Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.Hof und Bürgertum in der Geistesgeschichte Berlins Daß die lutherische Gemeinde Berlins 1703 so wenig auf die Unions¬ Kurz darauf trat Friedrich II. die Regierung an. Man hat oft gesagt, Hof und Bürgertum in der Geistesgeschichte Berlins Daß die lutherische Gemeinde Berlins 1703 so wenig auf die Unions¬ Kurz darauf trat Friedrich II. die Regierung an. Man hat oft gesagt, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0085" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/221731"/> <fw type="header" place="top"> Hof und Bürgertum in der Geistesgeschichte Berlins</fw><lb/> <p xml:id="ID_224"> Daß die lutherische Gemeinde Berlins 1703 so wenig auf die Unions¬<lb/> bestrebungen ihres Fürsten einging, war die Folge des Pietismus, der in ihr<lb/> damals Platz gegriffen hatte, und der ihr religiöses Interesse, an dem es nicht<lb/> fehlte —- zwischen 1695 und 1715 sind fünf neue protestantische Kirchen in<lb/> Berlin gebaut worden —, völlig ausfüllte. 1694 war Spener an die Nikolai¬<lb/> kirche berufen worden, und seine Bemühungen um ein individuelleres, gläubiges<lb/> Verhältnis des Einzelnen zu Gott, um eine lebendige Volkskirche, um private<lb/> Seelsorge über die Predigt hinaus fanden nicht nur Boden in Berlin, sondern<lb/> siegten hier: noch Jahrzehnte nach Speners Tode sind die meisten Stellen an<lb/> Kirchen und Schulen durch seine Anhänger besetzt gewesen. Kein Wunder,<lb/> daß auch die Reden des Grafen Zinzendorf während seiner vorübergehenden<lb/> Anwesenheit im Winter 1737 auf 1738 großen Zulauf und Dank in der Ber¬<lb/> liner Bürgerschaft fanden.</p><lb/> <p xml:id="ID_225" next="#ID_226"> Kurz darauf trat Friedrich II. die Regierung an. Man hat oft gesagt,<lb/> und auch Geiger sagt es wieder: „Unter ihm und durch ihn wurde Berlin die<lb/> Stadt der Aufklärung." Das ist insofern richtig, als Friedrichs freigeiste-<lb/> risches Beispiel und das Beispiel seines Hofes nicht ohne Wirkung nach unten<lb/> blieb, und daß seine Toleranz für jede Art religiösen Lebens die Bahn frei<lb/> gehalten hat. Im Grnnde ist aber doch auch die Aufklärung in der Bürger¬<lb/> schaft erwachsen, sie war ein notwendiger Seitentrieb zum Pietismus. Das<lb/> hindert nicht, daß ihre Hauptverfechter ans den Reihen der Pietisten hervor¬<lb/> gegangen sind: gerade die Übertreibung des Gefühls in der Religion wurde<lb/> der Anlaß, den Kampf gegen die Orthodoxie auf das Gebiet des Verstandes<lb/> überspringen zu lassen. Schon der seltsame „Sturmvogel der Aufklärungs¬<lb/> zeit," Johann Konrad Dippel, war von Haus aus Pietist: von 1704 bis 1707<lb/> agitirte er in Berlin sür seine rationalistischen Ideen. Zu einem dauernden<lb/> Ferment in Berlins Geistesleben ist die Aufklärung erst viel später geworden,<lb/> aber anch damals war ihr wirksamster Vertreter ein Kind des Pietismus. 1747<lb/> kam Johannes Edelmann nach Berlin, und zwanzig Jahre stellte er hier<lb/> eine geistige Macht dar, schon 1755 waren nicht weniger als huudertvierund-<lb/> vierzig Gegenschriften gegen ihn erschienen, teilweise dreibändige Werke, ein<lb/> ebenso starker Beweis für die Größe seiner Anhängerschaft wie seiner Gegner¬<lb/> schaft. Und in der That fand er thätige Anhänger nicht etwa bloß unter den<lb/> Geistlichen, sondern erst recht im Kaufmanns-, Gelehrten- und Veamtenstande:<lb/> Nicolai, Biester, Gedike sind als die rechten Träger der Berliner Aufklärung<lb/> bekannt. Sie trat mit sehr verschiednen Nachdruck, bald milder, bald heftiger<lb/> auf, ihre populäre Wirkung aber ist gar nicht zu überschätzen. Daneben griffen<lb/> die beiden Gruppen der Berliner Franzosen und Juden, durch ihre überwiegend<lb/> verstandesmüßige Anlage dazu befähigt, zu Gunsten der Aufklärung ein, Moses<lb/> Mendelssohn ist ihr bekanntester Vertreter geworden. Sie durchdrang den schon<lb/> damals ansehnlichen Schwall von Berliner Zeitungen und Zeitschriften, sie be-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0085]
