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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Die erste Liebe

und sie oft besuchte. Er war ein mittelgroßer Herr mit kurzgeschornen, eisgrauen
Haaren und einem Nnnbvogelgcsicht, ans dem dunkle, unruhige Augen blickten.
Seine Art zu sprechen war uicht immer angenehm, da er sich über viele Menschen,
besonders über die Frauen lustig machte und gern kleine boshafte Geschichten von
ihnen erzählte. Aber er fühlte sich doch oft einsam, und da er die Baronin von
früher her kannte, so plauderte er gern mit ihr: von seinem Hanse, das er sich
ebeu gekauft hatte, von seinem Sohne, der viel Geld brauchte, vou alten Familien¬
geschichten. Er war außerdem ein guter Menschenkenner, und Adas Charakter gefiel
ihm trotz mancher Eigentümlichkeiten.

Sie sind ein merkwürdig gleichgiltiges Wesen, sagte er einmal zu ihr. Ihr
Enthusiasmus, Ihre plötzliche Nächstenliebe sind nur Ausflüsse von Stimmungen,
und im ganzen empfinden Sie wenig!

Sie sah ihn erstaunt und belustigt an.

Also ganz empfindungslos? Ich weiß doch nicht -- sie wurde nachdenklich.
Aber von Stimmungen hänge ich allerdings ab und hätte in dieser Beziehung gut
ins Mittelalter gepaßt. Heute könnte ich mich im Vollgefühl meiner Sünde halbtot
geißeln, und morgen wüßte ich nicht wohin mit meiner Lebensfreude und Lebenslust!

Lebensfreude! Der Graf machte ein verdrießliches Gesicht. Das Wort macht
Zahnschmerzen!

Besuchen Sie Amelie Zehleneck! riet die Baronin. Dann werden Sie viel¬
leicht etwas besser gestimmt! Sie ist schon sehr böse auf mich, weil sie meint, daß
ich Sie vou einem Besuch bei ihr zurückhielte!

Der Graf wurde noch grämlicher.

Mit Amelie mag ich nichts zu thun haben, sagte er. Sie hat viele Ahnen
und ist vom ältesten Adel, aber sie weiß uicht, was adliche Gesinnung ist. Ich bin
zwar selbst niemals viel wert gewesen, aber bei Amelie ärgere ich mich doch.

Aber sie war doch Ihre erste Liebe, platzte Ada heraus.

Eben deswegen, sagte Rössing gelassen. Wenn man merkt, daß man in seiner
goldnen Jugend einen so niederträchtig schlechten Geschmack gehabt hat, dann ärgert
man sich. Wäre Amelie vor zwanzig Jahren gestorben, dann würde sie in meinem
Herzen mit einem kleinen Heiligenschein weiter leben. Es ist ungeschickt von ihr,
daß sie nicht tot ist, denn sie ist eine wandelnde Enttäuschung für mich. Vor etwa
zehn Jahren, als ich sie wiedersah, habe ich dies empfunden. Da trafen wir uns
auf irgend einem Hoffest. Sie war sehr geschminkt, kokettirte nach allen Seiten,
und als sie mich sah, that sie einen Schrei, der gefühlvoll klingen sollte. Nachher
sagte jemand, sie wäre beinahe ohnmächtig geworden, weil sie ihre erste Liebe wieder
gesehen hätte. Das war ich; und ich schämte mich schon damals dieser ersten Liebe!

Die Baronin hatte ihrem Besuch nachdenklich zugehört. In den Romanen
wird die erste Liebe immer gepriesen, sagte sie jetzt halb verlegen. Denn es kam
ihr so vor, als würde sie sich auch nicht freuen, ihrer ersten Liebe wieder zu be¬
gegnen.

Man darf sie ebeu niemals wiedersehen! versicherte Rössing im Weggehen,
und obgleich Ada ihn einen gefühllosen Menschen schalt, so war sie doch seiner
Meinung.

