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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Die sozialen Zustände der Türkei und der Islam

matie durchbrechen, ist es doch angebracht, dem Gefühl Ausdruck zu geben,
daß hinter der offiziellen Nichteinmischung, koste es, was es wolle, doch noch
Leute vorhanden sind, die nicht bloß für alle möglichen guten Zwecke, für die
man heutiges Tages in Anspruch genommen wird, den Tierschutz einbegriffen,
einigen Sinn und einiges Gefühl bewahrt haben, sondern die derartige Greuel
vom allgemein menschlichen und sittlichen Standpunkt zu betrachten geneigt
sind, trotz dem Verdikt der Tagespresse.

Bei einer Erörterung der religiösen Fragen ist es nötig, etwas weiter
auszuholen. Es kann nämlich geradezu die Frage aufgeworfen werden, ob
der Islam mit den Grundgesetzen eines modernen Staates -- dazu will man
ja die Türken bringen oder giebt sie schon dafür aus -- überhaupt vereinbar
sei; wenn das nicht der Fall ist, so entsteht die weitere Frage, ob der Islam
fähig ist, eine Weiterbildung über sich ergehen zu lassen. Zunächst gilt es, die
Lage zu beleuchten, in der sich der Islam gegenwärtig befindet. Da ist zu
betonen, daß das Mißgeschick aller Art, die Zerbröcklung des türkischen
Staates, der Umstand, daß der Orient gegenüber Europa und Amerika wirt¬
schaftlich in der Entwicklung zurückbleibt, bei den Muslimen größtenteils nicht
etwa den Gedanken wachgerufen hat, es möchte bei ihnen das und jenes faul
sein, sondern häufig nur ihre Verblendung vermehrt hat: diese Giauren ver¬
stehen alles, sie sind uns in der That auf dieser Welt überlegen, dafür aber
werden sie einmal alle in der Hölle braten, wahrend es uns im Paradiese
wohl ergehen wird. Die Muslimen fühlen sich den Christen gegenüber heute
wieder mehr und mehr als Einheit; die Kraft des Panslawismus und die Pro¬
paganda, die der Islam entwickelt, hat erst vor einigen Jahren ein ausgezeich¬
neter Arabist, der Holländer Snouck-Hurgronje, der sich ein Jahr in Mekka
aufgehalten hat, anschaulich geschildert (Mekka. II. Aus dem heutigen Leben.
Haag, 1389). Es ist kein Geheimnis, wie unaufhaltsam der Islam in Afrika
Boden gewinnt, überall sucht er sich nicht nur zu behaupten, sondern vor¬
zudringen, auch in Indien steht er in hohem Ansehen. Wo er einmal Fuß
gefaßt hat, ist er bekanntlich nicht auszurotten: die christliche Mission ist ihm
gegenüber völlig machtlos. Das rührt hauptsächlich daher, daß der Muslim
gelehrt wird, das Christentum -- zunächst handelte es sich allerdings nur um
die christliche Religion des siebenten Jahrhunderts -- als Idolatrie, im Gegen¬
satz zum Monotheismus befindlich, kurz als eine Vorstufe zu seiner Religion
zu betrachten. Die orientalischen Kirchen aber, mit denen der Muslim des
vordern Orients in Berührung kommt, sind wenigstens teilweise oder bis vor
kurzem auf dein Standpunkte jener Zeit stehen geblieben. Eine Vergeistigung
der Religion, wie sie das Christentum in Enropa besonders durch die Re¬
formation erfahren hat, kaun der Muslim schon deswegen nicht annehmen,
weil er unsre Religion bloß von der dogmatischen, nicht von der ethischen
Seite zu betrachten gelehrt wird.


Die sozialen Zustände der Türkei und der Islam

matie durchbrechen, ist es doch angebracht, dem Gefühl Ausdruck zu geben,
daß hinter der offiziellen Nichteinmischung, koste es, was es wolle, doch noch
Leute vorhanden sind, die nicht bloß für alle möglichen guten Zwecke, für die
man heutiges Tages in Anspruch genommen wird, den Tierschutz einbegriffen,
einigen Sinn und einiges Gefühl bewahrt haben, sondern die derartige Greuel
vom allgemein menschlichen und sittlichen Standpunkt zu betrachten geneigt
sind, trotz dem Verdikt der Tagespresse.

Bei einer Erörterung der religiösen Fragen ist es nötig, etwas weiter
auszuholen. Es kann nämlich geradezu die Frage aufgeworfen werden, ob
der Islam mit den Grundgesetzen eines modernen Staates — dazu will man
ja die Türken bringen oder giebt sie schon dafür aus — überhaupt vereinbar
sei; wenn das nicht der Fall ist, so entsteht die weitere Frage, ob der Islam
fähig ist, eine Weiterbildung über sich ergehen zu lassen. Zunächst gilt es, die
Lage zu beleuchten, in der sich der Islam gegenwärtig befindet. Da ist zu
betonen, daß das Mißgeschick aller Art, die Zerbröcklung des türkischen
Staates, der Umstand, daß der Orient gegenüber Europa und Amerika wirt¬
schaftlich in der Entwicklung zurückbleibt, bei den Muslimen größtenteils nicht
etwa den Gedanken wachgerufen hat, es möchte bei ihnen das und jenes faul
sein, sondern häufig nur ihre Verblendung vermehrt hat: diese Giauren ver¬
stehen alles, sie sind uns in der That auf dieser Welt überlegen, dafür aber
werden sie einmal alle in der Hölle braten, wahrend es uns im Paradiese
wohl ergehen wird. Die Muslimen fühlen sich den Christen gegenüber heute
wieder mehr und mehr als Einheit; die Kraft des Panslawismus und die Pro¬
paganda, die der Islam entwickelt, hat erst vor einigen Jahren ein ausgezeich¬
neter Arabist, der Holländer Snouck-Hurgronje, der sich ein Jahr in Mekka
aufgehalten hat, anschaulich geschildert (Mekka. II. Aus dem heutigen Leben.
Haag, 1389). Es ist kein Geheimnis, wie unaufhaltsam der Islam in Afrika
Boden gewinnt, überall sucht er sich nicht nur zu behaupten, sondern vor¬
zudringen, auch in Indien steht er in hohem Ansehen. Wo er einmal Fuß
gefaßt hat, ist er bekanntlich nicht auszurotten: die christliche Mission ist ihm
gegenüber völlig machtlos. Das rührt hauptsächlich daher, daß der Muslim
gelehrt wird, das Christentum — zunächst handelte es sich allerdings nur um
die christliche Religion des siebenten Jahrhunderts — als Idolatrie, im Gegen¬
satz zum Monotheismus befindlich, kurz als eine Vorstufe zu seiner Religion
zu betrachten. Die orientalischen Kirchen aber, mit denen der Muslim des
vordern Orients in Berührung kommt, sind wenigstens teilweise oder bis vor
kurzem auf dein Standpunkte jener Zeit stehen geblieben. Eine Vergeistigung
der Religion, wie sie das Christentum in Enropa besonders durch die Re¬
formation erfahren hat, kaun der Muslim schon deswegen nicht annehmen,
weil er unsre Religion bloß von der dogmatischen, nicht von der ethischen
Seite zu betrachten gelehrt wird.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/606>, abgerufen am 26.11.2024.