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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Die Infektionskrankheiten

seiner falschen Anwendung nach dem Grundsatz: Viel hilft viel, der in Ver¬
bindung mit der unglückseligen rein symptomatischen BeHandlungsweise die
offizielle Heilkunde fast um alles Vertrauen gebracht hat: sowohl Koch selbst,
als auch seine Schüler bedienten sich so großer Gaben des Tuberkulins, daß
uicht seine Heil-, sondern seine Giftwirkung in den Vordergrund trat, und viele
Kranke anstatt der gehofften Genesung Verschlimmerung des Übels, wenn nicht
den Tod fanden. Dagegen hatten die Ärzte, die das Mittel in so kleinen
Mengen anwandten, daß es keinerlei Krankheitserscheinungen erzeugte, in der
That gute Erfolge zu verzeichnen: doch war ihre Zahl so gering, daß sie in
der Menge der andern verschwanden.

Wenn aber auch die Einführung des Kochschen Tuberkulius in die ärzt¬
liche Praxis vorläufig mit einem großen Mißerfolg endete, so waren doch die
Ergebnisse seiner Arbeiten von großer Bedeutung auf erkenntnistheoretischen
Gebiet; alle Forschungen, die seit den letzten fünfzehn Jahren über die In¬
fektionskrankheiten, ihr Wesen und ihre Bekämpfung angestellt wurden, nahmen
entweder von hier ihren Ausgangspunkt oder mußten sich wenigstens von vorn¬
herein mit Kochs Untersuchungen auseinandersetzen. Von großer Wichtigkeit
sind zunächst die Versuche, die künstlich abgeschwächten Giftkörper so zu ver¬
wenden, daß man sie anfangs in den allerkleinsten, vollständig unschädlichen
Gaben in den Tierkörper einführte, diese allmählich steigerte, und so das Tier
endlich dahin brachte, Giftmengen zu ertragen, die andre, unvorbereitete Tiere
unfehlbar töteten. Beispiele dafür find der Milzbrand, der Schweinerotlauf
und die Tollwut.

Für die Tollwut, die ja auch durch den Biß tollwütiger Tiere auf den
Menschen übertragbar ist, sind die Arbeiten Pasteurs deshalb von besondrer
Bedeutung, weil es ihm gelang, ihre Ergebnisse auch für die Praxis verwertbar
zu machen. Sie beruhen auf folgenden, durch mühsame, langwierige und
scharfsinnige Untersuchungen ermittelten Thatsachen: 1. das Wutgift ist ein
Nervengift: von der Bißstelle kriecht es längs der Nervenscheiden langsam auf¬
wärts bis zum Rückenmark und den Zentralorganen und übt erst, wenn
es dort angekommen ist, seine furchtbarem, fast stets mit dem Tode endigenden
Wirkungen aus; 2. das Gift ist stets in dem Rückenmark wutkranker Tiere
vorhanden, und es gelingt fast ausnahmslos, gesunde Hunde dadurch wutkrank
zu machen, daß man ihnen kleine Teilchen des Rückenmarks wutkranker Tiere
in eine Wunde bringt; 3. durch langsame Austrocknung des Rückenmarks
läßt sich das Gift abschwächen; die Abschwächung ist um so stärker, je länger
die Allstrocknung dauert, sodaß man sich Wutgift schwächsten wie stärksten
Grades künstlich bereiten kann.

Nach Feststellung dieser Thatsachen begann Pasteur mit den Versuchen,
gesunde Hunde gegen das Gift zu immuuistren. Indem er anfangs die schwächste
Form des Giftes anwandte und dann von Tag zu Tag zu stärkern Formen


Die Infektionskrankheiten

seiner falschen Anwendung nach dem Grundsatz: Viel hilft viel, der in Ver¬
bindung mit der unglückseligen rein symptomatischen BeHandlungsweise die
offizielle Heilkunde fast um alles Vertrauen gebracht hat: sowohl Koch selbst,
als auch seine Schüler bedienten sich so großer Gaben des Tuberkulins, daß
uicht seine Heil-, sondern seine Giftwirkung in den Vordergrund trat, und viele
Kranke anstatt der gehofften Genesung Verschlimmerung des Übels, wenn nicht
den Tod fanden. Dagegen hatten die Ärzte, die das Mittel in so kleinen
Mengen anwandten, daß es keinerlei Krankheitserscheinungen erzeugte, in der
That gute Erfolge zu verzeichnen: doch war ihre Zahl so gering, daß sie in
der Menge der andern verschwanden.

Wenn aber auch die Einführung des Kochschen Tuberkulius in die ärzt¬
liche Praxis vorläufig mit einem großen Mißerfolg endete, so waren doch die
Ergebnisse seiner Arbeiten von großer Bedeutung auf erkenntnistheoretischen
Gebiet; alle Forschungen, die seit den letzten fünfzehn Jahren über die In¬
fektionskrankheiten, ihr Wesen und ihre Bekämpfung angestellt wurden, nahmen
entweder von hier ihren Ausgangspunkt oder mußten sich wenigstens von vorn¬
herein mit Kochs Untersuchungen auseinandersetzen. Von großer Wichtigkeit
sind zunächst die Versuche, die künstlich abgeschwächten Giftkörper so zu ver¬
wenden, daß man sie anfangs in den allerkleinsten, vollständig unschädlichen
Gaben in den Tierkörper einführte, diese allmählich steigerte, und so das Tier
endlich dahin brachte, Giftmengen zu ertragen, die andre, unvorbereitete Tiere
unfehlbar töteten. Beispiele dafür find der Milzbrand, der Schweinerotlauf
und die Tollwut.

