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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Die Infektionskrankheiten

zwanzigjährigen Menschen zu sehen, der nicht mehr oder weniger deutlich die
Spuren der überstandnen Krankheit an sich getragen hätte, ist heute der Anblick
eines durch Pockennarben entstellten Gesichts eine große Seltenheit geworden.

Ein andrer mit der Entdeckung Jenners thatsächlich gegebner Begriff, der
aber ebenfalls erst in der Neuzeit zur vollen Entfaltung gekommen ist, nachdem
es Koch gelungen war, idie Krankheitserreger zu isoliren, zu züchten und sie
durch seine Fürbmethode streng von einander zu unterscheiden, ist der Begriff
des abgeschwächten Krankheitsgiftes oder vielmehr, unsern Anschauungen ent¬
sprechend, der abgeschwächten Krankheitserreger: diese, wie jedes pflanzliche
Wesen, in ihrer Lebensenergie und in ihren Stoffwechselprodukten abhängig
von dem Nährboden, auf dem sie wachsen, können durch willkürliche Abänderung
des Bodens, sowie der übrigen äußern Lebensbedingungen, die zu ihrem Ge¬
deihen erforderlich sind, der Luft, des Lichts, einer gewissen Temperatur,
mannichfach beeinflußt werden; für die Heilkunst am wichtigste,? ist die That¬
sache, daß sich diese ihre Veränderlichkeit auch bezieht auf den Grad ihrer
Giftigkeit, und daß man imstande ist, diesen Grad der Giftigkeit sowohl für
die Krankheitserreger selbst, also für die belebten Jnfektivnsstoffc, als auch für
ihre Stoffwechselprodukte, d. h. für die unbelebten Jnfektionsstoffe zu steigern
und abzuschwächen.

Von diese" Begriffen der Immunität und der Abschwächung ausgehend
stellte sich Koch die Ausgabe, ein Mittel zu finden, mit dem er, ähnlich wie
bei der Kuhpockenimpfung, einen andern Feind des Menschengeschlechts, der seit
Jahrtausenden zahllose Opfer forderte und allen Anstrengungen der Ärzte, ihn zu
bändigen, Widerstand leistete, die Tuberkulose, bekämpfen könne. Ein solches
Mittel fand er nun zwar nicht, wohl aber ein andres, mit dem er zwar nicht
die Gesunden vor der Erkrankung an Tuberkulose schützen, aber doch die
Krankheit in ihrem Entstehen erkennen und, wie er glaubte, die erkannte Krank¬
heit heilen konnte. Er gewann es in künstlichen Kulturen der Tuberkelbazillen
aus ihren Stofswechselprodnkten und nannte es Tnberkulin. Die Eigenschaften
dieses Mittels waren eigentümlich genug: in großen Gaben auch für den ge¬
sunden Menschen ein heftiges Gift, störte es in kleinen Gaben das Wohl¬
befinden nicht, während es, in denselben kleinen Gaben bei den Tuberkulösen
angewandt, sowohl eine starke allgemeine, als auch eine örtliche für die von
der Krankheit ergriffnen Organe charakteristische Wirkung ausübte. Das Mittel
wurde mit ungeheurer Begeisterung aufgenommen, erfüllte aber leider nicht
die Hoffnungen, die Ärzte und Laien darauf gesetzt hatten: in kürzester Frist
verwandelte sich der Triumph, den die ärztliche Wissenschaft und Kunst gefeiert
hatte, in eine furchtbare Niederlage, die dem Ansehen des ärztlichen Standes
um so mehr schadete, als nicht nur die Laien, sondern auch die Ärzte selbst
die neue Methode ebenso kritiklos verließen, wie sie sie ausgenommen hatten.
Denn ihr Mißerfolg war nicht begründet in dem Mittel selbst, sondern in


Die Infektionskrankheiten

zwanzigjährigen Menschen zu sehen, der nicht mehr oder weniger deutlich die
Spuren der überstandnen Krankheit an sich getragen hätte, ist heute der Anblick
eines durch Pockennarben entstellten Gesichts eine große Seltenheit geworden.

Ein andrer mit der Entdeckung Jenners thatsächlich gegebner Begriff, der
aber ebenfalls erst in der Neuzeit zur vollen Entfaltung gekommen ist, nachdem
es Koch gelungen war, idie Krankheitserreger zu isoliren, zu züchten und sie
durch seine Fürbmethode streng von einander zu unterscheiden, ist der Begriff
des abgeschwächten Krankheitsgiftes oder vielmehr, unsern Anschauungen ent¬
sprechend, der abgeschwächten Krankheitserreger: diese, wie jedes pflanzliche
Wesen, in ihrer Lebensenergie und in ihren Stoffwechselprodukten abhängig
von dem Nährboden, auf dem sie wachsen, können durch willkürliche Abänderung
des Bodens, sowie der übrigen äußern Lebensbedingungen, die zu ihrem Ge¬
deihen erforderlich sind, der Luft, des Lichts, einer gewissen Temperatur,
mannichfach beeinflußt werden; für die Heilkunst am wichtigste,? ist die That¬
sache, daß sich diese ihre Veränderlichkeit auch bezieht auf den Grad ihrer
Giftigkeit, und daß man imstande ist, diesen Grad der Giftigkeit sowohl für
die Krankheitserreger selbst, also für die belebten Jnfektivnsstoffc, als auch für
ihre Stoffwechselprodukte, d. h. für die unbelebten Jnfektionsstoffe zu steigern
und abzuschwächen.

