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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Die Infektionskrankheiten

Durch Jenners Entdeckung war eigentlich thatsächlich schon ein Begriff
in die Medizin eingeführt, der in der neusten Zeit von der größten Bedeutung
für die Wissenschaft und für die Heilkunde geworden ist, der Begriff der
Immunität, d. h. des Geschütze- oder Gefeitseins vor einer Krankheit. Damals
war er aber noch eine wirre Mischung von falschen und unklaren Vorstellungen.
So erklärte man sich z. B. den Schutz, den das einmalige Überstehen der
Pockenkrankheit gegen ein wiederholtes Vefallenwerden von derselben Krankheit
gewährt, durch die Annahme, daß jeder Mensch den sogenannten Pockenstvff
mit auf die Welt bringe, und daß dieser einmal im Leben aus dem Körper
ausgeschieden werden müsse. Dies geschehe durch Verschwörung der in der
Haut befindlichen Pockendrüsen; erfolge diese vollständig, so sei der Mensch in
Zukunft pockenfest. Aus dieser Annahme erklären sich viele uns modernen
Menschen ganz unverständliche Vorstellungen und Handlungen unsrer Vor¬
fahren: so der Glaube, daß jeder Mensch in seinem Leben einmal die Pocken
bekommen müsse; daß es also ebenso vergeblich wie thöricht sei, irgendwelche
Maßregeln zu ihrer Abwehr zu treffen oder sich vor Ansteckung zu schützen;
so ihre Behandlungsmethode dieser Krankheit, die lange Zeit darauf gerichtet
war, den Pockenstoff durch ein erhitzendes Verfahren möglichst gründlich aus
dein Körper zu entfernen; ferner ihr Wunsch, daß ihre Kinder möglichst früh¬
zeitig diesen Reinigungsprozeß durchmachten, und deshalb ihr Bestreben, die
Gesunden durch häufigen Verkehr und innige Berührung mit Pockenkranken,
ja durch künstliche Einimpfung des Pockengiftes pockenkrank zu machen. Die
natürliche Folge war, daß die Pocken in der That zu einer unvermeidlichen
Krankheit für jeden wurden und sich jahrhundertelang in größern oder kleinern
Zwischenräumen und bald in milden, bald in mörderischen Epidemien über die
Erde verbreiteten. So wirkte Jenners Entdeckung in doppelter Weise wohl¬
thätig: sie begünstigte einerseits die Abschaffung der besonders von Hufeland
empfohlenen Methode, die Jugend durch künstliche Einimpfung des Pockengiftes
absichtlich zu durchseuchen, einer Methode, durch die das Gift geradezu ge¬
züchtet und zahllose schwere Epidemien herbeigeführt worden waren; andrerseits
bewirkte sie die Einführung von hygienischen Maßregeln, die die Verbreitung
der Pocken, namentlich durch strenges Isoliren der Pockenkranken und Des¬
infektion oder Vernichtung der von ihnen gebrauchten Sachen, bekämpften,
weil man ja nun in der Lage war, durch die Einimpfung der Kuhpocken und
die durch sie erzeugte verhältnismäßig sehr leichte Erkrankung die schwere und
oft tötliche Pockenkrankheit selbst zu vermeiden. Der Erfolg war überraschend
günstig: in den Ländern, die die Impfung zwangsweise einführten und strenge
vorbeugende Maßregeln gegen die trotzdem auftretende Seuche ergriffen, wurden
die Pocken so selten, daß in den Gesichtern ihrer Bewohner eine vollständige
Veränderung eintrat: während es noch in den ersten Jahrzehnten unsers Jahr¬
hunderts in Deutschland zu den Ausnahmen gehörte, einen fünfzehn- bis


