Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

Worten begründet und in Form von Dogmen verkündigt werden, die man um
der ewigen Seligkeit willen zu glauben habe, das ist für einen klar sehenden
und dabei einigermaßen feinfühligen Mann unerträglich. Aber freilich, bei
längerer Beschäftigung mit den kirchlichen Dingen bemerkt man wohl, daß es
sich mit vielen andern Dogmen nicht anders verhält. Und so zieht man denn,
wenn man folgerichtig denkt, den Schluß, nicht daß eine neue Kirchengemein¬
schaft zu gründen sei, sondern daß man sich von allen kirchlichen Streitigkeiten
zurückzuziehen habe.

Nicht wenige haben den Altkatholizismus, wie vordem schon den Deutsch¬
katholizismus, als Vorstufe zur Gründung einer deutschen Nationalkirche be¬
grüßt. Eine Zeit lang gestehe ich selbst diesem Trugbilde nachgejagt zu sein.
Ihm schließlich den Rücken zu kehren, bewog mich nicht allein die geringe
Ausdehnung der Bewegung, bei der an einen Einfluß auf die Geschicke des
deutschen Volkes gar uicht zu denken ist, sondern auch ein andrer, viel wich¬
tigerer und viel tieferer Grund. Nachdem der betäubende und berauschende
patriotische Lärm der siebziger Jahre verklungen war, besann ich mich wieder dar¬
auf, daß ja die Idee der Nationalkirchen durch und durch unchristlich, unbiblisch
sei. Das gehört ja eben zum Wesen der christlichen Idee, daß die Scheidewand
zwischen den Völkern, sofern sie Christen sind, aufgehoben sein soll, und daß
es in Christo weder Juden noch Griechen giebt, sondern daß sie alle eins
sind in ihm. Nationalkirchen wie die spanische, die russische, die abessynische
können nnter Umständen recht nützlich sein und sind, wo sie bestehen, ohne
Zweifel unvermeidliche geschichtliche Produkte gewesen, aber im Namen Christi
darf sie der denkende Geist nicht fordern. Auch wenn man das Neue Testament
nicht mehr im orthodoxen Sinne für eine göttliche Offenbarung hält, ist es
doch etwas so erhabnes, daß die Ehrfurcht vor ihm abhalten sollte, in seinem
Namen eine Forderung zu erheben, die offenbar schnurstracks wider seinen Geist
und sogar wider seinen Buchstaben geht.

So bin ich denn bei der Auffassung der Altkatholikengemeinschaft als einer
Nothüttc stehen geblieben, benutze das Obdach, das sie mir gewährt, noch heute,
und gedenke es nicht zu verlassen. Ich schätze das Christentum zu hoch, als
daß ich ihn: durch förmliche Trennung vom Leibe der Christenheit Verachtung
bezeugen sollte, und da ich mit meinen Überzeugungen in der römisch-katho¬
lischen Kirche nicht geduldet werden könnte, unter den evangelischen Kirchen
aber keine finde, zu der ich mich hingezogen fühlte, fo liegt für einen noch¬
maligen Konfessionswechsel kein Grund vor. selbständig denkende Männer
haben, wenn sie nicht frivol sind, in den Kirchen wie den Kirchen gegenüber
immer einen schweren Stand. Man kann selbständig zu denken gewöhnt sein,
ohne ein großer Gelehrter oder ein epochemachender Philosoph zu sein, daher
braucht es nicht als Anmaßung ausgelegt zu werden, wenn ich mich auf
Leibniz berufe. Ihn hatte der Landgraf Ernst von Hessen-Nheinfels (ihr Brief-


Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

Worten begründet und in Form von Dogmen verkündigt werden, die man um
der ewigen Seligkeit willen zu glauben habe, das ist für einen klar sehenden
und dabei einigermaßen feinfühligen Mann unerträglich. Aber freilich, bei
längerer Beschäftigung mit den kirchlichen Dingen bemerkt man wohl, daß es
sich mit vielen andern Dogmen nicht anders verhält. Und so zieht man denn,
wenn man folgerichtig denkt, den Schluß, nicht daß eine neue Kirchengemein¬
schaft zu gründen sei, sondern daß man sich von allen kirchlichen Streitigkeiten
zurückzuziehen habe.