Hof und Bürgertum in der Geistesgeschichte Berlins
Daß die lutherische Gemeinde Berlins 1703 so wenig auf die Unions¬
bestrebungen ihres Fürsten einging, war die Folge des Pietismus, der in ihr
damals Platz gegriffen hatte, und der ihr religiöses Interesse, an dem es nicht
fehlte —- zwischen 1695 und 1715 sind fünf neue protestantische Kirchen in
Berlin gebaut worden —, völlig ausfüllte. 1694 war Spener an die Nikolai¬
kirche berufen worden, und seine Bemühungen um ein individuelleres, gläubiges
Verhältnis des Einzelnen zu Gott, um eine lebendige Volkskirche, um private
Seelsorge über die Predigt hinaus fanden nicht nur Boden in Berlin, sondern
siegten hier: noch Jahrzehnte nach Speners Tode sind die meisten Stellen an
Kirchen und Schulen durch seine Anhänger besetzt gewesen. Kein Wunder,
daß auch die Reden des Grafen Zinzendorf während seiner vorübergehenden
Anwesenheit im Winter 1737 auf 1738 großen Zulauf und Dank in der Ber¬
liner Bürgerschaft fanden.
Kurz darauf trat Friedrich II. die Regierung an. Man hat oft gesagt,
und auch Geiger sagt es wieder: „Unter ihm und durch ihn wurde Berlin die
Stadt der Aufklärung." Das ist insofern richtig, als Friedrichs freigeiste-
risches Beispiel und das Beispiel seines Hofes nicht ohne Wirkung nach unten
blieb, und daß seine Toleranz für jede Art religiösen Lebens die Bahn frei
gehalten hat. Im Grnnde ist aber doch auch die Aufklärung in der Bürger¬
schaft erwachsen, sie war ein notwendiger Seitentrieb zum Pietismus. Das
hindert nicht, daß ihre Hauptverfechter ans den Reihen der Pietisten hervor¬
gegangen sind: gerade die Übertreibung des Gefühls in der Religion wurde
der Anlaß, den Kampf gegen die Orthodoxie auf das Gebiet des Verstandes
überspringen zu lassen. Schon der seltsame „Sturmvogel der Aufklärungs¬
zeit," Johann Konrad Dippel, war von Haus aus Pietist: von 1704 bis 1707
agitirte er in Berlin sür seine rationalistischen Ideen. Zu einem dauernden
Ferment in Berlins Geistesleben ist die Aufklärung erst viel später geworden,
aber anch damals war ihr wirksamster Vertreter ein Kind des Pietismus. 1747
kam Johannes Edelmann nach Berlin, und zwanzig Jahre stellte er hier
eine geistige Macht dar, schon 1755 waren nicht weniger als huudertvierund-
vierzig Gegenschriften gegen ihn erschienen, teilweise dreibändige Werke, ein
ebenso starker Beweis für die Größe seiner Anhängerschaft wie seiner Gegner¬
schaft. Und in der That fand er thätige Anhänger nicht etwa bloß unter den
Geistlichen, sondern erst recht im Kaufmanns-, Gelehrten- und Veamtenstande:
Nicolai, Biester, Gedike sind als die rechten Träger der Berliner Aufklärung
bekannt. Sie trat mit sehr verschiednen Nachdruck, bald milder, bald heftiger
auf, ihre populäre Wirkung aber ist gar nicht zu überschätzen. Daneben griffen
die beiden Gruppen der Berliner Franzosen und Juden, durch ihre überwiegend
verstandesmüßige Anlage dazu befähigt, zu Gunsten der Aufklärung ein, Moses
Mendelssohn ist ihr bekanntester Vertreter geworden. Sie durchdrang den schon
damals ansehnlichen Schwall von Berliner Zeitungen und Zeitschriften, sie be-
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