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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Die sozialen Zustände der Türkei und der Islam

der gelehrte Verfasser des Artikels der Rundschau scheint davon entzückt zu
sein, er sieht "in dem rituellen Drill der Massen einen hervorragenden Kultur¬
hebel und bewundert auch bei dieser anscheinend geringfügigen Veranlassung
den weitausblickenden Geist des Religionsstifters."

" Es wäre aber durchaus verkehrt, den Islam darnach zu beurteilen. Wenn
diese Religion nur daraus bestünde, wovon Kassen spricht, so hätte jener andre
deutsche Reisende Recht, der den Franzosen einst den Rat gab, den Islam mit
Stumpf und Stiel auszurotten. wenn sie in Algier Ruhe bekommen wollten.
Wer den Orient genauer kennt, wird nicht bei der Bewunderung des Rituals
stehen bleiben, sondern anerkennen, daß der reine Monotheismus des Islam
die schönsten Früchte wahrer Frömmigkeit' und Gottergebenheit -- das letztere
bedeutet jn Islam -- gezeitigt hat und noch zeitigt. In dieser Richtung der
Berinnerlichung, ich möchte sagen Entrationalisirung, liegt die einzig mögliche
Zukunft für diese "einfache" Religion, nicht auf dem Wege seichter Aufklärung.
Die halte ich geradezu für ein Unglück. Durch einen solchen Ausbau würde
auch der im Islam doch mehr oder weniger stark betonte Fatalismus beseitigt
werden, ferner auch dem Hochmut entgegengearbeitet werden, der heute -- man
mag sagen, was man will -- das Kennzeichen des Muslimen ist; wer die
oben genannten Pflichten erfüllt, steht ja nach der landläufigen Ansicht weit
über jedem Andersgläubigen. , - /

Von der Notwendigkeit einer derartigen Entwicklung findet sich bei Kassen
keine Andeutung, er ist durchaus ein Kind des vorigen Jahrhunderts: er er¬
wartet alles Heil von der Schulbildung und dem Ausbau des Wissens. Andrer¬
seits ist er wieder gläubiger Muslim und zweifelt nicht daran, es mit seinen
Volksgenossen bleiben zu können. Glücklicherweise hat er keinen Schimmer von
Verständnis für religiöse Aufgaben, für Kultur- und Religionsgeschichte. Der
Koran ist für ihn das abschließende letzte Wort Gottes; daß die Frage, wie
es mit dem Jnspirationsbegriff eigentlich steht, einmal im Verlaufe der Zeit
von der Wissenschaft aufgeworfen werden könnte, kommt ihm nicht in den
Sinn. Er hängt noch an demselben sinnlichen Jnspirationsbegriff, den Mu¬
hammed selbst zur Grundlage seiner Religion machte. Diese Jnspirations-
lehre, die jede Ausscheidung des zeitlich Bedingten im Koran verhindert, ist
ein schwerer Hemmschuh sür die Entwicklung einer unabhängigen Wissenschaft
gewesen; man denke nur an eine ernsthaftere Geschichtsforschung. Es ist schwer,
zu denken, daß der Islam, sobald an dem Glauben seiner unbedingten Auto¬
rität gerüttelt wird, noch Bestand haben kann; denn wenn die Anhänger Muham¬
meds erst sollten einsehen lernen, wie sehr ihr Prophet im Grunde von ir¬
dischen Gewährsmännern abhängig war und wie schwer bei ihm die Grenze
zu ziehen ist zwischen Selbstbetrug und wissentlicher Täuschung andrer Leute,
sällt der Islam dahin. Das Schlimmste ist, daß Muhammed aus Politik viel¬
fach sogar dem arabischen Heidentum Zugeständnisse machte, um die Bekehrung


Die sozialen Zustände der Türkei und der Islam

der gelehrte Verfasser des Artikels der Rundschau scheint davon entzückt zu
sein, er sieht „in dem rituellen Drill der Massen einen hervorragenden Kultur¬
hebel und bewundert auch bei dieser anscheinend geringfügigen Veranlassung
den weitausblickenden Geist des Religionsstifters."

" Es wäre aber durchaus verkehrt, den Islam darnach zu beurteilen. Wenn
diese Religion nur daraus bestünde, wovon Kassen spricht, so hätte jener andre
deutsche Reisende Recht, der den Franzosen einst den Rat gab, den Islam mit
Stumpf und Stiel auszurotten. wenn sie in Algier Ruhe bekommen wollten.
Wer den Orient genauer kennt, wird nicht bei der Bewunderung des Rituals
stehen bleiben, sondern anerkennen, daß der reine Monotheismus des Islam
die schönsten Früchte wahrer Frömmigkeit' und Gottergebenheit — das letztere
bedeutet jn Islam — gezeitigt hat und noch zeitigt. In dieser Richtung der
Berinnerlichung, ich möchte sagen Entrationalisirung, liegt die einzig mögliche
Zukunft für diese „einfache" Religion, nicht auf dem Wege seichter Aufklärung.
Die halte ich geradezu für ein Unglück. Durch einen solchen Ausbau würde
auch der im Islam doch mehr oder weniger stark betonte Fatalismus beseitigt
werden, ferner auch dem Hochmut entgegengearbeitet werden, der heute — man
mag sagen, was man will — das Kennzeichen des Muslimen ist; wer die
oben genannten Pflichten erfüllt, steht ja nach der landläufigen Ansicht weit
über jedem Andersgläubigen. , - /

