Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Infektionskrankheiten

Heiden bezeichnete, durch unsichtbare lebende Wesen erzeugt würden, ja der
Deutsche Henle und der Franzose Bretonneau hatten es bereits in der Mitte
unsers Jahrhunderts mit klaren Worten ausgesprochen, daß sich die Entstehung
und Verbreitung, sowie das Erlöschen der ansteckenden Krankheiten gar nicht
anders erklären lasse als durch die Annahme, daß sich niedere Wesen, die wie
jeder andre lebende Organismus keimten, wüchse", sich vermehrten, Frucht
trügen und wieder zu Grunde gingen, in dem menschlichen Körper ansiedelten
und in ihm ihren natürlichen Lebensprozeß durchmachten. Aber was damals
nur eine Forderung des suchenden Verstandes war, also mehr ein Glaubens¬
artikel als eine bewiesene Lehre, ist heute durch die genialen Untersuchungen
Robert Kochs zu einer unumstößlich feststehenden, streng wissenschaftlich be¬
gründeten Thatsache geworden, Koch ist es nicht nur gelungen, das Dasein
jener kleinsten Wesen nachzuweisen, sonder" sie auch zu isolire", sie außerhalb
des menschliche" Organismus auf geeigneten Nährboden zu züchten, ihre Lebens¬
bedingungen festzustellen und den Nachweis zu liefern, daß sie bei den be¬
treffenden Krankheiten stets in den Organen oder den Säften des erkrankten
Organismus Vorhäute" sind und rei" gezüchtet und künstlich in den gesunden
Organismus eingeführt, in diesem mit Sicherheit dieselbe Krankheit erzeuge".

Damit war ein gewaltiger Fortschritt in der Lehre von den Ursachen der
Krankheit, ihrer Ätiologie, gegeben: man hatte es nun nicht mehr mit nebel¬
haften, mehr oder weniger der Einbildungskraft angehörigen Vorstellungen zu
thun, sondern mit ficht- und faßbaren, gleichsam handgreiflichen Wesen, aus
deren Lebensgeschichte und Lebensbedingungen man die Mittel zu ihrer Be¬
kämpfung aufzufinden hoffen durfte. Und in der That, die Kliniker und Ärzte
summten nicht, die praktischen Folgerungen aus der neuen Entdeckung zu ziehen:
es begann das Zeitalter der Antiseptik, die schon vorher empirisch von Lister
auf dem Felde der chirurgischen Krankheiten mit großem Erfolge geübt worden
war, auch für die innere Medizin. Lag doch nichts näher als der Gedanke,
die dnrch Infektion, d. h. dnrch Eindringen der Krankheitserreger in den
Körper erzeugten Krankheiten dadurch zu heilen, daß man diese Erreger ver¬
nichtete und zu ihrer Vernichtung dieselben Mittel gebrauchte, die in den künst¬
lichen Kulturen ihre Entwicklung zu hemmen und ihr Leben zu zerstören ver¬
mochten. Die Zahl der "antiseptischen" Mittel wuchs ins Unendliche.

Aber der Erfolg entsprach nicht den Erwartungen; er blieb sogar voll¬
ständig aus, und zwar aus einem sehr einfachen Grunde: dieselben Mittel, die
die Krankheitserreger vernichtete", waren auch Gifte für den menschlichen
Organismus, und um sie in wirksamer Weise anzuwenden, Hütte es der Ein¬
führung so großer Mengen bedurft, daß mau damit nicht nur die Krankheits¬
erreger, sondern auch den Kranken selbst unfehlbar vom Leben zum Tode be¬
fördert Hütte. Führte aber dieser Weg auch uicht zum Ziele, so hatte er doch
eine für das Schicksal mancher Kranken sehr erfreuliche Folge, insofern er die


