Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.Grundbesitz, Landwirtschaft und Landarbeiter in England ihm den notdürftigen Lebensunterhalt, dafür verwertet es seine Arbeitskraft. Was auch den ländlichen Arbeitern eine Bewegung zur Besserung ihrer Grundbesitz, Landwirtschaft und Landarbeiter in England ihm den notdürftigen Lebensunterhalt, dafür verwertet es seine Arbeitskraft. Was auch den ländlichen Arbeitern eine Bewegung zur Besserung ihrer <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0517" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/222163"/> <fw type="header" place="top"> Grundbesitz, Landwirtschaft und Landarbeiter in England</fw><lb/> <p xml:id="ID_1717" prev="#ID_1716"> ihm den notdürftigen Lebensunterhalt, dafür verwertet es seine Arbeitskraft.<lb/> Die Kirchspielarmen werden auf Märkten oder durch private Abmachungen ver¬<lb/> kauft oder vermietet. Da der freie Arbeiter natürlich keinen höhern Lohn er¬<lb/> langen kann als seine Konkurrenten, die Kirchspielarmen, die in Masse ange¬<lb/> boten werden, dabei aber in arbeitsloser Zeit dem Hunger preisgegeben ist, so<lb/> bleibt ihm nichts übrig als selbst Muxsr zu werden, sich zur Sicherung seines<lb/> Unterhalts in die Sklaverei zu begeben. Der einzelne junge Mann kann es<lb/> bei noch so großer Anstrengung und Tüchtigkeit nicht höher bringen, als eben<lb/> zum „Existenzminimum"; mehr zahlt man ihm nicht; will er mehr haben, so<lb/> muß er sich Kinder verschaffen, denn für jedes Kind wird ein Zuschuß ge¬<lb/> währt. Er heiratet also so früh wie möglich und zeugt so viel Kinder wie<lb/> möglich; dadurch wird seine Lage ein wenig erträglicher, bis seine Kinder aus<lb/> dem Hause kommen und sein Tagegeld wieder abnimmt; er endet gewöhnlich<lb/> im Arbeitshause. Ebenso muß sich die Magd, die keinen Mann bekommt, un¬<lb/> eheliche Kinder anschaffen, wenn sie es etwas weniger schlecht haben will. Es<lb/> versteht sich, daß die ländlichen Arbeiter ebenso schlecht behandelt werden wie<lb/> die in der Industrie, nur daß ihre Arbeit nicht in gleichem Grade gesund¬<lb/> heitsschädlich und den Knochen und Gliedmaßen verderblich ist. Man muß<lb/> bis auf die schlimmsten Auswüchse der altrömischen Sklaverei zurückgehen, um<lb/> auf eine ähnliche Herabwürdigung und Mißhandlung des Menschen zu stoßen;<lb/> die altgriechische bietet kein Seitenstück dazu. Selbstverständlich wanderten alle<lb/> jungen Leute aus, die sich noch die erforderliche Thatkraft gewahrt hatten und<lb/> die die Mittel aufzutreiben vermochten; die Arbeiterorganisationen unsers Jahr¬<lb/> hunderts verwenden einen Teil ihrer Einnahme darauf, den Genossen, die Lust<lb/> dazu haben, die Ab- oder Auswanderung zu ermöglichen. Neben dein System<lb/> der Kirchspielarmen, denen das Gesetz von 1834 ein Ende machte, bildete sich<lb/> das Gangsystem aus, von dem wir in Deutschland durch die seit Einführung<lb/> des Zuckerrübenanbaus überHand nehmenden Wanderarbeiter einen Begriff be¬<lb/> kommen haben. Übrigens ist die ältere Arbeitsverfasfung nicht überall in Eng¬<lb/> land zu Grunde gegangen; namentlich im Norden findet man noch Verhält¬<lb/> nisse erhalten, die denen unsrer deutschen Heuerleute und Jnseen ähnlich sind;<lb/> dort ist der ländlichen Arbeiterbevölkerung anch noch ein höherer Grad leib¬<lb/> licher und sittlicher Gesundheit erhalten geblieben.</p><lb/> <p xml:id="ID_1718" next="#ID_1719"> Was auch den ländlichen Arbeitern eine Bewegung zur Besserung ihrer<lb/> Lage ermöglichte, das war einerseits der Interessengegensatz zwischen Industrie<lb/> und Landwirtschaft, der zur Folge hatte, daß die Landlords die industriellen,<lb/> die Fabrikanten die ländlichen Arbeitergreuel aufdeckten, andrerseits die eng¬<lb/> lische Vereins-, Versammlungs-, Rede- und Preßfreiheit. Zwar die ersten<lb/> sechs ländlichen Arbeiter, die, durch Hunger und Überarbeit zu einem Entschluß<lb/> gestachelt, 1834 einen Gewerkverein zu gründen versuchten, wurden zur De¬<lb/> portation verurteilt, aber die öffentliche Meinung ließ diesen Unterdrückungs-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0517]
Grundbesitz, Landwirtschaft und Landarbeiter in England
ihm den notdürftigen Lebensunterhalt, dafür verwertet es seine Arbeitskraft.