Sie ahnte nicht, daß das stille Leben der kleinen Stadt doch noch eine Über¬
raschung für sie zu Tage fördern sollte. Diese war das Plötzliche Auftauche"
Herrn Friedrich Nenmnnus, desselben Herrn, - der sie einmal im Dunkeln geküßt
hatte. Der Baron brachte ihn eines Tages nach Hanse. Er war der neue Be¬
sitzer des schönen alten Gutes Fresenhagen, der an den Stammtisch der Weinstube


Grenzboten I 1836 02
Die erste Liebe

und sie oft besuchte. Er war ein mittelgroßer Herr mit kurzgeschornen, eisgrauen
Haaren und einem Nnnbvogelgcsicht, ans dem dunkle, unruhige Augen blickten.
Seine Art zu sprechen war uicht immer angenehm, da er sich über viele Menschen,
besonders über die Frauen lustig machte und gern kleine boshafte Geschichten von
ihnen erzählte. Aber er fühlte sich doch oft einsam, und da er die Baronin von
früher her kannte, so plauderte er gern mit ihr: von seinem Hanse, das er sich
ebeu gekauft hatte, von seinem Sohne, der viel Geld brauchte, vou alten Familien¬
geschichten. Er war außerdem ein guter Menschenkenner, und Adas Charakter gefiel
ihm trotz mancher Eigentümlichkeiten.

Sie sind ein merkwürdig gleichgiltiges Wesen, sagte er einmal zu ihr. Ihr
Enthusiasmus, Ihre plötzliche Nächstenliebe sind nur Ausflüsse von Stimmungen,
und im ganzen empfinden Sie wenig!

Sie sah ihn erstaunt und belustigt an.

Also ganz empfindungslos? Ich weiß doch nicht — sie wurde nachdenklich.
Aber von Stimmungen hänge ich allerdings ab und hätte in dieser Beziehung gut
ins Mittelalter gepaßt. Heute könnte ich mich im Vollgefühl meiner Sünde halbtot
geißeln, und morgen wüßte ich nicht wohin mit meiner Lebensfreude und Lebenslust!

Lebensfreude! Der Graf machte ein verdrießliches Gesicht. Das Wort macht
Zahnschmerzen!

Besuchen Sie Amelie Zehleneck! riet die Baronin. Dann werden Sie viel¬
leicht etwas besser gestimmt! Sie ist schon sehr böse auf mich, weil sie meint, daß
ich Sie vou einem Besuch bei ihr zurückhielte!

Der Graf wurde noch grämlicher.

Mit Amelie mag ich nichts zu thun haben, sagte er. Sie hat viele Ahnen
und ist vom ältesten Adel, aber sie weiß uicht, was adliche Gesinnung ist. Ich bin
zwar selbst niemals viel wert gewesen, aber bei Amelie ärgere ich mich doch.

Aber sie war doch Ihre erste Liebe, platzte Ada heraus.

Eben deswegen, sagte Rössing gelassen. Wenn man merkt, daß man in seiner
goldnen Jugend einen so niederträchtig schlechten Geschmack gehabt hat, dann ärgert
man sich. Wäre Amelie vor zwanzig Jahren gestorben, dann würde sie in meinem
Herzen mit einem kleinen Heiligenschein weiter leben. Es ist ungeschickt von ihr,
daß sie nicht tot ist, denn sie ist eine wandelnde Enttäuschung für mich. Vor etwa
zehn Jahren, als ich sie wiedersah, habe ich dies empfunden. Da trafen wir uns
auf irgend einem Hoffest. Sie war sehr geschminkt, kokettirte nach allen Seiten,
und als sie mich sah, that sie einen Schrei, der gefühlvoll klingen sollte. Nachher
sagte jemand, sie wäre beinahe ohnmächtig geworden, weil sie ihre erste Liebe wieder
gesehen hätte. Das war ich; und ich schämte mich schon damals dieser ersten Liebe!

Die Baronin hatte ihrem Besuch nachdenklich zugehört. In den Romanen
wird die erste Liebe immer gepriesen, sagte sie jetzt halb verlegen. Denn es kam
ihr so vor, als würde sie sich auch nicht freuen, ihrer ersten Liebe wieder zu be¬
gegnen.

Man darf sie ebeu niemals wiedersehen! versicherte Rössing im Weggehen,
und obgleich Ada ihn einen gefühllosen Menschen schalt, so war sie doch seiner
Meinung.

