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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Sudermanns neueste Dramen

die Familie durchbringen hilft. Sie allein ist eine innerlich wahre, warme,
einfache Natur geblieben, an der die Dressur zur Männerjagd um jeden
Preis noch nichts verdorben hat, deren unbewußte reine Neigung sich
dem neuen Verlobten der ältern Schwester, dem armen, von seinem Vater
schwer mißhandelten Max Winkelmann zuwendet, Sie ist es. die von allen
als Vertraute mißbraucht wird, bis sie gegen den Schluß hin alle Schranken
der heuchlerischen Rücksicht durchbricht, nur um von dem Manne, den sie liebt,
und in dem sie eine erste tapfere Regung männlichen Selbstgefühls erweckt,
nicht in falschem Lichte gesehen zu werden- Sie siegt damit selbst über das
dickfellige Geldprotzentum des alten Winkelmann und steht am Schlüsse als die
"Msi Verlobte des jungen Winkelmann da, obwohl sie vor der Hand zu ihren
Schmettcrlingsfächern zurückgeschickt wird. Als Fragezeichen bleiben übrig: ob
Herr Max Winkelmann wirklich so viel Mut dem grimmigen Alten gegenüber
behaupten wird, um für sich und Rosi auch nur ein Endchen stillen Glückes
dabei herauszuschlagen, was aus der Frau Steuerinspektor und ihren ältern
Töchtern werden wird, denen Papa Winkelmann gar nicht geneigt scheint, eine
Pension zu zahlen, wie sich Herr Richard Keßler weiterhin zu Frau Elfe stellen
will, lauter Fragen, auf die keiner, der Sudermanns Komödie aufmerksam
auch zwischen den Zeilen liest, eine Antwort geben kann. Gewiß bleibt nur,
daß Frau Hergentheim in ihren letzten pathetischen Ansprachen Herrn Winkel¬
mann als den Vertreter der heuchlerisch tugendhaften Welt betrachtet, wozu der
Alte wahrhaftig nicht das Zeug hat, und daß sie dieser Welt mit einer Art
von Recht gegenübergestellt wird.

Viel höher steht, viel tiefer in die Wirklichkeit hinein führt uns das
Schauspiel "Das Glück im Winkel." Das Hauptmotiv des Stücks hat eine
Art Verwandtschaft mit einer der schönsten Episoden in Dickens bestem Roman
"David Copperfield." Kenner brauchen wir nur an die Ehe der jugendlich
schönen Annie mit dem wackern Philologen und Institutsdirektor in Canterbury
Doktor strong zu erinnern, deren Eheglück durch die Werbung eines herzlosen,
unehrenhaften Vetters, des Mr. Jack Maldon, und durch den Schatten des
Verdachts, der auf Annie ruht, schwer gefährdet wird, bis eine offne
ergreifende Aussprache zwischen den beiden Gatten Glück und Vertraue" wieder¬
herstellt. Wir mutmaßen nicht etwa, daß Silbermann das Motiv seines
Schauspiels aus Dickens entlehnt und entsprechend variirt habe. Das Leben
ist so unermeßlich reich und groß, daß es jedem Dichter, der offne Augen hat,
Handlungen und Gestalten zuführen kann, ohne daß er litterarische Anleihen
zu machen braucht, und ohne daß er die überlieferten Motive kümmerlich hin-
und herdrehen muß, um eine bisher unbeleuchtete Seite auszuspüren. Aber
wir werden unwillkürlich an die poetische Verwertung und die edle Lösung des
Motivs bei Dickens erinnert, wenn wir die Bedenken mustern, die gegen die
Schlußwendung von Sudermanns "Glück im Winkel" erhoben worden sind.
Mrs. Annie strong liebt ihren alternden Gemahl und dankt es ihm vor allein,


Sudermanns neueste Dramen

die Familie durchbringen hilft. Sie allein ist eine innerlich wahre, warme,
einfache Natur geblieben, an der die Dressur zur Männerjagd um jeden
Preis noch nichts verdorben hat, deren unbewußte reine Neigung sich
dem neuen Verlobten der ältern Schwester, dem armen, von seinem Vater
schwer mißhandelten Max Winkelmann zuwendet, Sie ist es. die von allen
als Vertraute mißbraucht wird, bis sie gegen den Schluß hin alle Schranken
der heuchlerischen Rücksicht durchbricht, nur um von dem Manne, den sie liebt,
und in dem sie eine erste tapfere Regung männlichen Selbstgefühls erweckt,
nicht in falschem Lichte gesehen zu werden- Sie siegt damit selbst über das
dickfellige Geldprotzentum des alten Winkelmann und steht am Schlüsse als die
«Msi Verlobte des jungen Winkelmann da, obwohl sie vor der Hand zu ihren
Schmettcrlingsfächern zurückgeschickt wird. Als Fragezeichen bleiben übrig: ob
Herr Max Winkelmann wirklich so viel Mut dem grimmigen Alten gegenüber
behaupten wird, um für sich und Rosi auch nur ein Endchen stillen Glückes
dabei herauszuschlagen, was aus der Frau Steuerinspektor und ihren ältern
Töchtern werden wird, denen Papa Winkelmann gar nicht geneigt scheint, eine
Pension zu zahlen, wie sich Herr Richard Keßler weiterhin zu Frau Elfe stellen
will, lauter Fragen, auf die keiner, der Sudermanns Komödie aufmerksam
auch zwischen den Zeilen liest, eine Antwort geben kann. Gewiß bleibt nur,
daß Frau Hergentheim in ihren letzten pathetischen Ansprachen Herrn Winkel¬
mann als den Vertreter der heuchlerisch tugendhaften Welt betrachtet, wozu der
Alte wahrhaftig nicht das Zeug hat, und daß sie dieser Welt mit einer Art
von Recht gegenübergestellt wird.

