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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Die sozialen Zustände der Türkei und der Islam
V A. öocin on

ngesichts der Thatsache, daß der Gegensatz zwischen Christen und
Muslimen neuerdings zu den bekannten Mordszenen geführt hat,
wird vielfach darüber gestritten, welche Partei an diesem Aus¬
bruch des Fanatismus die Hauptschuld trage. Derartige Er¬
eignisse müssen tiefer liegende Ursachen haben; da die politische
Frage dabei allzu stark betont wird, ist es angebracht, sie einmal zurücktreten
zu lassen und mehr den sozialen und religiösen Gegensatz einer Betrachtung
zu unterziehen. Ich räume zwar ein, daß eine richtige Politik der Türkei
gegenüber, namentlich was die Stellung der Mächte zu ihr betrifft, in unsrer
Zeit von hervorragender Bedeutung ist. Da gilt vor allem das Losungswort,
den Zusammenbruch der Türkei und eine etwaige Teilung um jeden Preis von
der Gegenwart abzuwälzen. Infolge des Grundsatzes, daß eine Einmischung in
die innern Angelegenheiten, dieses Reichs unter allen Umständen vermieden
werden müsse, versteigen sich die Diplomaten aber anch so weit, an die Lebens¬
fähigkeit der Türkei zu glauben, und die Tagespresse folgt ihnen blindlings,
da sie die einschlägigen Fragen nicht vom allgemein menschlichen und sittlichen
Standpunkt, sondern nur von dem der hohen Politik oder der Finanz zu be¬
trachten geneigt ist. Die Diplomaten aber begnügen sich damit, gelegentlich
einzeln -- wie schwer war es, in der Dardcmellcnfrage eine Einstimmigkeit zu
erzielen! -- einigen türkischen Staatsmännern gute Ratschlüge zu erteilen.
Auch die bedeutendern Schritte, die der Türkei gegenüber gethan worden sind,
indem man sie drängte, den berühmten Hatti Scherif von Gülchane 1839 und
nach dem Krimkriege den Haiti Humajun mit zahlreichen Verheißungen von
Reformen zu erlassen (man vergleiche darüber G. Rosen, Geschichte der Türkei,
Leipzig, 1867), haben nur teilweise Erfolg gehabt. Es ist das durchaus natür-


Grciizboten I 1896 76


Die sozialen Zustände der Türkei und der Islam
V A. öocin on

ngesichts der Thatsache, daß der Gegensatz zwischen Christen und
Muslimen neuerdings zu den bekannten Mordszenen geführt hat,
wird vielfach darüber gestritten, welche Partei an diesem Aus¬
bruch des Fanatismus die Hauptschuld trage. Derartige Er¬
eignisse müssen tiefer liegende Ursachen haben; da die politische
Frage dabei allzu stark betont wird, ist es angebracht, sie einmal zurücktreten
zu lassen und mehr den sozialen und religiösen Gegensatz einer Betrachtung
zu unterziehen. Ich räume zwar ein, daß eine richtige Politik der Türkei
gegenüber, namentlich was die Stellung der Mächte zu ihr betrifft, in unsrer
Zeit von hervorragender Bedeutung ist. Da gilt vor allem das Losungswort,
den Zusammenbruch der Türkei und eine etwaige Teilung um jeden Preis von
der Gegenwart abzuwälzen. Infolge des Grundsatzes, daß eine Einmischung in
die innern Angelegenheiten, dieses Reichs unter allen Umständen vermieden
werden müsse, versteigen sich die Diplomaten aber anch so weit, an die Lebens¬
fähigkeit der Türkei zu glauben, und die Tagespresse folgt ihnen blindlings,
da sie die einschlägigen Fragen nicht vom allgemein menschlichen und sittlichen
Standpunkt, sondern nur von dem der hohen Politik oder der Finanz zu be¬
trachten geneigt ist. Die Diplomaten aber begnügen sich damit, gelegentlich
einzeln — wie schwer war es, in der Dardcmellcnfrage eine Einstimmigkeit zu
erzielen! — einigen türkischen Staatsmännern gute Ratschlüge zu erteilen.
Auch die bedeutendern Schritte, die der Türkei gegenüber gethan worden sind,
indem man sie drängte, den berühmten Hatti Scherif von Gülchane 1839 und
nach dem Krimkriege den Haiti Humajun mit zahlreichen Verheißungen von
Reformen zu erlassen (man vergleiche darüber G. Rosen, Geschichte der Türkei,
Leipzig, 1867), haben nur teilweise Erfolg gehabt. Es ist das durchaus natür-


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[0601] [Abbildung] Die sozialen Zustände der Türkei und der Islam V A. öocin on ngesichts der Thatsache, daß der Gegensatz zwischen Christen und Muslimen neuerdings zu den bekannten Mordszenen geführt hat, wird vielfach darüber gestritten, welche Partei an diesem Aus¬ bruch des Fanatismus die Hauptschuld trage. Derartige Er¬ eignisse müssen tiefer liegende Ursachen haben; da die politische Frage dabei allzu stark betont wird, ist es angebracht, sie einmal zurücktreten zu lassen und mehr den sozialen und religiösen Gegensatz einer Betrachtung zu unterziehen. Ich räume zwar ein, daß eine richtige Politik der Türkei gegenüber, namentlich was die Stellung der Mächte zu ihr betrifft, in unsrer Zeit von hervorragender Bedeutung ist. Da gilt vor allem das Losungswort, den Zusammenbruch der Türkei und eine etwaige Teilung um jeden Preis von der Gegenwart abzuwälzen. Infolge des Grundsatzes, daß eine Einmischung in die innern Angelegenheiten, dieses Reichs unter allen Umständen vermieden werden müsse, versteigen sich die Diplomaten aber anch so weit, an die Lebens¬ fähigkeit der Türkei zu glauben, und die Tagespresse folgt ihnen blindlings, da sie die einschlägigen Fragen nicht vom allgemein menschlichen und sittlichen Standpunkt, sondern nur von dem der hohen Politik oder der Finanz zu be¬ trachten geneigt ist. Die Diplomaten aber begnügen sich damit, gelegentlich einzeln — wie schwer war es, in der Dardcmellcnfrage eine Einstimmigkeit zu erzielen! — einigen türkischen Staatsmännern gute Ratschlüge zu erteilen. Auch die bedeutendern Schritte, die der Türkei gegenüber gethan worden sind, indem man sie drängte, den berühmten Hatti Scherif von Gülchane 1839 und nach dem Krimkriege den Haiti Humajun mit zahlreichen Verheißungen von Reformen zu erlassen (man vergleiche darüber G. Rosen, Geschichte der Türkei, Leipzig, 1867), haben nur teilweise Erfolg gehabt. Es ist das durchaus natür- Grciizboten I 1896 76

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/601>, abgerufen am 27.11.2024.