Von diese» Begriffen der Immunität und der Abschwächung ausgehend
stellte sich Koch die Ausgabe, ein Mittel zu finden, mit dem er, ähnlich wie
bei der Kuhpockenimpfung, einen andern Feind des Menschengeschlechts, der seit
Jahrtausenden zahllose Opfer forderte und allen Anstrengungen der Ärzte, ihn zu
bändigen, Widerstand leistete, die Tuberkulose, bekämpfen könne. Ein solches
Mittel fand er nun zwar nicht, wohl aber ein andres, mit dem er zwar nicht
die Gesunden vor der Erkrankung an Tuberkulose schützen, aber doch die
Krankheit in ihrem Entstehen erkennen und, wie er glaubte, die erkannte Krank¬
heit heilen konnte. Er gewann es in künstlichen Kulturen der Tuberkelbazillen
aus ihren Stofswechselprodnkten und nannte es Tnberkulin. Die Eigenschaften
dieses Mittels waren eigentümlich genug: in großen Gaben auch für den ge¬
sunden Menschen ein heftiges Gift, störte es in kleinen Gaben das Wohl¬
befinden nicht, während es, in denselben kleinen Gaben bei den Tuberkulösen
angewandt, sowohl eine starke allgemeine, als auch eine örtliche für die von
der Krankheit ergriffnen Organe charakteristische Wirkung ausübte. Das Mittel
wurde mit ungeheurer Begeisterung aufgenommen, erfüllte aber leider nicht
die Hoffnungen, die Ärzte und Laien darauf gesetzt hatten: in kürzester Frist
verwandelte sich der Triumph, den die ärztliche Wissenschaft und Kunst gefeiert
hatte, in eine furchtbare Niederlage, die dem Ansehen des ärztlichen Standes
um so mehr schadete, als nicht nur die Laien, sondern auch die Ärzte selbst
die neue Methode ebenso kritiklos verließen, wie sie sie ausgenommen hatten.
Denn ihr Mißerfolg war nicht begründet in dem Mittel selbst, sondern in


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[0076] Die Infektionskrankheiten zwanzigjährigen Menschen zu sehen, der nicht mehr oder weniger deutlich die Spuren der überstandnen Krankheit an sich getragen hätte, ist heute der Anblick eines durch Pockennarben entstellten Gesichts eine große Seltenheit geworden. Ein andrer mit der Entdeckung Jenners thatsächlich gegebner Begriff, der aber ebenfalls erst in der Neuzeit zur vollen Entfaltung gekommen ist, nachdem es Koch gelungen war, idie Krankheitserreger zu isoliren, zu züchten und sie durch seine Fürbmethode streng von einander zu unterscheiden, ist der Begriff des abgeschwächten Krankheitsgiftes oder vielmehr, unsern Anschauungen ent¬ sprechend, der abgeschwächten Krankheitserreger: diese, wie jedes pflanzliche Wesen, in ihrer Lebensenergie und in ihren Stoffwechselprodukten abhängig von dem Nährboden, auf dem sie wachsen, können durch willkürliche Abänderung des Bodens, sowie der übrigen äußern Lebensbedingungen, die zu ihrem Ge¬ deihen erforderlich sind, der Luft, des Lichts, einer gewissen Temperatur, mannichfach beeinflußt werden; für die Heilkunst am wichtigste,? ist die That¬ sache, daß sich diese ihre Veränderlichkeit auch bezieht auf den Grad ihrer Giftigkeit, und daß man imstande ist, diesen Grad der Giftigkeit sowohl für die Krankheitserreger selbst, also für die belebten Jnfektivnsstoffc, als auch für ihre Stoffwechselprodukte, d. h. für die unbelebten Jnfektionsstoffe zu steigern und abzuschwächen. Von diese» Begriffen der Immunität und der Abschwächung ausgehend stellte sich Koch die Ausgabe, ein Mittel zu finden, mit dem er, ähnlich wie bei der Kuhpockenimpfung, einen andern Feind des Menschengeschlechts, der seit Jahrtausenden zahllose Opfer forderte und allen Anstrengungen der Ärzte, ihn zu bändigen, Widerstand leistete, die Tuberkulose, bekämpfen könne. Ein solches Mittel fand er nun zwar nicht, wohl aber ein andres, mit dem er zwar nicht die Gesunden vor der Erkrankung an Tuberkulose schützen, aber doch die Krankheit in ihrem Entstehen erkennen und, wie er glaubte, die erkannte Krank¬ heit heilen konnte. Er gewann es in künstlichen Kulturen der Tuberkelbazillen aus ihren Stofswechselprodnkten und nannte es Tnberkulin. Die Eigenschaften dieses Mittels waren eigentümlich genug: in großen Gaben auch für den ge¬ sunden Menschen ein heftiges Gift, störte es in kleinen Gaben das Wohl¬ befinden nicht, während es, in denselben kleinen Gaben bei den Tuberkulösen angewandt, sowohl eine starke allgemeine, als auch eine örtliche für die von der Krankheit ergriffnen Organe charakteristische Wirkung ausübte. Das Mittel wurde mit ungeheurer Begeisterung aufgenommen, erfüllte aber leider nicht die Hoffnungen, die Ärzte und Laien darauf gesetzt hatten: in kürzester Frist verwandelte sich der Triumph, den die ärztliche Wissenschaft und Kunst gefeiert hatte, in eine furchtbare Niederlage, die dem Ansehen des ärztlichen Standes um so mehr schadete, als nicht nur die Laien, sondern auch die Ärzte selbst die neue Methode ebenso kritiklos verließen, wie sie sie ausgenommen hatten. Denn ihr Mißerfolg war nicht begründet in dem Mittel selbst, sondern in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/76>, abgerufen am 01.09.2024.