Die Infektionskrankheiten

Durch Jenners Entdeckung war eigentlich thatsächlich schon ein Begriff
in die Medizin eingeführt, der in der neusten Zeit von der größten Bedeutung
für die Wissenschaft und für die Heilkunde geworden ist, der Begriff der
Immunität, d. h. des Geschütze- oder Gefeitseins vor einer Krankheit. Damals
war er aber noch eine wirre Mischung von falschen und unklaren Vorstellungen.
So erklärte man sich z. B. den Schutz, den das einmalige Überstehen der
Pockenkrankheit gegen ein wiederholtes Vefallenwerden von derselben Krankheit
gewährt, durch die Annahme, daß jeder Mensch den sogenannten Pockenstvff
mit auf die Welt bringe, und daß dieser einmal im Leben aus dem Körper
ausgeschieden werden müsse. Dies geschehe durch Verschwörung der in der
Haut befindlichen Pockendrüsen; erfolge diese vollständig, so sei der Mensch in
Zukunft pockenfest. Aus dieser Annahme erklären sich viele uns modernen
Menschen ganz unverständliche Vorstellungen und Handlungen unsrer Vor¬
fahren: so der Glaube, daß jeder Mensch in seinem Leben einmal die Pocken
bekommen müsse; daß es also ebenso vergeblich wie thöricht sei, irgendwelche
Maßregeln zu ihrer Abwehr zu treffen oder sich vor Ansteckung zu schützen;
so ihre Behandlungsmethode dieser Krankheit, die lange Zeit darauf gerichtet
war, den Pockenstoff durch ein erhitzendes Verfahren möglichst gründlich aus
dein Körper zu entfernen; ferner ihr Wunsch, daß ihre Kinder möglichst früh¬
zeitig diesen Reinigungsprozeß durchmachten, und deshalb ihr Bestreben, die
Gesunden durch häufigen Verkehr und innige Berührung mit Pockenkranken,
ja durch künstliche Einimpfung des Pockengiftes pockenkrank zu machen. Die
natürliche Folge war, daß die Pocken in der That zu einer unvermeidlichen
Krankheit für jeden wurden und sich jahrhundertelang in größern oder kleinern
Zwischenräumen und bald in milden, bald in mörderischen Epidemien über die
Erde verbreiteten. So wirkte Jenners Entdeckung in doppelter Weise wohl¬
thätig: sie begünstigte einerseits die Abschaffung der besonders von Hufeland
empfohlenen Methode, die Jugend durch künstliche Einimpfung des Pockengiftes
absichtlich zu durchseuchen, einer Methode, durch die das Gift geradezu ge¬
züchtet und zahllose schwere Epidemien herbeigeführt worden waren; andrerseits
bewirkte sie die Einführung von hygienischen Maßregeln, die die Verbreitung
der Pocken, namentlich durch strenges Isoliren der Pockenkranken und Des¬
infektion oder Vernichtung der von ihnen gebrauchten Sachen, bekämpften,
weil man ja nun in der Lage war, durch die Einimpfung der Kuhpocken und
die durch sie erzeugte verhältnismäßig sehr leichte Erkrankung die schwere und
oft tötliche Pockenkrankheit selbst zu vermeiden. Der Erfolg war überraschend
günstig: in den Ländern, die die Impfung zwangsweise einführten und strenge
vorbeugende Maßregeln gegen die trotzdem auftretende Seuche ergriffen, wurden
die Pocken so selten, daß in den Gesichtern ihrer Bewohner eine vollständige
Veränderung eintrat: während es noch in den ersten Jahrzehnten unsers Jahr¬
hunderts in Deutschland zu den Ausnahmen gehörte, einen fünfzehn- bis


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[0075] Die Infektionskrankheiten Durch Jenners Entdeckung war eigentlich thatsächlich schon ein Begriff in die Medizin eingeführt, der in der neusten Zeit von der größten Bedeutung für die Wissenschaft und für die Heilkunde geworden ist, der Begriff der Immunität, d. h. des Geschütze- oder Gefeitseins vor einer Krankheit. Damals war er aber noch eine wirre Mischung von falschen und unklaren Vorstellungen. So erklärte man sich z. B. den Schutz, den das einmalige Überstehen der Pockenkrankheit gegen ein wiederholtes Vefallenwerden von derselben Krankheit gewährt, durch die Annahme, daß jeder Mensch den sogenannten Pockenstvff mit auf die Welt bringe, und daß dieser einmal im Leben aus dem Körper ausgeschieden werden müsse. Dies geschehe durch Verschwörung der in der Haut befindlichen Pockendrüsen; erfolge diese vollständig, so sei der Mensch in Zukunft pockenfest. Aus dieser Annahme erklären sich viele uns modernen Menschen ganz unverständliche Vorstellungen und Handlungen unsrer Vor¬ fahren: so der Glaube, daß jeder Mensch in seinem Leben einmal die Pocken bekommen müsse; daß es also ebenso vergeblich wie thöricht sei, irgendwelche Maßregeln zu ihrer Abwehr zu treffen oder sich vor Ansteckung zu schützen; so ihre Behandlungsmethode dieser Krankheit, die lange Zeit darauf gerichtet war, den Pockenstoff durch ein erhitzendes Verfahren möglichst gründlich aus dein Körper zu entfernen; ferner ihr Wunsch, daß ihre Kinder möglichst früh¬ zeitig diesen Reinigungsprozeß durchmachten, und deshalb ihr Bestreben, die Gesunden durch häufigen Verkehr und innige Berührung mit Pockenkranken, ja durch künstliche Einimpfung des Pockengiftes pockenkrank zu machen. Die natürliche Folge war, daß die Pocken in der That zu einer unvermeidlichen Krankheit für jeden wurden und sich jahrhundertelang in größern oder kleinern Zwischenräumen und bald in milden, bald in mörderischen Epidemien über die Erde verbreiteten. So wirkte Jenners Entdeckung in doppelter Weise wohl¬ thätig: sie begünstigte einerseits die Abschaffung der besonders von Hufeland empfohlenen Methode, die Jugend durch künstliche Einimpfung des Pockengiftes absichtlich zu durchseuchen, einer Methode, durch die das Gift geradezu ge¬ züchtet und zahllose schwere Epidemien herbeigeführt worden waren; andrerseits bewirkte sie die Einführung von hygienischen Maßregeln, die die Verbreitung der Pocken, namentlich durch strenges Isoliren der Pockenkranken und Des¬ infektion oder Vernichtung der von ihnen gebrauchten Sachen, bekämpften, weil man ja nun in der Lage war, durch die Einimpfung der Kuhpocken und die durch sie erzeugte verhältnismäßig sehr leichte Erkrankung die schwere und oft tötliche Pockenkrankheit selbst zu vermeiden. Der Erfolg war überraschend günstig: in den Ländern, die die Impfung zwangsweise einführten und strenge vorbeugende Maßregeln gegen die trotzdem auftretende Seuche ergriffen, wurden die Pocken so selten, daß in den Gesichtern ihrer Bewohner eine vollständige Veränderung eintrat: während es noch in den ersten Jahrzehnten unsers Jahr¬ hunderts in Deutschland zu den Ausnahmen gehörte, einen fünfzehn- bis

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/75>, abgerufen am 01.09.2024.