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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Die soziale" Zustände der Türkei mit der Islam

Christen sei, überwiegt immer noch und vereitelt die Konskription der Nicht-
muslimen; die Christen müssen "Militärpflichtersatzsteuer" bezahlen. Daß
übrigens gerade in militärischer Beziehung dank den zahlreichen europäischen
Jnstruktvren und Generalen in der Türkei große Fortschritte gemacht worden
sind, ist durchaus nicht in Abrede zu stellen; im allgemeinen ist Haltung wie
Gesittung der türkischen Truppen bedeutend gebessert; einzelne Rückfälle in
Barbarei kommen freilich, wie die neusten Ereignisse zeigten, noch immer vor.

Bekanntlich sind die türkischen Diplomaten, was geschicktes Ausweichen,
Verschleppung unbequemer Fragen und Verhüllen der Thatsachen betrifft, den
europäischen vielfach nicht bloß ebenbürtig, sondern sogar überlegen. Nach den
Berichten unabhängiger Augenzeugen sowohl als aus innern Gründen können
wir dem von den Türken vielfach aufgesprengten Gerücht, die Armenier hätten
bei den jüngsten Ereignissen mit dem Angriff auf die Kurden und Türken be¬
gonnen, nicht recht Glauben schenken. Daß Kurden mit vollem Wissen der
Türken schon mehr als einmal im tiefsten Frieden ohne Veranlassung ans die
Christen losgelassen worden sind, mag hier nur wieder ins Gedächtnis zurück¬
gerufen werden; man denke an die Greuelthaten Betr Chans im Jahre 1843
(vergl. unter anderm G. P. Badger, Ills ^LstoriMs g.na tlnzir Rituals. Bd. I.
London, 1852, S. 268 ff.). Es ist geradezu undenkbar, daß die Armenier,
wie nach Zeitungsberichten in dem Briefe des Sultans an die Kaiserin Viktoria
gestanden hat, die Greuelszeneu dadurch hervorgerufen hätten, daß sie im
Gebete begriffne Muhammedaner durchgeprügelt hätten. Im ganzen sind die
Armenier ein durchaus friedliches Volk, und wenn auch in gewissen Gegenden
die Wildheit ihrer kurdischen Nachbarn auf sie übergegangen sein mag, so hüten
sie sich wohl mit diesem als besonders grausam bekannten Gesindel anzubinden.
Die Thätigkeit des armenischen Komitees, von dem soviel die Rede war, mag
noch so verderblich gewesen sein, was Aufreizung und Beschaffung von Waffen
betrifft, die Versprechungen der Engländer, die Ansprüche der Armenier unter¬
stützen zu wollen -- aus Gründen höherer Politik --, mögen Thatsache sein;
dennoch wird es mir, wie ich die ans asiatischem Boden angesessenen Armenier
kenne, schwer, daran zu glauben, daß sich diese hätten verführen lassen, den
Streit zu beginnen und tapfer in ihr offenbares Verderben zu rennen. Ich
glaube gezeigt zu haben, daß genügender Zündstoff in den innern sozialen
Verhältnissen der Türkei liegt, um derartige Ausbrüche begreiflich erscheinen
zu lassen, und zwar vor allem von muslimischer Seite. Den Anspruch der
Armenier, vor dem rohen kurdischen Raubgesindel geschützt zu sein und ihm
mit Waffen entgegentreten zu können, finde ich ebenso begreiflich, als daß sie,
wenn sie angegriffen werden, sich zu wehren suchen. Sollen wir wirklich gegen¬
über barbarischen schuldlosen Abschlachtungen ganz gleichgiltig bleiben? Das
geht doch noch weit über die Maßreglungen der Protestanten in Rußland
hinaus! Und wenn auch diese Sympathien die Gewebe der europäischen Diplo-


Die soziale» Zustände der Türkei mit der Islam

Christen sei, überwiegt immer noch und vereitelt die Konskription der Nicht-
muslimen; die Christen müssen „Militärpflichtersatzsteuer" bezahlen. Daß
übrigens gerade in militärischer Beziehung dank den zahlreichen europäischen
Jnstruktvren und Generalen in der Türkei große Fortschritte gemacht worden
sind, ist durchaus nicht in Abrede zu stellen; im allgemeinen ist Haltung wie
Gesittung der türkischen Truppen bedeutend gebessert; einzelne Rückfälle in
Barbarei kommen freilich, wie die neusten Ereignisse zeigten, noch immer vor.