Nicht wenige haben den Altkatholizismus, wie vordem schon den Deutsch¬
katholizismus, als Vorstufe zur Gründung einer deutschen Nationalkirche be¬
grüßt. Eine Zeit lang gestehe ich selbst diesem Trugbilde nachgejagt zu sein.
Ihm schließlich den Rücken zu kehren, bewog mich nicht allein die geringe
Ausdehnung der Bewegung, bei der an einen Einfluß auf die Geschicke des
deutschen Volkes gar uicht zu denken ist, sondern auch ein andrer, viel wich¬
tigerer und viel tieferer Grund. Nachdem der betäubende und berauschende
patriotische Lärm der siebziger Jahre verklungen war, besann ich mich wieder dar¬
auf, daß ja die Idee der Nationalkirchen durch und durch unchristlich, unbiblisch
sei. Das gehört ja eben zum Wesen der christlichen Idee, daß die Scheidewand
zwischen den Völkern, sofern sie Christen sind, aufgehoben sein soll, und daß
es in Christo weder Juden noch Griechen giebt, sondern daß sie alle eins
sind in ihm. Nationalkirchen wie die spanische, die russische, die abessynische
können nnter Umständen recht nützlich sein und sind, wo sie bestehen, ohne
Zweifel unvermeidliche geschichtliche Produkte gewesen, aber im Namen Christi
darf sie der denkende Geist nicht fordern. Auch wenn man das Neue Testament
nicht mehr im orthodoxen Sinne für eine göttliche Offenbarung hält, ist es
doch etwas so erhabnes, daß die Ehrfurcht vor ihm abhalten sollte, in seinem
Namen eine Forderung zu erheben, die offenbar schnurstracks wider seinen Geist
und sogar wider seinen Buchstaben geht.