Grenzboten I 1896 9
Die Infektionskrankheiten

Heiden bezeichnete, durch unsichtbare lebende Wesen erzeugt würden, ja der
Deutsche Henle und der Franzose Bretonneau hatten es bereits in der Mitte
unsers Jahrhunderts mit klaren Worten ausgesprochen, daß sich die Entstehung
und Verbreitung, sowie das Erlöschen der ansteckenden Krankheiten gar nicht
anders erklären lasse als durch die Annahme, daß sich niedere Wesen, die wie
jeder andre lebende Organismus keimten, wüchse», sich vermehrten, Frucht
trügen und wieder zu Grunde gingen, in dem menschlichen Körper ansiedelten
und in ihm ihren natürlichen Lebensprozeß durchmachten. Aber was damals
nur eine Forderung des suchenden Verstandes war, also mehr ein Glaubens¬
artikel als eine bewiesene Lehre, ist heute durch die genialen Untersuchungen
Robert Kochs zu einer unumstößlich feststehenden, streng wissenschaftlich be¬
gründeten Thatsache geworden, Koch ist es nicht nur gelungen, das Dasein
jener kleinsten Wesen nachzuweisen, sonder» sie auch zu isolire», sie außerhalb
des menschliche» Organismus auf geeigneten Nährboden zu züchten, ihre Lebens¬
bedingungen festzustellen und den Nachweis zu liefern, daß sie bei den be¬
treffenden Krankheiten stets in den Organen oder den Säften des erkrankten
Organismus Vorhäute» sind und rei» gezüchtet und künstlich in den gesunden
Organismus eingeführt, in diesem mit Sicherheit dieselbe Krankheit erzeuge».

Damit war ein gewaltiger Fortschritt in der Lehre von den Ursachen der
Krankheit, ihrer Ätiologie, gegeben: man hatte es nun nicht mehr mit nebel¬
haften, mehr oder weniger der Einbildungskraft angehörigen Vorstellungen zu
thun, sondern mit ficht- und faßbaren, gleichsam handgreiflichen Wesen, aus
deren Lebensgeschichte und Lebensbedingungen man die Mittel zu ihrer Be¬
kämpfung aufzufinden hoffen durfte. Und in der That, die Kliniker und Ärzte
summten nicht, die praktischen Folgerungen aus der neuen Entdeckung zu ziehen:
es begann das Zeitalter der Antiseptik, die schon vorher empirisch von Lister
auf dem Felde der chirurgischen Krankheiten mit großem Erfolge geübt worden
war, auch für die innere Medizin. Lag doch nichts näher als der Gedanke,
die dnrch Infektion, d. h. dnrch Eindringen der Krankheitserreger in den
Körper erzeugten Krankheiten dadurch zu heilen, daß man diese Erreger ver¬
nichtete und zu ihrer Vernichtung dieselben Mittel gebrauchte, die in den künst¬
lichen Kulturen ihre Entwicklung zu hemmen und ihr Leben zu zerstören ver¬
mochten. Die Zahl der „antiseptischen" Mittel wuchs ins Unendliche.

Aber der Erfolg entsprach nicht den Erwartungen; er blieb sogar voll¬
ständig aus, und zwar aus einem sehr einfachen Grunde: dieselben Mittel, die
die Krankheitserreger vernichtete», waren auch Gifte für den menschlichen
Organismus, und um sie in wirksamer Weise anzuwenden, Hütte es der Ein¬
führung so großer Mengen bedurft, daß mau damit nicht nur die Krankheits¬
erreger, sondern auch den Kranken selbst unfehlbar vom Leben zum Tode be¬
fördert Hütte. Führte aber dieser Weg auch uicht zum Ziele, so hatte er doch
eine für das Schicksal mancher Kranken sehr erfreuliche Folge, insofern er die


