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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Sie Kunst

Es verging noch eine halbe Stunde. Im Walde herrschte Totenstille.
Die leisen, fernen Nachtstimmen des Forstes erwachten, der Wind wehte kühler
durch die aufrauschenden und wieder stiller werdenden Blätter.

Da hörte der Harrende leichte, rasche Schritte, die aus der entgegen¬
gesetzten Richtung kamen; ein weißer Fleck wie ein wehendes Sommerkleid
leuchtete oben an der Treppe auf, und täuschend nachgeahmt klang nun das
leise Gurren der Holztaube von der Quelle her. Ein leichter, unterdrückter
Freudenruf von oben herab antwortete, und in behenden Sprüngen, immer je
zwei, drei Stufen der rohen Treppe auf einmal nehmend, stürmte eine zierliche
Mädchengestalt herunter in die Nacht, ins Dunkel.

Falle nicht, Wildfang! rief ihr der Mann entgegen. Es sollte Schelten
sein, und es war Sorge in dem leisen, unterdrückten Rufe, aber uoch viel
mehr Stolz, Freude und Entzücken.

Aber schon lag sie ihm in den starken Armen, und unter Küssen klang
es leise, aber doch jubelnd, als wäre es laut hinausgejauchzt: Unsinn, Erich,
man kann nicht fallen, wenn man seinem Schatz entgegenfliegt.

Sind wir sicher? fragte er.

Unbedingt sicher, aber nur auf eine Viertelstunde, du weißt ja. Es ist
eigentlich zu schlimm für dich, zwei Stunden her und zwei Stunden durch
den nächtlichen Wald zurück, um eine Viertelstunde lang mit deiner kleinen
Erika zu verplaudern, du armer Kerl.

Reicher Kerl, lachte er leise, sündhaft reich, schon fürchte ich den Neid
der Götter, Kleine. Wie glücklich wäre die Menschheit, wenn sich jeder mit
eines Tages Arbeit solch eine Viertelstunde erkaufen könnte! Aber komm, wir
stehen hier mitten im Weg. ^ Er zog sie in den tiefern Schatten. -- Etwas
neues, kleine Erika?

Nichts wesentliches. Was ist auch wesentlich außer dir. Onkel ist noch
immer ebenso nervös, als wie er hergekommen ist. Wie soll auch jemand
irgendwo wieder gesunde Nerven bekommen, der alles, was sie ihm krank
gemacht hat, überall mit sich herumträgt und überall mit hinnimmt: seine
Geschäftssorgen und seine Geldgier, die er Ehrgeiz nennt.

Sein Gesicht wurde finster: Sprich nicht von Geld! -- Dein Onkel hat
keine Ahnung, daß ich hier bin?

Nein, gesehen hat er dich ja neulich nicht, und von deinem Nest da drüben,
jenseits des Waldes, hat er keine Ahnung. Er hält dich für verschollen und
freut sich dessen, der Gute. Wenn er wüßte, daß Leander jeden Abend zu
seiner Hero schwimmt.

Er lachte: Werde nicht übermütig! So gut wie Hero hast du es doch
nicht. Es wäre doch uoch viel romantischer, wenn der Verehrer so jeden Abend
sein bischen Leben wagte, nicht, kleine Erika? Aber des Waldes Rauschen ist
weniger gefährlich als die Brandung des Hellespont. Meine Leistung ist nicht
viel wert. Vielleicht schwömme ich auch, wenn es sein müßte; vorläufig aber
mußt du auf das erhebende Bewußtsein verzichten, daß dein Geliebter all¬
nächtlich den Tod bezwingt, um zu dir zu kommen. Die reißenden Tiere
werden mich auch nicht fressen. Es ist schon hundertfünfzig und etliche Jahre her,
daß des Königs Waldläufer hier die letzten Wolfsspuren "observiret" haben.

Mache mich nicht zu fürchten, Menschen sind schlimmer als Wölfe! Er¬
innere mich nicht daran, es soll sehr unsicher sein hier im Walde, du gehst
immer allein.