So bin ich denn bei der Auffassung der Altkatholikengemeinschaft als einer
Nothüttc stehen geblieben, benutze das Obdach, das sie mir gewährt, noch heute,
und gedenke es nicht zu verlassen. Ich schätze das Christentum zu hoch, als
daß ich ihn: durch förmliche Trennung vom Leibe der Christenheit Verachtung
bezeugen sollte, und da ich mit meinen Überzeugungen in der römisch-katho¬
lischen Kirche nicht geduldet werden könnte, unter den evangelischen Kirchen
aber keine finde, zu der ich mich hingezogen fühlte, fo liegt für einen noch¬
maligen Konfessionswechsel kein Grund vor. selbständig denkende Männer
haben, wenn sie nicht frivol sind, in den Kirchen wie den Kirchen gegenüber
immer einen schweren Stand. Man kann selbständig zu denken gewöhnt sein,
ohne ein großer Gelehrter oder ein epochemachender Philosoph zu sein, daher
braucht es nicht als Anmaßung ausgelegt zu werden, wenn ich mich auf
Leibniz berufe. Ihn hatte der Landgraf Ernst von Hessen-Nheinfels (ihr Brief-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0630" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/222276"/>
          <fw type="header" place="top"> Wandlungen des Ich im Zeitenstrome</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2233" prev="#ID_2232"> Worten begründet und in Form von Dogmen verkündigt werden, die man um<lb/>
der ewigen Seligkeit willen zu glauben habe, das ist für einen klar sehenden<lb/>
und dabei einigermaßen feinfühligen Mann unerträglich. Aber freilich, bei<lb/>
längerer Beschäftigung mit den kirchlichen Dingen bemerkt man wohl, daß es<lb/>
sich mit vielen andern Dogmen nicht anders verhält. Und so zieht man denn,<lb/>
wenn man folgerichtig denkt, den Schluß, nicht daß eine neue Kirchengemein¬<lb/>
schaft zu gründen sei, sondern daß man sich von allen kirchlichen Streitigkeiten<lb/>
zurückzuziehen habe.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2234"> Nicht wenige haben den Altkatholizismus, wie vordem schon den Deutsch¬<lb/>
katholizismus, als Vorstufe zur Gründung einer deutschen Nationalkirche be¬<lb/>
grüßt. Eine Zeit lang gestehe ich selbst diesem Trugbilde nachgejagt zu sein.<lb/>
Ihm schließlich den Rücken zu kehren, bewog mich nicht allein die geringe<lb/>
Ausdehnung der Bewegung, bei der an einen Einfluß auf die Geschicke des<lb/>
deutschen Volkes gar uicht zu denken ist, sondern auch ein andrer, viel wich¬<lb/>
tigerer und viel tieferer Grund. Nachdem der betäubende und berauschende<lb/>
patriotische Lärm der siebziger Jahre verklungen war, besann ich mich wieder dar¬<lb/>
auf, daß ja die Idee der Nationalkirchen durch und durch unchristlich, unbiblisch<lb/>
sei. Das gehört ja eben zum Wesen der christlichen Idee, daß die Scheidewand<lb/>
zwischen den Völkern, sofern sie Christen sind, aufgehoben sein soll, und daß<lb/>
es in Christo weder Juden noch Griechen giebt, sondern daß sie alle eins<lb/>
sind in ihm. Nationalkirchen wie die spanische, die russische, die abessynische<lb/>
können nnter Umständen recht nützlich sein und sind, wo sie bestehen, ohne<lb/>
Zweifel unvermeidliche geschichtliche Produkte gewesen, aber im Namen Christi<lb/>
darf sie der denkende Geist nicht fordern. Auch wenn man das Neue Testament<lb/>
nicht mehr im orthodoxen Sinne für eine göttliche Offenbarung hält, ist es<lb/>
doch etwas so erhabnes, daß die Ehrfurcht vor ihm abhalten sollte, in seinem<lb/>
Namen eine Forderung zu erheben, die offenbar schnurstracks wider seinen Geist<lb/>
und sogar wider seinen Buchstaben geht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2235" next="#ID_2236"> So bin ich denn bei der Auffassung der Altkatholikengemeinschaft als einer<lb/>
Nothüttc stehen geblieben, benutze das Obdach, das sie mir gewährt, noch heute,<lb/>
und gedenke es nicht zu verlassen. Ich schätze das Christentum zu hoch, als<lb/>
daß ich ihn: durch förmliche Trennung vom Leibe der Christenheit Verachtung<lb/>
bezeugen sollte, und da ich mit meinen Überzeugungen in der römisch-katho¬<lb/>
lischen Kirche nicht geduldet werden könnte, unter den evangelischen Kirchen<lb/>
aber keine finde, zu der ich mich hingezogen fühlte, fo liegt für einen noch¬<lb/>
maligen Konfessionswechsel kein Grund vor. selbständig denkende Männer<lb/>
haben, wenn sie nicht frivol sind, in den Kirchen wie den Kirchen gegenüber<lb/>
immer einen schweren Stand. Man kann selbständig zu denken gewöhnt sein,<lb/>
ohne ein großer Gelehrter oder ein epochemachender Philosoph zu sein, daher<lb/>
braucht es nicht als Anmaßung ausgelegt zu werden, wenn ich mich auf<lb/>
Leibniz berufe. Ihn hatte der Landgraf Ernst von Hessen-Nheinfels (ihr Brief-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0630] Wandlungen des Ich im Zeitenstrome Worten begründet und in Form von Dogmen verkündigt werden, die man um der ewigen Seligkeit willen zu glauben habe, das ist für einen klar sehenden und dabei einigermaßen feinfühligen Mann unerträglich. Aber freilich, bei längerer Beschäftigung mit den kirchlichen Dingen bemerkt man wohl, daß es sich mit vielen andern Dogmen nicht anders verhält. Und so zieht man denn, wenn man folgerichtig denkt, den Schluß, nicht daß eine neue Kirchengemein¬ schaft zu gründen sei, sondern daß man sich von allen kirchlichen Streitigkeiten zurückzuziehen habe. Nicht wenige haben den Altkatholizismus, wie vordem schon den Deutsch¬ katholizismus, als Vorstufe zur Gründung einer deutschen Nationalkirche be¬ grüßt. Eine Zeit lang gestehe ich selbst diesem Trugbilde nachgejagt zu sein. Ihm schließlich den Rücken zu kehren, bewog mich nicht allein die geringe Ausdehnung der Bewegung, bei der an einen Einfluß auf die Geschicke des deutschen Volkes gar uicht zu denken ist, sondern auch ein andrer, viel wich¬ tigerer und viel tieferer Grund. Nachdem der betäubende und berauschende patriotische Lärm der siebziger Jahre verklungen war, besann ich mich wieder dar¬ auf, daß ja die Idee der Nationalkirchen durch und durch unchristlich, unbiblisch sei. Das gehört ja eben zum Wesen der christlichen Idee, daß die Scheidewand zwischen den Völkern, sofern sie Christen sind, aufgehoben sein soll, und daß es in Christo weder Juden noch Griechen giebt, sondern daß sie alle eins sind in ihm. Nationalkirchen wie die spanische, die russische, die abessynische können nnter Umständen recht nützlich sein und sind, wo sie bestehen, ohne Zweifel unvermeidliche geschichtliche Produkte gewesen, aber im Namen Christi darf sie der denkende Geist nicht fordern. Auch wenn man das Neue Testament nicht mehr im orthodoxen Sinne für eine göttliche Offenbarung hält, ist es doch etwas so erhabnes, daß die Ehrfurcht vor ihm abhalten sollte, in seinem Namen eine Forderung zu erheben, die offenbar schnurstracks wider seinen Geist und sogar wider seinen Buchstaben geht. So bin ich denn bei der Auffassung der Altkatholikengemeinschaft als einer Nothüttc stehen geblieben, benutze das Obdach, das sie mir gewährt, noch heute, und gedenke es nicht zu verlassen. Ich schätze das Christentum zu hoch, als daß ich ihn: durch förmliche Trennung vom Leibe der Christenheit Verachtung bezeugen sollte, und da ich mit meinen Überzeugungen in der römisch-katho¬ lischen Kirche nicht geduldet werden könnte, unter den evangelischen Kirchen aber keine finde, zu der ich mich hingezogen fühlte, fo liegt für einen noch¬ maligen Konfessionswechsel kein Grund vor. selbständig denkende Männer haben, wenn sie nicht frivol sind, in den Kirchen wie den Kirchen gegenüber immer einen schweren Stand. Man kann selbständig zu denken gewöhnt sein, ohne ein großer Gelehrter oder ein epochemachender Philosoph zu sein, daher braucht es nicht als Anmaßung ausgelegt zu werden, wenn ich mich auf Leibniz berufe. Ihn hatte der Landgraf Ernst von Hessen-Nheinfels (ihr Brief-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/630
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/630>, abgerufen am 01.09.2024.