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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Die sozialen Zustände der Türkei und der Islam

lich; denn der Sultan, als Nachfolger der Khalifen, konnte mit den herge¬
brachten Staatsgrundsätzen und -gesetzen, die ja auf religiöser Grundlage
beruhen, nicht mit einemmale brechen, und zur Durchführung der Reformen
fehlten die dazu erforderlichen Beamten, teilweise auch freilich der gute Wille.

Es wäre jedoch unbillig, wenn wir nicht auch die Fortschritte, die gemacht
worden sind, anerkennen wollten. Vor allem hat die Türkei darnach gestrebt,
ihre Macht auch in den entlegnen Teilen des Reichs zu befestigen, teilweise
sich auch neue Gebiete thatsächlich zu unterwerfen. So haben die Türken
z. B. in Arabien, besonders auch im Süden, festen Fuß gefaßt. Vielfach wurde
der türkische Einfluß in den asiatischen Provinzen auf Landstriche ausgedehnt,
die bisher beinahe ganz unabhängig gewesen waren. Auch die Verwaltung
und die Justiz wurden verbessert. Natürlich bekamen diese Zentralisations-
bestrcbungen auch die nichtmuslimischen Unterthanen zu spüren, deren Kirchen¬
vorstände bisher oft auch weltliche Befugnisse und Rechte, ja sogar die Recht¬
sprechung gehabt hatten. Wie überall, wo eine Zentralisation durchgeführt
wird, wurden auch hier Sonderinteressen geschädigt; freilich konnte die Frage
aufgeworfen werden, ob mit den Neuerungen auch immer wirkliche Besserungen
verknüpft waren.

Die Völker, die die Unterthanen des Sultans bilden, sind in Bezug
auf Charakter, Anschauungen und Sitten zu verschieden, als daß es gelingen
könnte, sie in kürzester Frist unter einen Hut zu bringen. Vor allem sind
unter ihnen drei gänzlich verschiedne Völkerstämme vertreten; erstens die
Türken, zweitens Indogermanen: Griechen, Kurden, Armenier, drittens Se¬
miten, d. h. Araber und Armnüer, letztere die Reste der vorislamischen Be¬
völkerung Syriens und der Tigris- und Euphratländcr. Die Türke" und die
Kurden sind sämtlich Muhammedaner, ebenso größtenteils die Araber; die
Griechen und die Armenier und Aramäer dagegen Christen. Eine auch nur
einigermaßen zuverlässige Statistik der Völkerstämme und Religionsgemein¬
schaften des türkischen Reichs giebt es freilich nicht. Im 42. Bande von Peter¬
manns Mitteilungen (1896, I) ist der Versuch einer Statistik der armenischen
Bevölkerung auf Grund der besten Angaben gemacht; darnach würden in den
Provinzen, in denen die Armenier am zahlreichsten sind, 726750 Armenier
neben 3619625 Mnslimen und 283000 andern Christen wohnen; nach der An¬
sicht des Verfassers jenes Aufsatzes würde etwa ein Aufschlag von 25 Prozent
dazu kommen. Auch ist dort der Nachweis versucht, daß selbst in den wich¬
tigsten von Armeniern besetzten Bezirken diese bloß ein Viertel der Bevölkerung
ausmachen.

Es steht außer Frage, daß, abgesehen vielleicht von gewissen geistig sehr
verwilderten und verwahrlosten christlichen Sekten, z. B. den Jakobiten, die
Christen in Bezug auf Kultur vielfach den Muslimen überlegen sind. Be¬
sonders in den Ländern und Städten, in denen schon seit längerer Zeit euro-


Die sozialen Zustände der Türkei und der Islam

lich; denn der Sultan, als Nachfolger der Khalifen, konnte mit den herge¬
brachten Staatsgrundsätzen und -gesetzen, die ja auf religiöser Grundlage
beruhen, nicht mit einemmale brechen, und zur Durchführung der Reformen
fehlten die dazu erforderlichen Beamten, teilweise auch freilich der gute Wille.

Es wäre jedoch unbillig, wenn wir nicht auch die Fortschritte, die gemacht
worden sind, anerkennen wollten. Vor allem hat die Türkei darnach gestrebt,
ihre Macht auch in den entlegnen Teilen des Reichs zu befestigen, teilweise
sich auch neue Gebiete thatsächlich zu unterwerfen. So haben die Türken
z. B. in Arabien, besonders auch im Süden, festen Fuß gefaßt. Vielfach wurde
der türkische Einfluß in den asiatischen Provinzen auf Landstriche ausgedehnt,
die bisher beinahe ganz unabhängig gewesen waren. Auch die Verwaltung
und die Justiz wurden verbessert. Natürlich bekamen diese Zentralisations-
bestrcbungen auch die nichtmuslimischen Unterthanen zu spüren, deren Kirchen¬
vorstände bisher oft auch weltliche Befugnisse und Rechte, ja sogar die Recht¬
sprechung gehabt hatten. Wie überall, wo eine Zentralisation durchgeführt
wird, wurden auch hier Sonderinteressen geschädigt; freilich konnte die Frage
aufgeworfen werden, ob mit den Neuerungen auch immer wirkliche Besserungen
verknüpft waren.

