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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Lin Uapitel von der Narrheit

einzelnen Erscheinungsformen gewissermaßen von außen betrachtet. Wie man aber,
um sich über ein merkwürdiges, verzwicktes Bauwerk zu unterrichte", nicht draußen
stehen bleibt, sondern schließlich hineingeht, die Gänge und Winkel durchforscht und
prüft, wie sich die Welt von innen gesehen aufnimmt, so empfiehlt es sich, um das
Wesen der Narrheit und ihre Bedeutung völlig zu ergründen, auch bei ihr den
Standpunkt von innen einzunehmen, d. h, darauf zu achten, wie sich der närrische
Mensch selbst zu der Narrheit und der Außenwelt verhält. Da wird man denn
gewahr, daß, wie das Sprichwort sagt, jedem Narren seine Kappe gefällt; er hält
sie keineswegs für ein unbequemes und auffallendes Kleidungsstück, sondern für ein
sehr praktisches und geschmackvolles, und schaut mit tiefem Ernst darunter hervor in
die Welt hinein, und gerade das ist es, was ihn eigentlich erst zum Narren macht,
und wodurch er, von wenigen Ausnahmen abgesehen, so unwiderstehlich komisch
wirkt. Er hat keine Ahnung davon, daß er sich mit der Vernunft irgendwie in
Widerspruch setzt, er ist vielmehr der festen Überzeugung, daß gerade das, wodurch
er, wie ihm wohl bewußt ist, sich von andern unterscheidet, einen höhern Grad der
Anlage oder der Erkenntnis darstelle, ans den er alles Recht habe, stolz zu sein.
So somit sich der Geizige in dem Gedanken an seine Bedürfnis- und Anspruchs¬
losigkeit, der Modenarr freut sich über seine Richtung aufs Bornehme, der Vereins¬
meier ist von der Überzeugung durchdrungen, daß er eine für die Menschheit segens¬
reiche Thätigkeit ausübe, und für den Alpeufex steht es außer Zweifel, daß der
Gipfel der Naturbetrnchtuug und des Naturgenusses auf den höchsten Spitzen der
Alpen erreicht werde, wo man nichts als Schnee, Eis, Felsen und Wolken sieht,
obwohl man das bequemer haben kann, wenn man sich zur Winterszeit in einer
wüsten Gegeud auss freie Feld stellt, uur daß man auf den Schneefernern auch
in und über den Wolken steht und dem Himmel bedeutend näher gerückt ist.

Diese Überzcuguugstreue des närrischen Menschen übt auf leicht bestimmbare
Naturen bisweilen die Wirkung ans, daß er sie mit seiner Narrheit ansteckt; sie
denken, was einer so festhält, damit muß es seine Richtigkeit haben, und so ge¬
schieht, was das Sprichwort sagt: Ein Narr macht viele Narren.

Daß aber jeder in seiner eignen Narrheit einen Vorzug sieht, um deswillen
er sogar geneigt ist, vernünftige Leute zu verachten, beruht offenbar in einem Irr¬
tum über die ihn auszeichnende Willensrichtung, die, mag sie nnn in Eitelkeit,
Hochmut, Genußsucht oder sonst etwas bestehen, ihn zu einer unvernünftigen und
deshalb zweckwidrigen Handlungsweise führt: dn er sie selbst für vernünftig hält,
so kann sie seiner Meinung uach uur einem großen, edeln Streben entspringen. Er
täuscht sich also über sich selbst, indem er sich für besser hält, als er ist, und das
ist eine Meinung, von der einer crfahruugsmnßig am schwersten abzubringen ist.
Gerade deshalb aber merkt es der närrische Mensch nicht so leicht, daß andre nicht
seiner Meinung sind, ihn für einen Narren halten und über ihn lachen, und wenn
er es merkt, so pflegt er es gnr übel zu nehmen, während er eine Narrheit, die nicht
in sein Fach fällt, an andern ohne Mühe erkennt und sich weidlich daran ergeht.

Bisweilen aber mag es dem einen oder dem andern widerfahren, daß ihm der
Schleier von den Augen fällt, und er überrascht ausruft: Was bin ich für ein
Narr! Dann schämt er sich vielleicht, unwillkürlich muß er aber auch über sich selbst
lachen; und wie er sich nun mit allem Ernst daran macht, den verkehrten Kurs zu
ändern, dabei aber gewahr wird, welch ein saures Stück Arbeit das ist, fängt er
in>, seine Mitnnrrcn mit andern Augen einzusehen. Er lacht auch noch über sie,
nun aber mit größeren Recht; denn er versteht sie jetzt, er fühlt mit ihnen und ist
gewillt, so viel in seinen Kräften steht, ihnen zu helfen.