Grenzboten I 1896 12
Sie Kunst

Es verging noch eine halbe Stunde. Im Walde herrschte Totenstille.
Die leisen, fernen Nachtstimmen des Forstes erwachten, der Wind wehte kühler
durch die aufrauschenden und wieder stiller werdenden Blätter.

Da hörte der Harrende leichte, rasche Schritte, die aus der entgegen¬
gesetzten Richtung kamen; ein weißer Fleck wie ein wehendes Sommerkleid
leuchtete oben an der Treppe auf, und täuschend nachgeahmt klang nun das
leise Gurren der Holztaube von der Quelle her. Ein leichter, unterdrückter
Freudenruf von oben herab antwortete, und in behenden Sprüngen, immer je
zwei, drei Stufen der rohen Treppe auf einmal nehmend, stürmte eine zierliche
Mädchengestalt herunter in die Nacht, ins Dunkel.

Falle nicht, Wildfang! rief ihr der Mann entgegen. Es sollte Schelten
sein, und es war Sorge in dem leisen, unterdrückten Rufe, aber uoch viel
mehr Stolz, Freude und Entzücken.

Aber schon lag sie ihm in den starken Armen, und unter Küssen klang
es leise, aber doch jubelnd, als wäre es laut hinausgejauchzt: Unsinn, Erich,
man kann nicht fallen, wenn man seinem Schatz entgegenfliegt.

Sind wir sicher? fragte er.

Unbedingt sicher, aber nur auf eine Viertelstunde, du weißt ja. Es ist
eigentlich zu schlimm für dich, zwei Stunden her und zwei Stunden durch
den nächtlichen Wald zurück, um eine Viertelstunde lang mit deiner kleinen
Erika zu verplaudern, du armer Kerl.

Reicher Kerl, lachte er leise, sündhaft reich, schon fürchte ich den Neid
der Götter, Kleine. Wie glücklich wäre die Menschheit, wenn sich jeder mit
eines Tages Arbeit solch eine Viertelstunde erkaufen könnte! Aber komm, wir
stehen hier mitten im Weg. ^ Er zog sie in den tiefern Schatten. — Etwas
neues, kleine Erika?

Nichts wesentliches. Was ist auch wesentlich außer dir. Onkel ist noch
immer ebenso nervös, als wie er hergekommen ist. Wie soll auch jemand
irgendwo wieder gesunde Nerven bekommen, der alles, was sie ihm krank
gemacht hat, überall mit sich herumträgt und überall mit hinnimmt: seine
Geschäftssorgen und seine Geldgier, die er Ehrgeiz nennt.

Sein Gesicht wurde finster: Sprich nicht von Geld! — Dein Onkel hat
keine Ahnung, daß ich hier bin?

Nein, gesehen hat er dich ja neulich nicht, und von deinem Nest da drüben,
jenseits des Waldes, hat er keine Ahnung. Er hält dich für verschollen und
freut sich dessen, der Gute. Wenn er wüßte, daß Leander jeden Abend zu
seiner Hero schwimmt.

Er lachte: Werde nicht übermütig! So gut wie Hero hast du es doch
nicht. Es wäre doch uoch viel romantischer, wenn der Verehrer so jeden Abend
sein bischen Leben wagte, nicht, kleine Erika? Aber des Waldes Rauschen ist
weniger gefährlich als die Brandung des Hellespont. Meine Leistung ist nicht
viel wert. Vielleicht schwömme ich auch, wenn es sein müßte; vorläufig aber
mußt du auf das erhebende Bewußtsein verzichten, daß dein Geliebter all¬
nächtlich den Tod bezwingt, um zu dir zu kommen. Die reißenden Tiere
werden mich auch nicht fressen. Es ist schon hundertfünfzig und etliche Jahre her,
daß des Königs Waldläufer hier die letzten Wolfsspuren „observiret" haben.

Mache mich nicht zu fürchten, Menschen sind schlimmer als Wölfe! Er¬
innere mich nicht daran, es soll sehr unsicher sein hier im Walde, du gehst
immer allein.