Für die Tollwut, die ja auch durch den Biß tollwütiger Tiere auf den
Menschen übertragbar ist, sind die Arbeiten Pasteurs deshalb von besondrer
Bedeutung, weil es ihm gelang, ihre Ergebnisse auch für die Praxis verwertbar
zu machen. Sie beruhen auf folgenden, durch mühsame, langwierige und
scharfsinnige Untersuchungen ermittelten Thatsachen: 1. das Wutgift ist ein
Nervengift: von der Bißstelle kriecht es längs der Nervenscheiden langsam auf¬
wärts bis zum Rückenmark und den Zentralorganen und übt erst, wenn
es dort angekommen ist, seine furchtbarem, fast stets mit dem Tode endigenden
Wirkungen aus; 2. das Gift ist stets in dem Rückenmark wutkranker Tiere
vorhanden, und es gelingt fast ausnahmslos, gesunde Hunde dadurch wutkrank
zu machen, daß man ihnen kleine Teilchen des Rückenmarks wutkranker Tiere
in eine Wunde bringt; 3. durch langsame Austrocknung des Rückenmarks
läßt sich das Gift abschwächen; die Abschwächung ist um so stärker, je länger
die Allstrocknung dauert, sodaß man sich Wutgift schwächsten wie stärksten
Grades künstlich bereiten kann.

Nach Feststellung dieser Thatsachen begann Pasteur mit den Versuchen,
gesunde Hunde gegen das Gift zu immuuistren. Indem er anfangs die schwächste
Form des Giftes anwandte und dann von Tag zu Tag zu stärkern Formen


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[0077] Die Infektionskrankheiten seiner falschen Anwendung nach dem Grundsatz: Viel hilft viel, der in Ver¬ bindung mit der unglückseligen rein symptomatischen BeHandlungsweise die offizielle Heilkunde fast um alles Vertrauen gebracht hat: sowohl Koch selbst, als auch seine Schüler bedienten sich so großer Gaben des Tuberkulins, daß uicht seine Heil-, sondern seine Giftwirkung in den Vordergrund trat, und viele Kranke anstatt der gehofften Genesung Verschlimmerung des Übels, wenn nicht den Tod fanden. Dagegen hatten die Ärzte, die das Mittel in so kleinen Mengen anwandten, daß es keinerlei Krankheitserscheinungen erzeugte, in der That gute Erfolge zu verzeichnen: doch war ihre Zahl so gering, daß sie in der Menge der andern verschwanden. Wenn aber auch die Einführung des Kochschen Tuberkulius in die ärzt¬ liche Praxis vorläufig mit einem großen Mißerfolg endete, so waren doch die Ergebnisse seiner Arbeiten von großer Bedeutung auf erkenntnistheoretischen Gebiet; alle Forschungen, die seit den letzten fünfzehn Jahren über die In¬ fektionskrankheiten, ihr Wesen und ihre Bekämpfung angestellt wurden, nahmen entweder von hier ihren Ausgangspunkt oder mußten sich wenigstens von vorn¬ herein mit Kochs Untersuchungen auseinandersetzen. Von großer Wichtigkeit sind zunächst die Versuche, die künstlich abgeschwächten Giftkörper so zu ver¬ wenden, daß man sie anfangs in den allerkleinsten, vollständig unschädlichen Gaben in den Tierkörper einführte, diese allmählich steigerte, und so das Tier endlich dahin brachte, Giftmengen zu ertragen, die andre, unvorbereitete Tiere unfehlbar töteten. Beispiele dafür find der Milzbrand, der Schweinerotlauf und die Tollwut. Für die Tollwut, die ja auch durch den Biß tollwütiger Tiere auf den Menschen übertragbar ist, sind die Arbeiten Pasteurs deshalb von besondrer Bedeutung, weil es ihm gelang, ihre Ergebnisse auch für die Praxis verwertbar zu machen. Sie beruhen auf folgenden, durch mühsame, langwierige und scharfsinnige Untersuchungen ermittelten Thatsachen: 1. das Wutgift ist ein Nervengift: von der Bißstelle kriecht es längs der Nervenscheiden langsam auf¬ wärts bis zum Rückenmark und den Zentralorganen und übt erst, wenn es dort angekommen ist, seine furchtbarem, fast stets mit dem Tode endigenden Wirkungen aus; 2. das Gift ist stets in dem Rückenmark wutkranker Tiere vorhanden, und es gelingt fast ausnahmslos, gesunde Hunde dadurch wutkrank zu machen, daß man ihnen kleine Teilchen des Rückenmarks wutkranker Tiere in eine Wunde bringt; 3. durch langsame Austrocknung des Rückenmarks läßt sich das Gift abschwächen; die Abschwächung ist um so stärker, je länger die Allstrocknung dauert, sodaß man sich Wutgift schwächsten wie stärksten Grades künstlich bereiten kann. Nach Feststellung dieser Thatsachen begann Pasteur mit den Versuchen, gesunde Hunde gegen das Gift zu immuuistren. Indem er anfangs die schwächste Form des Giftes anwandte und dann von Tag zu Tag zu stärkern Formen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/77>, abgerufen am 01.09.2024.