Die Völker, die die Unterthanen des Sultans bilden, sind in Bezug
auf Charakter, Anschauungen und Sitten zu verschieden, als daß es gelingen
könnte, sie in kürzester Frist unter einen Hut zu bringen. Vor allem sind
unter ihnen drei gänzlich verschiedne Völkerstämme vertreten; erstens die
Türken, zweitens Indogermanen: Griechen, Kurden, Armenier, drittens Se¬
miten, d. h. Araber und Armnüer, letztere die Reste der vorislamischen Be¬
völkerung Syriens und der Tigris- und Euphratländcr. Die Türke» und die
Kurden sind sämtlich Muhammedaner, ebenso größtenteils die Araber; die
Griechen und die Armenier und Aramäer dagegen Christen. Eine auch nur
einigermaßen zuverlässige Statistik der Völkerstämme und Religionsgemein¬
schaften des türkischen Reichs giebt es freilich nicht. Im 42. Bande von Peter¬
manns Mitteilungen (1896, I) ist der Versuch einer Statistik der armenischen
Bevölkerung auf Grund der besten Angaben gemacht; darnach würden in den
Provinzen, in denen die Armenier am zahlreichsten sind, 726750 Armenier
neben 3619625 Mnslimen und 283000 andern Christen wohnen; nach der An¬
sicht des Verfassers jenes Aufsatzes würde etwa ein Aufschlag von 25 Prozent
dazu kommen. Auch ist dort der Nachweis versucht, daß selbst in den wich¬
tigsten von Armeniern besetzten Bezirken diese bloß ein Viertel der Bevölkerung
ausmachen.

Es steht außer Frage, daß, abgesehen vielleicht von gewissen geistig sehr
verwilderten und verwahrlosten christlichen Sekten, z. B. den Jakobiten, die
Christen in Bezug auf Kultur vielfach den Muslimen überlegen sind. Be¬
sonders in den Ländern und Städten, in denen schon seit längerer Zeit euro-


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[0602] Die sozialen Zustände der Türkei und der Islam lich; denn der Sultan, als Nachfolger der Khalifen, konnte mit den herge¬ brachten Staatsgrundsätzen und -gesetzen, die ja auf religiöser Grundlage beruhen, nicht mit einemmale brechen, und zur Durchführung der Reformen fehlten die dazu erforderlichen Beamten, teilweise auch freilich der gute Wille. Es wäre jedoch unbillig, wenn wir nicht auch die Fortschritte, die gemacht worden sind, anerkennen wollten. Vor allem hat die Türkei darnach gestrebt, ihre Macht auch in den entlegnen Teilen des Reichs zu befestigen, teilweise sich auch neue Gebiete thatsächlich zu unterwerfen. So haben die Türken z. B. in Arabien, besonders auch im Süden, festen Fuß gefaßt. Vielfach wurde der türkische Einfluß in den asiatischen Provinzen auf Landstriche ausgedehnt, die bisher beinahe ganz unabhängig gewesen waren. Auch die Verwaltung und die Justiz wurden verbessert. Natürlich bekamen diese Zentralisations- bestrcbungen auch die nichtmuslimischen Unterthanen zu spüren, deren Kirchen¬ vorstände bisher oft auch weltliche Befugnisse und Rechte, ja sogar die Recht¬ sprechung gehabt hatten. Wie überall, wo eine Zentralisation durchgeführt wird, wurden auch hier Sonderinteressen geschädigt; freilich konnte die Frage aufgeworfen werden, ob mit den Neuerungen auch immer wirkliche Besserungen verknüpft waren. Die Völker, die die Unterthanen des Sultans bilden, sind in Bezug auf Charakter, Anschauungen und Sitten zu verschieden, als daß es gelingen könnte, sie in kürzester Frist unter einen Hut zu bringen. Vor allem sind unter ihnen drei gänzlich verschiedne Völkerstämme vertreten; erstens die Türken, zweitens Indogermanen: Griechen, Kurden, Armenier, drittens Se¬ miten, d. h. Araber und Armnüer, letztere die Reste der vorislamischen Be¬ völkerung Syriens und der Tigris- und Euphratländcr. Die Türke» und die Kurden sind sämtlich Muhammedaner, ebenso größtenteils die Araber; die Griechen und die Armenier und Aramäer dagegen Christen. Eine auch nur einigermaßen zuverlässige Statistik der Völkerstämme und Religionsgemein¬ schaften des türkischen Reichs giebt es freilich nicht. Im 42. Bande von Peter¬ manns Mitteilungen (1896, I) ist der Versuch einer Statistik der armenischen Bevölkerung auf Grund der besten Angaben gemacht; darnach würden in den Provinzen, in denen die Armenier am zahlreichsten sind, 726750 Armenier neben 3619625 Mnslimen und 283000 andern Christen wohnen; nach der An¬ sicht des Verfassers jenes Aufsatzes würde etwa ein Aufschlag von 25 Prozent dazu kommen. Auch ist dort der Nachweis versucht, daß selbst in den wich¬ tigsten von Armeniern besetzten Bezirken diese bloß ein Viertel der Bevölkerung ausmachen. Es steht außer Frage, daß, abgesehen vielleicht von gewissen geistig sehr verwilderten und verwahrlosten christlichen Sekten, z. B. den Jakobiten, die Christen in Bezug auf Kultur vielfach den Muslimen überlegen sind. Be¬ sonders in den Ländern und Städten, in denen schon seit längerer Zeit euro-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/602>, abgerufen am 26.11.2024.