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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Grundbesitz, Landwirtschaft "ut Landarbeiter in England

er auf, Arbeiter oder wenigstens billiger Arbeiter zu sein; kann er dann doch
seine Bedingungen stellen, weil ihn der Ausfall der Lohnarbeit nicht in Not
stürzt. Optimisten, darunter ein Mann, der durch seinen Pessimismus berühmt
geworden ist, fahren hartnäckig fort, zu behaupten, das berüchtigte englische
Arbeiterelend sei bloß eine Übergangserscheinung gewesen, und seine Leiden
würden durch die Wohlthat einer allgemeinen Hebung der untern Klassen, die
darauf gefolgt sei, weit überwogen. Das ist einfach nicht wahr. Das Elend
eines völlig besitzlosen, jeder Willkür der obern Klassen preigegebnen Proletariats
war im Mittelalter unbekannt; es ist durch den modernen Großbetrieb erst
geschaffen worden. Es hat am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts begonnen
und dauert fort bis auf den heutigen Tag; wenn wir uns auf England und
auf die Zeit beschränken, wo die Zahl der Besitzlosen, der vom Boden los¬
gelösten, die Mehrheit bildete, dauert es jetzt schou mehr als anderthalb hundert
Jahre, und ein Ende dieser "Übergangsperiode" ist vorläufig noch gar nicht
abzusehen. Es ist dadurch eine deutlich sichtbare Verschlechterung der leiblichen
und der geistig-sittlichen Konstitution der ürmern Mehrzahl des Volkes ver¬
ursacht worden. Schriftsteller des vorigen Jahrhunderts sprachen ihr Entsetzen
darüber aus, als sie schöne Mädchen auf dem Acker schwere Männer- und
sogar Zugvieharbeit verrichten selben; natürlich waren da die Mädchen des
niedern Landvolkes am längsten schön gewesen. Patrioten brachen in bittere
Klagen darüber aus, daß sich vor ihren Augen das stämmige, gesunde, schöne,
selbstbewußte und tapfere englische Landvolk in ein Gesindel ohne Kraft und
Schönheit, ohne Ehrgefühl und ohne eine Spur von Sittlichkeit verwandelte.
Zu Almosenempfängern und Kirchspielsklaven geworden, von der Hand in den
Mund lebend, in den Kot getreten, ohne Hoffnung auf Besserung, mit ihrem
elenden Tagelohn dem Kneipenwirt haftbar, waren die Nachkommen der stolzen
und tapfern Aeonen Ausbunde von Liederlichkeit, die keinen andern Genuß
mehr kannten, als den Geschlechtsgenuß und den Branntweinrausch, und die
jede sich darbietende Gelegenheit zu Verbrechern machte. Was vom Reichtum
gilt, das gilt vou dem reichtumschaffeuden Großbetrieb, wenigstens vom Privat¬
großbetrieb; er erzeugt Volkselend und ist nur bei Volkselend möglich. Der
landwirtschaftliche Großbetrieb, schreibt Hasbach Seite 380, nach der Dar¬
stellung seiner Lebensbedingungen, "ist also mit einer starken, gesunden, kauf¬
kräftigen ländlichen Bevölkerung unverträglich."

Das vierte ist die Wahrheit, daß die "Not der Landwirtschaft" mit dem
kapitalistischen Betrieb gleichzeitig entsteht und von ihm unzertrennlich ist. Bei
vorherrschender Naturalwirtschaft kann der Bauer, kann der mit Frvhnbauern
wirtschaftende Großgrundbesitzer nicht zu Grunde gehen. Das schlimmste, was
ihnen begegnen kann, ist, daß sie nach schlechten Ernten krumm liegeu müssen,
nämlich die Freibauern und die Frvhnbauern; was der Gutsherr braucht, trägt
das Land unter allen Umstünden. Nur die Versorgung der Kinder kann bei


Grundbesitz, Landwirtschaft »ut Landarbeiter in England

er auf, Arbeiter oder wenigstens billiger Arbeiter zu sein; kann er dann doch
seine Bedingungen stellen, weil ihn der Ausfall der Lohnarbeit nicht in Not
stürzt. Optimisten, darunter ein Mann, der durch seinen Pessimismus berühmt
geworden ist, fahren hartnäckig fort, zu behaupten, das berüchtigte englische
Arbeiterelend sei bloß eine Übergangserscheinung gewesen, und seine Leiden
würden durch die Wohlthat einer allgemeinen Hebung der untern Klassen, die
darauf gefolgt sei, weit überwogen. Das ist einfach nicht wahr. Das Elend
eines völlig besitzlosen, jeder Willkür der obern Klassen preigegebnen Proletariats
war im Mittelalter unbekannt; es ist durch den modernen Großbetrieb erst
geschaffen worden. Es hat am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts begonnen
und dauert fort bis auf den heutigen Tag; wenn wir uns auf England und
auf die Zeit beschränken, wo die Zahl der Besitzlosen, der vom Boden los¬
gelösten, die Mehrheit bildete, dauert es jetzt schou mehr als anderthalb hundert
Jahre, und ein Ende dieser „Übergangsperiode" ist vorläufig noch gar nicht
abzusehen. Es ist dadurch eine deutlich sichtbare Verschlechterung der leiblichen
und der geistig-sittlichen Konstitution der ürmern Mehrzahl des Volkes ver¬
ursacht worden. Schriftsteller des vorigen Jahrhunderts sprachen ihr Entsetzen
darüber aus, als sie schöne Mädchen auf dem Acker schwere Männer- und
sogar Zugvieharbeit verrichten selben; natürlich waren da die Mädchen des
niedern Landvolkes am längsten schön gewesen. Patrioten brachen in bittere
Klagen darüber aus, daß sich vor ihren Augen das stämmige, gesunde, schöne,
selbstbewußte und tapfere englische Landvolk in ein Gesindel ohne Kraft und
Schönheit, ohne Ehrgefühl und ohne eine Spur von Sittlichkeit verwandelte.
Zu Almosenempfängern und Kirchspielsklaven geworden, von der Hand in den
Mund lebend, in den Kot getreten, ohne Hoffnung auf Besserung, mit ihrem
elenden Tagelohn dem Kneipenwirt haftbar, waren die Nachkommen der stolzen
und tapfern Aeonen Ausbunde von Liederlichkeit, die keinen andern Genuß
mehr kannten, als den Geschlechtsgenuß und den Branntweinrausch, und die
jede sich darbietende Gelegenheit zu Verbrechern machte. Was vom Reichtum
gilt, das gilt vou dem reichtumschaffeuden Großbetrieb, wenigstens vom Privat¬
großbetrieb; er erzeugt Volkselend und ist nur bei Volkselend möglich. Der
landwirtschaftliche Großbetrieb, schreibt Hasbach Seite 380, nach der Dar¬
stellung seiner Lebensbedingungen, „ist also mit einer starken, gesunden, kauf¬
kräftigen ländlichen Bevölkerung unverträglich."

Das vierte ist die Wahrheit, daß die „Not der Landwirtschaft" mit dem
kapitalistischen Betrieb gleichzeitig entsteht und von ihm unzertrennlich ist. Bei
vorherrschender Naturalwirtschaft kann der Bauer, kann der mit Frvhnbauern
wirtschaftende Großgrundbesitzer nicht zu Grunde gehen. Das schlimmste, was
ihnen begegnen kann, ist, daß sie nach schlechten Ernten krumm liegeu müssen,
nämlich die Freibauern und die Frvhnbauern; was der Gutsherr braucht, trägt
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/510>, abgerufen am 01.09.2024.