Grenzboten I 1896 9
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0073" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/221719"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Infektionskrankheiten</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_192" prev="#ID_191"> Heiden bezeichnete, durch unsichtbare lebende Wesen erzeugt würden, ja der<lb/>
Deutsche Henle und der Franzose Bretonneau hatten es bereits in der Mitte<lb/>
unsers Jahrhunderts mit klaren Worten ausgesprochen, daß sich die Entstehung<lb/>
und Verbreitung, sowie das Erlöschen der ansteckenden Krankheiten gar nicht<lb/>
anders erklären lasse als durch die Annahme, daß sich niedere Wesen, die wie<lb/>
jeder andre lebende Organismus keimten, wüchse», sich vermehrten, Frucht<lb/>
trügen und wieder zu Grunde gingen, in dem menschlichen Körper ansiedelten<lb/>
und in ihm ihren natürlichen Lebensprozeß durchmachten. Aber was damals<lb/>
nur eine Forderung des suchenden Verstandes war, also mehr ein Glaubens¬<lb/>
artikel als eine bewiesene Lehre, ist heute durch die genialen Untersuchungen<lb/>
Robert Kochs zu einer unumstößlich feststehenden, streng wissenschaftlich be¬<lb/>
gründeten Thatsache geworden, Koch ist es nicht nur gelungen, das Dasein<lb/>
jener kleinsten Wesen nachzuweisen, sonder» sie auch zu isolire», sie außerhalb<lb/>
des menschliche» Organismus auf geeigneten Nährboden zu züchten, ihre Lebens¬<lb/>
bedingungen festzustellen und den Nachweis zu liefern, daß sie bei den be¬<lb/>
treffenden Krankheiten stets in den Organen oder den Säften des erkrankten<lb/>
Organismus Vorhäute» sind und rei» gezüchtet und künstlich in den gesunden<lb/>
Organismus eingeführt, in diesem mit Sicherheit dieselbe Krankheit erzeuge».</p><lb/>
          <p xml:id="ID_193"> Damit war ein gewaltiger Fortschritt in der Lehre von den Ursachen der<lb/>
Krankheit, ihrer Ätiologie, gegeben: man hatte es nun nicht mehr mit nebel¬<lb/>
haften, mehr oder weniger der Einbildungskraft angehörigen Vorstellungen zu<lb/>
thun, sondern mit ficht- und faßbaren, gleichsam handgreiflichen Wesen, aus<lb/>
deren Lebensgeschichte und Lebensbedingungen man die Mittel zu ihrer Be¬<lb/>
kämpfung aufzufinden hoffen durfte. Und in der That, die Kliniker und Ärzte<lb/>
summten nicht, die praktischen Folgerungen aus der neuen Entdeckung zu ziehen:<lb/>
es begann das Zeitalter der Antiseptik, die schon vorher empirisch von Lister<lb/>
auf dem Felde der chirurgischen Krankheiten mit großem Erfolge geübt worden<lb/>
war, auch für die innere Medizin. Lag doch nichts näher als der Gedanke,<lb/>
die dnrch Infektion, d. h. dnrch Eindringen der Krankheitserreger in den<lb/>
Körper erzeugten Krankheiten dadurch zu heilen, daß man diese Erreger ver¬<lb/>
nichtete und zu ihrer Vernichtung dieselben Mittel gebrauchte, die in den künst¬<lb/>
lichen Kulturen ihre Entwicklung zu hemmen und ihr Leben zu zerstören ver¬<lb/>
mochten.  Die Zahl der &#x201E;antiseptischen" Mittel wuchs ins Unendliche.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_194" next="#ID_195"> Aber der Erfolg entsprach nicht den Erwartungen; er blieb sogar voll¬<lb/>
ständig aus, und zwar aus einem sehr einfachen Grunde: dieselben Mittel, die<lb/>
die Krankheitserreger vernichtete», waren auch Gifte für den menschlichen<lb/>
Organismus, und um sie in wirksamer Weise anzuwenden, Hütte es der Ein¬<lb/>
führung so großer Mengen bedurft, daß mau damit nicht nur die Krankheits¬<lb/>
erreger, sondern auch den Kranken selbst unfehlbar vom Leben zum Tode be¬<lb/>