Die Kirchspielarmen werden auf Märkten oder durch private Abmachungen ver¬
kauft oder vermietet. Da der freie Arbeiter natürlich keinen höhern Lohn er¬
langen kann als seine Konkurrenten, die Kirchspielarmen, die in Masse ange¬
boten werden, dabei aber in arbeitsloser Zeit dem Hunger preisgegeben ist, so
bleibt ihm nichts übrig als selbst Muxsr zu werden, sich zur Sicherung seines
Unterhalts in die Sklaverei zu begeben. Der einzelne junge Mann kann es
bei noch so großer Anstrengung und Tüchtigkeit nicht höher bringen, als eben
zum „Existenzminimum"; mehr zahlt man ihm nicht; will er mehr haben, so
muß er sich Kinder verschaffen, denn für jedes Kind wird ein Zuschuß ge¬
währt. Er heiratet also so früh wie möglich und zeugt so viel Kinder wie
möglich; dadurch wird seine Lage ein wenig erträglicher, bis seine Kinder aus
dem Hause kommen und sein Tagegeld wieder abnimmt; er endet gewöhnlich
im Arbeitshause. Ebenso muß sich die Magd, die keinen Mann bekommt, un¬
eheliche Kinder anschaffen, wenn sie es etwas weniger schlecht haben will. Es
versteht sich, daß die ländlichen Arbeiter ebenso schlecht behandelt werden wie
die in der Industrie, nur daß ihre Arbeit nicht in gleichem Grade gesund¬
heitsschädlich und den Knochen und Gliedmaßen verderblich ist. Man muß
bis auf die schlimmsten Auswüchse der altrömischen Sklaverei zurückgehen, um
auf eine ähnliche Herabwürdigung und Mißhandlung des Menschen zu stoßen;
die altgriechische bietet kein Seitenstück dazu. Selbstverständlich wanderten alle
jungen Leute aus, die sich noch die erforderliche Thatkraft gewahrt hatten und
die die Mittel aufzutreiben vermochten; die Arbeiterorganisationen unsers Jahr¬
hunderts verwenden einen Teil ihrer Einnahme darauf, den Genossen, die Lust
dazu haben, die Ab- oder Auswanderung zu ermöglichen. Neben dein System
der Kirchspielarmen, denen das Gesetz von 1834 ein Ende machte, bildete sich
das Gangsystem aus, von dem wir in Deutschland durch die seit Einführung
des Zuckerrübenanbaus überHand nehmenden Wanderarbeiter einen Begriff be¬
kommen haben. Übrigens ist die ältere Arbeitsverfasfung nicht überall in Eng¬
land zu Grunde gegangen; namentlich im Norden findet man noch Verhält¬
nisse erhalten, die denen unsrer deutschen Heuerleute und Jnseen ähnlich sind;
dort ist der ländlichen Arbeiterbevölkerung anch noch ein höherer Grad leib¬
licher und sittlicher Gesundheit erhalten geblieben.
Was auch den ländlichen Arbeitern eine Bewegung zur Besserung ihrer
Lage ermöglichte, das war einerseits der Interessengegensatz zwischen Industrie
und Landwirtschaft, der zur Folge hatte, daß die Landlords die industriellen,
die Fabrikanten die ländlichen Arbeitergreuel aufdeckten, andrerseits die eng¬
lische Vereins-, Versammlungs-, Rede- und Preßfreiheit. Zwar die ersten
sechs ländlichen Arbeiter, die, durch Hunger und Überarbeit zu einem Entschluß
gestachelt, 1834 einen Gewerkverein zu gründen versuchten, wurden zur De¬
portation verurteilt, aber die öffentliche Meinung ließ diesen Unterdrückungs-
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