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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Der Ausnahmezustand im Reichslande

gleich es ja den. Vögeln eine Freude sein muß, von der Meisterhand des Herrn
Baron zu fallen.

Nössing gähnte. Wenn er mit Neumann allein war, fand er ihn langweilig.
Nachdem beide Herren noch eine Zeit lang über gleichgiltige Dinge gesprochen hatten,
stand der Graf auf.

Wo steckt Ravenstein eigentlich? Er kann doch dort im Bostett nicht darauf
lauern wollen, ein Wild mit seiner Pistole zu schießen?

Es steht eine Bank dort, erwiderte Neumann. Vielleicht hat er sich einen Augen¬
blick zurückgezogen, um etwas zu schlafen.

Beide Herren schritten langsam über den knirschenden Kiesboden, bis sie an
die Büsche und Bäume kamen, wohin Ravenstein gegangen war. Jelängerjelieber-
staudeu, Jasmin- und Fliederbüsche standen eng zusammen, und über ihnen erhoben
sich einige Ahornbäume. Es war eine kleine Wildnis, aber in der Mitte stand,
von Rasenflächen umgeben, eine Bank. Vor ihr lag der Baron. sein Kopf ruhte
auf abgefallenen Jasminblüten, und seine Augen waren weit geöffnet.

Als der Graf mit einem Schreckenslaut auf ihn zustürzte, versuchte er zu
lächeln. Ada, arme Ada! murmelte er, die Hand hebend. Es war, als wenn
er noch mehr sagen wollte, aber er konnte die Worte uicht mehr formen. Zwei, drei
mal setzte er an, dann gab er den Versuch auf.

Er sprach auch uicht wieder, obgleich er noch einige Stunden lebte. Er war
durch die Lunge geschossen, und der Sanitätsrat, den man durch einen Zufall, als
man nach einem Doktor eilte, auf der Landstraße getroffen hatte, nahm an, daß
er mit der Pistole in der Hand gestolpert sei. So war es auch wohl: niemand
konnte sich etwas andres denken. Graf Rössing und Neumann mußten beide zu¬
geben, daß der Baron sehr viel Champagner getrunken hatte und vielleicht nicht
ganz sicher gewesen sei. Vielleicht hatte er den Hahn der Pistole gespannt, um
einen Vogel zu schießen, hatte es dann vergessen, um gleich darauf durch eine un¬
vorsichtige Bewegung zu fallen. Vielleicht -- ach es gab noch viele Vielleicht. Nur
das eine war bald eine traurige Gewißheit: ein toter Mann im Nebenknbinett des
Gartensaals!

(Fortsetzung folgt)




Der Ausnahmezustand im Reichslande

le erste Lesung des Etats in dem reichsländischen Parlament ist
äußerlich in derselben ruhigen und höfliche" Weise verlaufen, die im
allgemeinen für den Ton des vielgeschmähten "Rentnerparlaments"
^ bezeichnend ist. Aber bei aller Salonfähigkeit, die auch bei derartigen
> Politischen Debatten hier immer festgehalten zu werden pflegt, ist doch
die Entschiedenheit aufgefallen, mit der diesmal von verschiednen
Seiten des Hauses auf die Thatsache hingewiesen worden ist, daß eine tiefe Un¬
zufriedenheit für die Politische Stimmung der Bevölkerung im Reichslande charak-


Der Ausnahmezustand im Reichslande

gleich es ja den. Vögeln eine Freude sein muß, von der Meisterhand des Herrn
Baron zu fallen.

Nössing gähnte. Wenn er mit Neumann allein war, fand er ihn langweilig.
Nachdem beide Herren noch eine Zeit lang über gleichgiltige Dinge gesprochen hatten,
stand der Graf auf.

Wo steckt Ravenstein eigentlich? Er kann doch dort im Bostett nicht darauf
lauern wollen, ein Wild mit seiner Pistole zu schießen?

Es steht eine Bank dort, erwiderte Neumann. Vielleicht hat er sich einen Augen¬
blick zurückgezogen, um etwas zu schlafen.

Beide Herren schritten langsam über den knirschenden Kiesboden, bis sie an
die Büsche und Bäume kamen, wohin Ravenstein gegangen war. Jelängerjelieber-
staudeu, Jasmin- und Fliederbüsche standen eng zusammen, und über ihnen erhoben
sich einige Ahornbäume. Es war eine kleine Wildnis, aber in der Mitte stand,
von Rasenflächen umgeben, eine Bank. Vor ihr lag der Baron. sein Kopf ruhte
auf abgefallenen Jasminblüten, und seine Augen waren weit geöffnet.

Als der Graf mit einem Schreckenslaut auf ihn zustürzte, versuchte er zu
lächeln. Ada, arme Ada! murmelte er, die Hand hebend. Es war, als wenn
er noch mehr sagen wollte, aber er konnte die Worte uicht mehr formen. Zwei, drei
mal setzte er an, dann gab er den Versuch auf.

Er sprach auch uicht wieder, obgleich er noch einige Stunden lebte. Er war
durch die Lunge geschossen, und der Sanitätsrat, den man durch einen Zufall, als
man nach einem Doktor eilte, auf der Landstraße getroffen hatte, nahm an, daß
er mit der Pistole in der Hand gestolpert sei. So war es auch wohl: niemand
konnte sich etwas andres denken. Graf Rössing und Neumann mußten beide zu¬
geben, daß der Baron sehr viel Champagner getrunken hatte und vielleicht nicht
ganz sicher gewesen sei. Vielleicht hatte er den Hahn der Pistole gespannt, um
einen Vogel zu schießen, hatte es dann vergessen, um gleich darauf durch eine un¬
vorsichtige Bewegung zu fallen. Vielleicht — ach es gab noch viele Vielleicht. Nur
das eine war bald eine traurige Gewißheit: ein toter Mann im Nebenknbinett des
Gartensaals!

(Fortsetzung folgt)




Der Ausnahmezustand im Reichslande

le erste Lesung des Etats in dem reichsländischen Parlament ist
äußerlich in derselben ruhigen und höfliche» Weise verlaufen, die im
allgemeinen für den Ton des vielgeschmähten „Rentnerparlaments"
^ bezeichnend ist. Aber bei aller Salonfähigkeit, die auch bei derartigen
> Politischen Debatten hier immer festgehalten zu werden pflegt, ist doch
die Entschiedenheit aufgefallen, mit der diesmal von verschiednen
Seiten des Hauses auf die Thatsache hingewiesen worden ist, daß eine tiefe Un¬
zufriedenheit für die Politische Stimmung der Bevölkerung im Reichslande charak-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/542>, abgerufen am 22.11.2024.