fördert Hütte. Führte aber dieser Weg auch uicht zum Ziele, so hatte er doch<lb/>
eine für das Schicksal mancher Kranken sehr erfreuliche Folge, insofern er die</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I 1896 9</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0073] Die Infektionskrankheiten Heiden bezeichnete, durch unsichtbare lebende Wesen erzeugt würden, ja der Deutsche Henle und der Franzose Bretonneau hatten es bereits in der Mitte unsers Jahrhunderts mit klaren Worten ausgesprochen, daß sich die Entstehung und Verbreitung, sowie das Erlöschen der ansteckenden Krankheiten gar nicht anders erklären lasse als durch die Annahme, daß sich niedere Wesen, die wie jeder andre lebende Organismus keimten, wüchse», sich vermehrten, Frucht trügen und wieder zu Grunde gingen, in dem menschlichen Körper ansiedelten und in ihm ihren natürlichen Lebensprozeß durchmachten. Aber was damals nur eine Forderung des suchenden Verstandes war, also mehr ein Glaubens¬ artikel als eine bewiesene Lehre, ist heute durch die genialen Untersuchungen Robert Kochs zu einer unumstößlich feststehenden, streng wissenschaftlich be¬ gründeten Thatsache geworden, Koch ist es nicht nur gelungen, das Dasein jener kleinsten Wesen nachzuweisen, sonder» sie auch zu isolire», sie außerhalb des menschliche» Organismus auf geeigneten Nährboden zu züchten, ihre Lebens¬ bedingungen festzustellen und den Nachweis zu liefern, daß sie bei den be¬ treffenden Krankheiten stets in den Organen oder den Säften des erkrankten Organismus Vorhäute» sind und rei» gezüchtet und künstlich in den gesunden Organismus eingeführt, in diesem mit Sicherheit dieselbe Krankheit erzeuge». Damit war ein gewaltiger Fortschritt in der Lehre von den Ursachen der Krankheit, ihrer Ätiologie, gegeben: man hatte es nun nicht mehr mit nebel¬ haften, mehr oder weniger der Einbildungskraft angehörigen Vorstellungen zu thun, sondern mit ficht- und faßbaren, gleichsam handgreiflichen Wesen, aus deren Lebensgeschichte und Lebensbedingungen man die Mittel zu ihrer Be¬ kämpfung aufzufinden hoffen durfte. Und in der That, die Kliniker und Ärzte summten nicht, die praktischen Folgerungen aus der neuen Entdeckung zu ziehen: es begann das Zeitalter der Antiseptik, die schon vorher empirisch von Lister auf dem Felde der chirurgischen Krankheiten mit großem Erfolge geübt worden war, auch für die innere Medizin. Lag doch nichts näher als der Gedanke, die dnrch Infektion, d. h. dnrch Eindringen der Krankheitserreger in den Körper erzeugten Krankheiten dadurch zu heilen, daß man diese Erreger ver¬ nichtete und zu ihrer Vernichtung dieselben Mittel gebrauchte, die in den künst¬ lichen Kulturen ihre Entwicklung zu hemmen und ihr Leben zu zerstören ver¬ mochten. Die Zahl der „antiseptischen" Mittel wuchs ins Unendliche. Aber der Erfolg entsprach nicht den Erwartungen; er blieb sogar voll¬ ständig aus, und zwar aus einem sehr einfachen Grunde: dieselben Mittel, die die Krankheitserreger vernichtete», waren auch Gifte für den menschlichen Organismus, und um sie in wirksamer Weise anzuwenden, Hütte es der Ein¬ führung so großer Mengen bedurft, daß mau damit nicht nur die Krankheits¬ erreger, sondern auch den Kranken selbst unfehlbar vom Leben zum Tode be¬ fördert Hütte. Führte aber dieser Weg auch uicht zum Ziele, so hatte er doch eine für das Schicksal mancher Kranken sehr erfreuliche Folge, insofern er die Grenzboten I 1896 9

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/73
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/73>, abgerufen am 28.11.2024.