Lin Uapitel von der Narrheit

einzelnen Erscheinungsformen gewissermaßen von außen betrachtet. Wie man aber,
um sich über ein merkwürdiges, verzwicktes Bauwerk zu unterrichte», nicht draußen
stehen bleibt, sondern schließlich hineingeht, die Gänge und Winkel durchforscht und
prüft, wie sich die Welt von innen gesehen aufnimmt, so empfiehlt es sich, um das
Wesen der Narrheit und ihre Bedeutung völlig zu ergründen, auch bei ihr den
Standpunkt von innen einzunehmen, d. h, darauf zu achten, wie sich der närrische
Mensch selbst zu der Narrheit und der Außenwelt verhält. Da wird man denn
gewahr, daß, wie das Sprichwort sagt, jedem Narren seine Kappe gefällt; er hält
sie keineswegs für ein unbequemes und auffallendes Kleidungsstück, sondern für ein
sehr praktisches und geschmackvolles, und schaut mit tiefem Ernst darunter hervor in
die Welt hinein, und gerade das ist es, was ihn eigentlich erst zum Narren macht,
und wodurch er, von wenigen Ausnahmen abgesehen, so unwiderstehlich komisch
wirkt. Er hat keine Ahnung davon, daß er sich mit der Vernunft irgendwie in
Widerspruch setzt, er ist vielmehr der festen Überzeugung, daß gerade das, wodurch
er, wie ihm wohl bewußt ist, sich von andern unterscheidet, einen höhern Grad der
Anlage oder der Erkenntnis darstelle, ans den er alles Recht habe, stolz zu sein.
So somit sich der Geizige in dem Gedanken an seine Bedürfnis- und Anspruchs¬
losigkeit, der Modenarr freut sich über seine Richtung aufs Bornehme, der Vereins¬
meier ist von der Überzeugung durchdrungen, daß er eine für die Menschheit segens¬
reiche Thätigkeit ausübe, und für den Alpeufex steht es außer Zweifel, daß der
Gipfel der Naturbetrnchtuug und des Naturgenusses auf den höchsten Spitzen der
Alpen erreicht werde, wo man nichts als Schnee, Eis, Felsen und Wolken sieht,
obwohl man das bequemer haben kann, wenn man sich zur Winterszeit in einer
wüsten Gegeud auss freie Feld stellt, uur daß man auf den Schneefernern auch
in und über den Wolken steht und dem Himmel bedeutend näher gerückt ist.

Diese Überzcuguugstreue des närrischen Menschen übt auf leicht bestimmbare
Naturen bisweilen die Wirkung ans, daß er sie mit seiner Narrheit ansteckt; sie
denken, was einer so festhält, damit muß es seine Richtigkeit haben, und so ge¬
schieht, was das Sprichwort sagt: Ein Narr macht viele Narren.

Daß aber jeder in seiner eignen Narrheit einen Vorzug sieht, um deswillen
er sogar geneigt ist, vernünftige Leute zu verachten, beruht offenbar in einem Irr¬
tum über die ihn auszeichnende Willensrichtung, die, mag sie nnn in Eitelkeit,
Hochmut, Genußsucht oder sonst etwas bestehen, ihn zu einer unvernünftigen und
deshalb zweckwidrigen Handlungsweise führt: dn er sie selbst für vernünftig hält,
so kann sie seiner Meinung uach uur einem großen, edeln Streben entspringen. Er
täuscht sich also über sich selbst, indem er sich für besser hält, als er ist, und das
ist eine Meinung, von der einer crfahruugsmnßig am schwersten abzubringen ist.
Gerade deshalb aber merkt es der närrische Mensch nicht so leicht, daß andre nicht
seiner Meinung sind, ihn für einen Narren halten und über ihn lachen, und wenn
er es merkt, so pflegt er es gnr übel zu nehmen, während er eine Narrheit, die nicht
in sein Fach fällt, an andern ohne Mühe erkennt und sich weidlich daran ergeht.

Bisweilen aber mag es dem einen oder dem andern widerfahren, daß ihm der
Schleier von den Augen fällt, und er überrascht ausruft: Was bin ich für ein
Narr! Dann schämt er sich vielleicht, unwillkürlich muß er aber auch über sich selbst
lachen; und wie er sich nun mit allem Ernst daran macht, den verkehrten Kurs zu
ändern, dabei aber gewahr wird, welch ein saures Stück Arbeit das ist, fängt er
in>, seine Mitnnrrcn mit andern Augen einzusehen. Er lacht auch noch über sie,
nun aber mit größeren Recht; denn er versteht sie jetzt, er fühlt mit ihnen und ist
gewillt, so viel in seinen Kräften steht, ihnen zu helfen.


