt. Die Aufopferung auf Grund von
Vorstellungen und Glaubenssätzen hin ist meistens nur eine besondre Form
berechnender Selbstsucht, wenn auch einer sehr verfeinerten und erhabnen
Selbstsucht, wie wenn ein Christ den Märtyrertod sucht, um sich dadurch die
ewige Seligkeit oder einen besonders hohen Grad der Seligkeit zu sichern.
Sodann widerspricht Comte, wenn er die Entwicklung vom Egoismus zum
Altruismus fortschreiten läßt, sowohl sich selbst — beklagt er doch die gegen¬
wärtig herrschende Lieblosigkeit — als der Erfahrung, die uns lehrt, daß die
Beispiele heldenmütiger Selbstaufopferung und entsagender Liebe in alten
Zeiten nicht seltener gewesen sind als heute. Im Privatleben dürfte sich zu
alleu Zeiten ungefähr dasselbe Verhältnis zwischen Liebe und Selbstsucht be¬
haupten.. Wenn im öffentlichen Leben die Selbstsucht heute stärker und hä߬
licher hervortritt als in frühern Zeiten, so liegt das an unsrer vielfach wider¬
sinnigen Produktious- und Eigentumsordnung. In einer rein bäuerlichen
Gesellschaft giebt es keine scharfen Interessengegensätze; für gewöhnlich nützt
das, was dem einen nützt, z. B. gutes Erntewetter, auch allen übrigen, und
schädigt das, was den einen schädigt, z. B. eine Wasserflut, auch viele andre.
I» Nöten hat nicht einer den andern, sondern alle zusammen haben nur feind¬
liche Naturgewalten anzuklagen. Es nistet sich also, von persönlichen Ver¬
feindungen abgesehen, kein Haß und kein Groll ein, und nichts hindert die
Erweisungen des natürlichen gegenseitigen Wohlwollens. In unsrer gegen¬
wärtigen Produktions- und Eigentumsordnung aber hängt das Wohlbefinden
des einzelnen nur zum kleinsten Teile von dem ab, was die Natur mit Hilfe
der menschlichen Arbeit spendet, ja der größte Überfluß wird vou vielen als
ein Unglück beklagt, weil er die Preise der Waren drückt, hierdurch die Ein¬
nahme der Produzenten und damit ihren Anteil an der Gesamtgütermasse ver¬
ringert. Das Wohlbefinden des einzelnen hängt weit weniger von der Größe
der vorhandnen Gütermasse ab als von der Stellung, die er in der Gesell¬
schaft einnimmt, nämlich davon, in welchem Grade ihn diese Stellung befähigt
oder hindert, den Teil der Gütermasse, den er sich wünscht oder auf den er


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[0127] August Loute und der Positivismus der.Moral mit der Liebe erschöpft, noch ist ein Gesellschaftszustand denkbar, der die Selbstliebe ausschlösse. Wir gehen auf diesen schon vielfach behandelten Gegenstand nicht weiter ein und bemerken nur, daß sich Comte mit dieser Lehre in Widerspruch mit der Geschichte und in doppelten Widerspruch mit sich selbst verwickelt. Er selbst hat wiederholt die Überzeugung ausgesprochen, daß der Wille zum Handeln nicht den Vorstellungen, sondern dem Gemüt, den Trieben und Leidenschaften entspringe, wie könnte uns also eine wissen¬ schaftliche Überzeugung die angeblich verloren gegangne Kraft der Selbst- hingebnng wiederbringen? Diese Kraft ist etwas ursprüngliches, von aller Reflexion unabhängiges und wirkt gerade ohne alle Reflexion am stärksten, wie wir an der Mutterliebe sehen, die die Preisgebung des eignen Lebens am ausnahmslosesten bei den Tieren bewirkt. Die Aufopferung auf Grund von Vorstellungen und Glaubenssätzen hin ist meistens nur eine besondre Form berechnender Selbstsucht, wenn auch einer sehr verfeinerten und erhabnen Selbstsucht, wie wenn ein Christ den Märtyrertod sucht, um sich dadurch die ewige Seligkeit oder einen besonders hohen Grad der Seligkeit zu sichern. Sodann widerspricht Comte, wenn er die Entwicklung vom Egoismus zum Altruismus fortschreiten läßt, sowohl sich selbst — beklagt er doch die gegen¬ wärtig herrschende Lieblosigkeit — als der Erfahrung, die uns lehrt, daß die Beispiele heldenmütiger Selbstaufopferung und entsagender Liebe in alten Zeiten nicht seltener gewesen sind als heute. Im Privatleben dürfte sich zu alleu Zeiten ungefähr dasselbe Verhältnis zwischen Liebe und Selbstsucht be¬ haupten.. Wenn im öffentlichen Leben die Selbstsucht heute stärker und hä߬ licher hervortritt als in frühern Zeiten, so liegt das an unsrer vielfach wider¬ sinnigen Produktious- und Eigentumsordnung. In einer rein bäuerlichen Gesellschaft giebt es keine scharfen Interessengegensätze; für gewöhnlich nützt das, was dem einen nützt, z. B. gutes Erntewetter, auch allen übrigen, und schädigt das, was den einen schädigt, z. B. eine Wasserflut, auch viele andre. I» Nöten hat nicht einer den andern, sondern alle zusammen haben nur feind¬ liche Naturgewalten anzuklagen. Es nistet sich also, von persönlichen Ver¬ feindungen abgesehen, kein Haß und kein Groll ein, und nichts hindert die Erweisungen des natürlichen gegenseitigen Wohlwollens. In unsrer gegen¬ wärtigen Produktions- und Eigentumsordnung aber hängt das Wohlbefinden des einzelnen nur zum kleinsten Teile von dem ab, was die Natur mit Hilfe der menschlichen Arbeit spendet, ja der größte Überfluß wird vou vielen als ein Unglück beklagt, weil er die Preise der Waren drückt, hierdurch die Ein¬ nahme der Produzenten und damit ihren Anteil an der Gesamtgütermasse ver¬ ringert. Das Wohlbefinden des einzelnen hängt weit weniger von der Größe der vorhandnen Gütermasse ab als von der Stellung, die er in der Gesell¬ schaft einnimmt, nämlich davon, in welchem Grade ihn diese Stellung befähigt oder hindert, den Teil der Gütermasse, den er sich wünscht oder auf den er

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/127>, abgerufen am 02.10.2024.