Sie ahnte nicht, daß das stille Leben der kleinen Stadt doch noch eine Über¬
raschung für sie zu Tage fördern sollte. Diese war das Plötzliche Auftauche»
Herrn Friedrich Nenmnnus, desselben Herrn, - der sie einmal im Dunkeln geküßt
hatte. Der Baron brachte ihn eines Tages nach Hanse. Er war der neue Be¬
sitzer des schönen alten Gutes Fresenhagen, der an den Stammtisch der Weinstube


Grenzboten I 1836 02
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[0497] Die erste Liebe und sie oft besuchte. Er war ein mittelgroßer Herr mit kurzgeschornen, eisgrauen Haaren und einem Nnnbvogelgcsicht, ans dem dunkle, unruhige Augen blickten. Seine Art zu sprechen war uicht immer angenehm, da er sich über viele Menschen, besonders über die Frauen lustig machte und gern kleine boshafte Geschichten von ihnen erzählte. Aber er fühlte sich doch oft einsam, und da er die Baronin von früher her kannte, so plauderte er gern mit ihr: von seinem Hanse, das er sich ebeu gekauft hatte, von seinem Sohne, der viel Geld brauchte, vou alten Familien¬ geschichten. Er war außerdem ein guter Menschenkenner, und Adas Charakter gefiel ihm trotz mancher Eigentümlichkeiten. Sie sind ein merkwürdig gleichgiltiges Wesen, sagte er einmal zu ihr. Ihr Enthusiasmus, Ihre plötzliche Nächstenliebe sind nur Ausflüsse von Stimmungen, und im ganzen empfinden Sie wenig! Sie sah ihn erstaunt und belustigt an. Also ganz empfindungslos? Ich weiß doch nicht — sie wurde nachdenklich. Aber von Stimmungen hänge ich allerdings ab und hätte in dieser Beziehung gut ins Mittelalter gepaßt. Heute könnte ich mich im Vollgefühl meiner Sünde halbtot geißeln, und morgen wüßte ich nicht wohin mit meiner Lebensfreude und Lebenslust! Lebensfreude! Der Graf machte ein verdrießliches Gesicht. Das Wort macht Zahnschmerzen! Besuchen Sie Amelie Zehleneck! riet die Baronin. Dann werden Sie viel¬ leicht etwas besser gestimmt! Sie ist schon sehr böse auf mich, weil sie meint, daß ich Sie vou einem Besuch bei ihr zurückhielte! Der Graf wurde noch grämlicher. Mit Amelie mag ich nichts zu thun haben, sagte er. Sie hat viele Ahnen und ist vom ältesten Adel, aber sie weiß uicht, was adliche Gesinnung ist. Ich bin zwar selbst niemals viel wert gewesen, aber bei Amelie ärgere ich mich doch. Aber sie war doch Ihre erste Liebe, platzte Ada heraus. Eben deswegen, sagte Rössing gelassen. Wenn man merkt, daß man in seiner goldnen Jugend einen so niederträchtig schlechten Geschmack gehabt hat, dann ärgert man sich. Wäre Amelie vor zwanzig Jahren gestorben, dann würde sie in meinem Herzen mit einem kleinen Heiligenschein weiter leben. Es ist ungeschickt von ihr, daß sie nicht tot ist, denn sie ist eine wandelnde Enttäuschung für mich. Vor etwa zehn Jahren, als ich sie wiedersah, habe ich dies empfunden. Da trafen wir uns auf irgend einem Hoffest. Sie war sehr geschminkt, kokettirte nach allen Seiten, und als sie mich sah, that sie einen Schrei, der gefühlvoll klingen sollte. Nachher sagte jemand, sie wäre beinahe ohnmächtig geworden, weil sie ihre erste Liebe wieder gesehen hätte. Das war ich; und ich schämte mich schon damals dieser ersten Liebe! Die Baronin hatte ihrem Besuch nachdenklich zugehört. In den Romanen wird die erste Liebe immer gepriesen, sagte sie jetzt halb verlegen. Denn es kam ihr so vor, als würde sie sich auch nicht freuen, ihrer ersten Liebe wieder zu be¬ gegnen. Man darf sie ebeu niemals wiedersehen! versicherte Rössing im Weggehen, und obgleich Ada ihn einen gefühllosen Menschen schalt, so war sie doch seiner Meinung. Sie ahnte nicht, daß das stille Leben der kleinen Stadt doch noch eine Über¬ raschung für sie zu Tage fördern sollte. Diese war das Plötzliche Auftauche» Herrn Friedrich Nenmnnus, desselben Herrn, - der sie einmal im Dunkeln geküßt hatte. Der Baron brachte ihn eines Tages nach Hanse. Er war der neue Be¬ sitzer des schönen alten Gutes Fresenhagen, der an den Stammtisch der Weinstube Grenzboten I 1836 02

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/497>, abgerufen am 25.11.2024.