Von der Notwendigkeit einer derartigen Entwicklung findet sich bei Kassen
keine Andeutung, er ist durchaus ein Kind des vorigen Jahrhunderts: er er¬
wartet alles Heil von der Schulbildung und dem Ausbau des Wissens. Andrer¬
seits ist er wieder gläubiger Muslim und zweifelt nicht daran, es mit seinen
Volksgenossen bleiben zu können. Glücklicherweise hat er keinen Schimmer von
Verständnis für religiöse Aufgaben, für Kultur- und Religionsgeschichte. Der
Koran ist für ihn das abschließende letzte Wort Gottes; daß die Frage, wie
es mit dem Jnspirationsbegriff eigentlich steht, einmal im Verlaufe der Zeit
von der Wissenschaft aufgeworfen werden könnte, kommt ihm nicht in den
Sinn. Er hängt noch an demselben sinnlichen Jnspirationsbegriff, den Mu¬
hammed selbst zur Grundlage seiner Religion machte. Diese Jnspirations-
lehre, die jede Ausscheidung des zeitlich Bedingten im Koran verhindert, ist
ein schwerer Hemmschuh sür die Entwicklung einer unabhängigen Wissenschaft
gewesen; man denke nur an eine ernsthaftere Geschichtsforschung. Es ist schwer,
zu denken, daß der Islam, sobald an dem Glauben seiner unbedingten Auto¬
rität gerüttelt wird, noch Bestand haben kann; denn wenn die Anhänger Muham¬
meds erst sollten einsehen lernen, wie sehr ihr Prophet im Grunde von ir¬
dischen Gewährsmännern abhängig war und wie schwer bei ihm die Grenze
zu ziehen ist zwischen Selbstbetrug und wissentlicher Täuschung andrer Leute,
sällt der Islam dahin. Das Schlimmste ist, daß Muhammed aus Politik viel¬
fach sogar dem arabischen Heidentum Zugeständnisse machte, um die Bekehrung


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[0611] Die sozialen Zustände der Türkei und der Islam der gelehrte Verfasser des Artikels der Rundschau scheint davon entzückt zu sein, er sieht „in dem rituellen Drill der Massen einen hervorragenden Kultur¬ hebel und bewundert auch bei dieser anscheinend geringfügigen Veranlassung den weitausblickenden Geist des Religionsstifters." " Es wäre aber durchaus verkehrt, den Islam darnach zu beurteilen. Wenn diese Religion nur daraus bestünde, wovon Kassen spricht, so hätte jener andre deutsche Reisende Recht, der den Franzosen einst den Rat gab, den Islam mit Stumpf und Stiel auszurotten. wenn sie in Algier Ruhe bekommen wollten. Wer den Orient genauer kennt, wird nicht bei der Bewunderung des Rituals stehen bleiben, sondern anerkennen, daß der reine Monotheismus des Islam die schönsten Früchte wahrer Frömmigkeit' und Gottergebenheit — das letztere bedeutet jn Islam — gezeitigt hat und noch zeitigt. In dieser Richtung der Berinnerlichung, ich möchte sagen Entrationalisirung, liegt die einzig mögliche Zukunft für diese „einfache" Religion, nicht auf dem Wege seichter Aufklärung. Die halte ich geradezu für ein Unglück. Durch einen solchen Ausbau würde auch der im Islam doch mehr oder weniger stark betonte Fatalismus beseitigt werden, ferner auch dem Hochmut entgegengearbeitet werden, der heute — man mag sagen, was man will — das Kennzeichen des Muslimen ist; wer die oben genannten Pflichten erfüllt, steht ja nach der landläufigen Ansicht weit über jedem Andersgläubigen. , - / Von der Notwendigkeit einer derartigen Entwicklung findet sich bei Kassen keine Andeutung, er ist durchaus ein Kind des vorigen Jahrhunderts: er er¬ wartet alles Heil von der Schulbildung und dem Ausbau des Wissens. Andrer¬ seits ist er wieder gläubiger Muslim und zweifelt nicht daran, es mit seinen Volksgenossen bleiben zu können. Glücklicherweise hat er keinen Schimmer von Verständnis für religiöse Aufgaben, für Kultur- und Religionsgeschichte. Der Koran ist für ihn das abschließende letzte Wort Gottes; daß die Frage, wie es mit dem Jnspirationsbegriff eigentlich steht, einmal im Verlaufe der Zeit von der Wissenschaft aufgeworfen werden könnte, kommt ihm nicht in den Sinn. Er hängt noch an demselben sinnlichen Jnspirationsbegriff, den Mu¬ hammed selbst zur Grundlage seiner Religion machte. Diese Jnspirations- lehre, die jede Ausscheidung des zeitlich Bedingten im Koran verhindert, ist ein schwerer Hemmschuh sür die Entwicklung einer unabhängigen Wissenschaft gewesen; man denke nur an eine ernsthaftere Geschichtsforschung. Es ist schwer, zu denken, daß der Islam, sobald an dem Glauben seiner unbedingten Auto¬ rität gerüttelt wird, noch Bestand haben kann; denn wenn die Anhänger Muham¬ meds erst sollten einsehen lernen, wie sehr ihr Prophet im Grunde von ir¬ dischen Gewährsmännern abhängig war und wie schwer bei ihm die Grenze zu ziehen ist zwischen Selbstbetrug und wissentlicher Täuschung andrer Leute, sällt der Islam dahin. Das Schlimmste ist, daß Muhammed aus Politik viel¬ fach sogar dem arabischen Heidentum Zugeständnisse machte, um die Bekehrung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/611>, abgerufen am 01.09.2024.