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[0581] Lin Uapitel von der Narrheit einzelnen Erscheinungsformen gewissermaßen von außen betrachtet. Wie man aber, um sich über ein merkwürdiges, verzwicktes Bauwerk zu unterrichte», nicht draußen stehen bleibt, sondern schließlich hineingeht, die Gänge und Winkel durchforscht und prüft, wie sich die Welt von innen gesehen aufnimmt, so empfiehlt es sich, um das Wesen der Narrheit und ihre Bedeutung völlig zu ergründen, auch bei ihr den Standpunkt von innen einzunehmen, d. h, darauf zu achten, wie sich der närrische Mensch selbst zu der Narrheit und der Außenwelt verhält. Da wird man denn gewahr, daß, wie das Sprichwort sagt, jedem Narren seine Kappe gefällt; er hält sie keineswegs für ein unbequemes und auffallendes Kleidungsstück, sondern für ein sehr praktisches und geschmackvolles, und schaut mit tiefem Ernst darunter hervor in die Welt hinein, und gerade das ist es, was ihn eigentlich erst zum Narren macht, und wodurch er, von wenigen Ausnahmen abgesehen, so unwiderstehlich komisch wirkt. Er hat keine Ahnung davon, daß er sich mit der Vernunft irgendwie in Widerspruch setzt, er ist vielmehr der festen Überzeugung, daß gerade das, wodurch er, wie ihm wohl bewußt ist, sich von andern unterscheidet, einen höhern Grad der Anlage oder der Erkenntnis darstelle, ans den er alles Recht habe, stolz zu sein. So somit sich der Geizige in dem Gedanken an seine Bedürfnis- und Anspruchs¬ losigkeit, der Modenarr freut sich über seine Richtung aufs Bornehme, der Vereins¬ meier ist von der Überzeugung durchdrungen, daß er eine für die Menschheit segens¬ reiche Thätigkeit ausübe, und für den Alpeufex steht es außer Zweifel, daß der Gipfel der Naturbetrnchtuug und des Naturgenusses auf den höchsten Spitzen der Alpen erreicht werde, wo man nichts als Schnee, Eis, Felsen und Wolken sieht, obwohl man das bequemer haben kann, wenn man sich zur Winterszeit in einer wüsten Gegeud auss freie Feld stellt, uur daß man auf den Schneefernern auch in und über den Wolken steht und dem Himmel bedeutend näher gerückt ist. Diese Überzcuguugstreue des närrischen Menschen übt auf leicht bestimmbare Naturen bisweilen die Wirkung ans, daß er sie mit seiner Narrheit ansteckt; sie denken, was einer so festhält, damit muß es seine Richtigkeit haben, und so ge¬ schieht, was das Sprichwort sagt: Ein Narr macht viele Narren. Daß aber jeder in seiner eignen Narrheit einen Vorzug sieht, um deswillen er sogar geneigt ist, vernünftige Leute zu verachten, beruht offenbar in einem Irr¬ tum über die ihn auszeichnende Willensrichtung, die, mag sie nnn in Eitelkeit, Hochmut, Genußsucht oder sonst etwas bestehen, ihn zu einer unvernünftigen und deshalb zweckwidrigen Handlungsweise führt: dn er sie selbst für vernünftig hält, so kann sie seiner Meinung uach uur einem großen, edeln Streben entspringen. Er täuscht sich also über sich selbst, indem er sich für besser hält, als er ist, und das ist eine Meinung, von der einer crfahruugsmnßig am schwersten abzubringen ist. Gerade deshalb aber merkt es der närrische Mensch nicht so leicht, daß andre nicht seiner Meinung sind, ihn für einen Narren halten und über ihn lachen, und wenn er es merkt, so pflegt er es gnr übel zu nehmen, während er eine Narrheit, die nicht in sein Fach fällt, an andern ohne Mühe erkennt und sich weidlich daran ergeht. Bisweilen aber mag es dem einen oder dem andern widerfahren, daß ihm der Schleier von den Augen fällt, und er überrascht ausruft: Was bin ich für ein Narr! Dann schämt er sich vielleicht, unwillkürlich muß er aber auch über sich selbst lachen; und wie er sich nun mit allem Ernst daran macht, den verkehrten Kurs zu ändern, dabei aber gewahr wird, welch ein saures Stück Arbeit das ist, fängt er in>, seine Mitnnrrcn mit andern Augen einzusehen. Er lacht auch noch über sie, nun aber mit größeren Recht; denn er versteht sie jetzt, er fühlt mit ihnen und ist gewillt, so viel in seinen Kräften steht, ihnen zu helfen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/581>, abgerufen am 28.11.2024.