Grenzboten I 1896 12
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[0097] Sie Kunst Es verging noch eine halbe Stunde. Im Walde herrschte Totenstille. Die leisen, fernen Nachtstimmen des Forstes erwachten, der Wind wehte kühler durch die aufrauschenden und wieder stiller werdenden Blätter. Da hörte der Harrende leichte, rasche Schritte, die aus der entgegen¬ gesetzten Richtung kamen; ein weißer Fleck wie ein wehendes Sommerkleid leuchtete oben an der Treppe auf, und täuschend nachgeahmt klang nun das leise Gurren der Holztaube von der Quelle her. Ein leichter, unterdrückter Freudenruf von oben herab antwortete, und in behenden Sprüngen, immer je zwei, drei Stufen der rohen Treppe auf einmal nehmend, stürmte eine zierliche Mädchengestalt herunter in die Nacht, ins Dunkel. Falle nicht, Wildfang! rief ihr der Mann entgegen. Es sollte Schelten sein, und es war Sorge in dem leisen, unterdrückten Rufe, aber uoch viel mehr Stolz, Freude und Entzücken. Aber schon lag sie ihm in den starken Armen, und unter Küssen klang es leise, aber doch jubelnd, als wäre es laut hinausgejauchzt: Unsinn, Erich, man kann nicht fallen, wenn man seinem Schatz entgegenfliegt. Sind wir sicher? fragte er. Unbedingt sicher, aber nur auf eine Viertelstunde, du weißt ja. Es ist eigentlich zu schlimm für dich, zwei Stunden her und zwei Stunden durch den nächtlichen Wald zurück, um eine Viertelstunde lang mit deiner kleinen Erika zu verplaudern, du armer Kerl. Reicher Kerl, lachte er leise, sündhaft reich, schon fürchte ich den Neid der Götter, Kleine. Wie glücklich wäre die Menschheit, wenn sich jeder mit eines Tages Arbeit solch eine Viertelstunde erkaufen könnte! Aber komm, wir stehen hier mitten im Weg. ^ Er zog sie in den tiefern Schatten. — Etwas neues, kleine Erika? Nichts wesentliches. Was ist auch wesentlich außer dir. Onkel ist noch immer ebenso nervös, als wie er hergekommen ist. Wie soll auch jemand irgendwo wieder gesunde Nerven bekommen, der alles, was sie ihm krank gemacht hat, überall mit sich herumträgt und überall mit hinnimmt: seine Geschäftssorgen und seine Geldgier, die er Ehrgeiz nennt. Sein Gesicht wurde finster: Sprich nicht von Geld! — Dein Onkel hat keine Ahnung, daß ich hier bin? Nein, gesehen hat er dich ja neulich nicht, und von deinem Nest da drüben, jenseits des Waldes, hat er keine Ahnung. Er hält dich für verschollen und freut sich dessen, der Gute. Wenn er wüßte, daß Leander jeden Abend zu seiner Hero schwimmt. Er lachte: Werde nicht übermütig! So gut wie Hero hast du es doch nicht. Es wäre doch uoch viel romantischer, wenn der Verehrer so jeden Abend sein bischen Leben wagte, nicht, kleine Erika? Aber des Waldes Rauschen ist weniger gefährlich als die Brandung des Hellespont. Meine Leistung ist nicht viel wert. Vielleicht schwömme ich auch, wenn es sein müßte; vorläufig aber mußt du auf das erhebende Bewußtsein verzichten, daß dein Geliebter all¬ nächtlich den Tod bezwingt, um zu dir zu kommen. Die reißenden Tiere werden mich auch nicht fressen. Es ist schon hundertfünfzig und etliche Jahre her, daß des Königs Waldläufer hier die letzten Wolfsspuren „observiret" haben. Mache mich nicht zu fürchten, Menschen sind schlimmer als Wölfe! Er¬ innere mich nicht daran, es soll sehr unsicher sein hier im Walde, du gehst immer allein. Grenzboten I 1896 12

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/97>, abgerufen am 25.11.2024.