Bekanntlich sind die türkischen Diplomaten, was geschicktes Ausweichen,
Verschleppung unbequemer Fragen und Verhüllen der Thatsachen betrifft, den
europäischen vielfach nicht bloß ebenbürtig, sondern sogar überlegen. Nach den
Berichten unabhängiger Augenzeugen sowohl als aus innern Gründen können
wir dem von den Türken vielfach aufgesprengten Gerücht, die Armenier hätten
bei den jüngsten Ereignissen mit dem Angriff auf die Kurden und Türken be¬
gonnen, nicht recht Glauben schenken. Daß Kurden mit vollem Wissen der
Türken schon mehr als einmal im tiefsten Frieden ohne Veranlassung ans die
Christen losgelassen worden sind, mag hier nur wieder ins Gedächtnis zurück¬
gerufen werden; man denke an die Greuelthaten Betr Chans im Jahre 1843
(vergl. unter anderm G. P. Badger, Ills ^LstoriMs g.na tlnzir Rituals. Bd. I.
London, 1852, S. 268 ff.). Es ist geradezu undenkbar, daß die Armenier,
wie nach Zeitungsberichten in dem Briefe des Sultans an die Kaiserin Viktoria
gestanden hat, die Greuelszeneu dadurch hervorgerufen hätten, daß sie im
Gebete begriffne Muhammedaner durchgeprügelt hätten. Im ganzen sind die
Armenier ein durchaus friedliches Volk, und wenn auch in gewissen Gegenden
die Wildheit ihrer kurdischen Nachbarn auf sie übergegangen sein mag, so hüten
sie sich wohl mit diesem als besonders grausam bekannten Gesindel anzubinden.
Die Thätigkeit des armenischen Komitees, von dem soviel die Rede war, mag
noch so verderblich gewesen sein, was Aufreizung und Beschaffung von Waffen
betrifft, die Versprechungen der Engländer, die Ansprüche der Armenier unter¬
stützen zu wollen — aus Gründen höherer Politik —, mögen Thatsache sein;
dennoch wird es mir, wie ich die ans asiatischem Boden angesessenen Armenier
kenne, schwer, daran zu glauben, daß sich diese hätten verführen lassen, den
Streit zu beginnen und tapfer in ihr offenbares Verderben zu rennen. Ich
glaube gezeigt zu haben, daß genügender Zündstoff in den innern sozialen
Verhältnissen der Türkei liegt, um derartige Ausbrüche begreiflich erscheinen
zu lassen, und zwar vor allem von muslimischer Seite. Den Anspruch der
Armenier, vor dem rohen kurdischen Raubgesindel geschützt zu sein und ihm
mit Waffen entgegentreten zu können, finde ich ebenso begreiflich, als daß sie,
wenn sie angegriffen werden, sich zu wehren suchen. Sollen wir wirklich gegen¬
über barbarischen schuldlosen Abschlachtungen ganz gleichgiltig bleiben? Das
geht doch noch weit über die Maßreglungen der Protestanten in Rußland
hinaus! Und wenn auch diese Sympathien die Gewebe der europäischen Diplo-


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[0605] Die soziale» Zustände der Türkei mit der Islam Christen sei, überwiegt immer noch und vereitelt die Konskription der Nicht- muslimen; die Christen müssen „Militärpflichtersatzsteuer" bezahlen. Daß übrigens gerade in militärischer Beziehung dank den zahlreichen europäischen Jnstruktvren und Generalen in der Türkei große Fortschritte gemacht worden sind, ist durchaus nicht in Abrede zu stellen; im allgemeinen ist Haltung wie Gesittung der türkischen Truppen bedeutend gebessert; einzelne Rückfälle in Barbarei kommen freilich, wie die neusten Ereignisse zeigten, noch immer vor. Bekanntlich sind die türkischen Diplomaten, was geschicktes Ausweichen, Verschleppung unbequemer Fragen und Verhüllen der Thatsachen betrifft, den europäischen vielfach nicht bloß ebenbürtig, sondern sogar überlegen. Nach den Berichten unabhängiger Augenzeugen sowohl als aus innern Gründen können wir dem von den Türken vielfach aufgesprengten Gerücht, die Armenier hätten bei den jüngsten Ereignissen mit dem Angriff auf die Kurden und Türken be¬ gonnen, nicht recht Glauben schenken. Daß Kurden mit vollem Wissen der Türken schon mehr als einmal im tiefsten Frieden ohne Veranlassung ans die Christen losgelassen worden sind, mag hier nur wieder ins Gedächtnis zurück¬ gerufen werden; man denke an die Greuelthaten Betr Chans im Jahre 1843 (vergl. unter anderm G. P. Badger, Ills ^LstoriMs g.na tlnzir Rituals. Bd. I. London, 1852, S. 268 ff.). Es ist geradezu undenkbar, daß die Armenier, wie nach Zeitungsberichten in dem Briefe des Sultans an die Kaiserin Viktoria gestanden hat, die Greuelszeneu dadurch hervorgerufen hätten, daß sie im Gebete begriffne Muhammedaner durchgeprügelt hätten. Im ganzen sind die Armenier ein durchaus friedliches Volk, und wenn auch in gewissen Gegenden die Wildheit ihrer kurdischen Nachbarn auf sie übergegangen sein mag, so hüten sie sich wohl mit diesem als besonders grausam bekannten Gesindel anzubinden. Die Thätigkeit des armenischen Komitees, von dem soviel die Rede war, mag noch so verderblich gewesen sein, was Aufreizung und Beschaffung von Waffen betrifft, die Versprechungen der Engländer, die Ansprüche der Armenier unter¬ stützen zu wollen — aus Gründen höherer Politik —, mögen Thatsache sein; dennoch wird es mir, wie ich die ans asiatischem Boden angesessenen Armenier kenne, schwer, daran zu glauben, daß sich diese hätten verführen lassen, den Streit zu beginnen und tapfer in ihr offenbares Verderben zu rennen. Ich glaube gezeigt zu haben, daß genügender Zündstoff in den innern sozialen Verhältnissen der Türkei liegt, um derartige Ausbrüche begreiflich erscheinen zu lassen, und zwar vor allem von muslimischer Seite. Den Anspruch der Armenier, vor dem rohen kurdischen Raubgesindel geschützt zu sein und ihm mit Waffen entgegentreten zu können, finde ich ebenso begreiflich, als daß sie, wenn sie angegriffen werden, sich zu wehren suchen. Sollen wir wirklich gegen¬ über barbarischen schuldlosen Abschlachtungen ganz gleichgiltig bleiben? Das geht doch noch weit über die Maßreglungen der Protestanten in Rußland hinaus! Und wenn auch diese Sympathien die Gewebe der europäischen Diplo-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/605>, abgerufen am 26.11.2024.