Viel höher steht, viel tiefer in die Wirklichkeit hinein führt uns das
Schauspiel „Das Glück im Winkel." Das Hauptmotiv des Stücks hat eine
Art Verwandtschaft mit einer der schönsten Episoden in Dickens bestem Roman
„David Copperfield." Kenner brauchen wir nur an die Ehe der jugendlich
schönen Annie mit dem wackern Philologen und Institutsdirektor in Canterbury
Doktor strong zu erinnern, deren Eheglück durch die Werbung eines herzlosen,
unehrenhaften Vetters, des Mr. Jack Maldon, und durch den Schatten des
Verdachts, der auf Annie ruht, schwer gefährdet wird, bis eine offne
ergreifende Aussprache zwischen den beiden Gatten Glück und Vertraue» wieder¬
herstellt. Wir mutmaßen nicht etwa, daß Silbermann das Motiv seines
Schauspiels aus Dickens entlehnt und entsprechend variirt habe. Das Leben
ist so unermeßlich reich und groß, daß es jedem Dichter, der offne Augen hat,
Handlungen und Gestalten zuführen kann, ohne daß er litterarische Anleihen
zu machen braucht, und ohne daß er die überlieferten Motive kümmerlich hin-
und herdrehen muß, um eine bisher unbeleuchtete Seite auszuspüren. Aber
wir werden unwillkürlich an die poetische Verwertung und die edle Lösung des
Motivs bei Dickens erinnert, wenn wir die Bedenken mustern, die gegen die
Schlußwendung von Sudermanns „Glück im Winkel" erhoben worden sind.
Mrs. Annie strong liebt ihren alternden Gemahl und dankt es ihm vor allein,


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[0048] Sudermanns neueste Dramen die Familie durchbringen hilft. Sie allein ist eine innerlich wahre, warme, einfache Natur geblieben, an der die Dressur zur Männerjagd um jeden Preis noch nichts verdorben hat, deren unbewußte reine Neigung sich dem neuen Verlobten der ältern Schwester, dem armen, von seinem Vater schwer mißhandelten Max Winkelmann zuwendet, Sie ist es. die von allen als Vertraute mißbraucht wird, bis sie gegen den Schluß hin alle Schranken der heuchlerischen Rücksicht durchbricht, nur um von dem Manne, den sie liebt, und in dem sie eine erste tapfere Regung männlichen Selbstgefühls erweckt, nicht in falschem Lichte gesehen zu werden- Sie siegt damit selbst über das dickfellige Geldprotzentum des alten Winkelmann und steht am Schlüsse als die «Msi Verlobte des jungen Winkelmann da, obwohl sie vor der Hand zu ihren Schmettcrlingsfächern zurückgeschickt wird. Als Fragezeichen bleiben übrig: ob Herr Max Winkelmann wirklich so viel Mut dem grimmigen Alten gegenüber behaupten wird, um für sich und Rosi auch nur ein Endchen stillen Glückes dabei herauszuschlagen, was aus der Frau Steuerinspektor und ihren ältern Töchtern werden wird, denen Papa Winkelmann gar nicht geneigt scheint, eine Pension zu zahlen, wie sich Herr Richard Keßler weiterhin zu Frau Elfe stellen will, lauter Fragen, auf die keiner, der Sudermanns Komödie aufmerksam auch zwischen den Zeilen liest, eine Antwort geben kann. Gewiß bleibt nur, daß Frau Hergentheim in ihren letzten pathetischen Ansprachen Herrn Winkel¬ mann als den Vertreter der heuchlerisch tugendhaften Welt betrachtet, wozu der Alte wahrhaftig nicht das Zeug hat, und daß sie dieser Welt mit einer Art von Recht gegenübergestellt wird. Viel höher steht, viel tiefer in die Wirklichkeit hinein führt uns das Schauspiel „Das Glück im Winkel." Das Hauptmotiv des Stücks hat eine Art Verwandtschaft mit einer der schönsten Episoden in Dickens bestem Roman „David Copperfield." Kenner brauchen wir nur an die Ehe der jugendlich schönen Annie mit dem wackern Philologen und Institutsdirektor in Canterbury Doktor strong zu erinnern, deren Eheglück durch die Werbung eines herzlosen, unehrenhaften Vetters, des Mr. Jack Maldon, und durch den Schatten des Verdachts, der auf Annie ruht, schwer gefährdet wird, bis eine offne ergreifende Aussprache zwischen den beiden Gatten Glück und Vertraue» wieder¬ herstellt. Wir mutmaßen nicht etwa, daß Silbermann das Motiv seines Schauspiels aus Dickens entlehnt und entsprechend variirt habe. Das Leben ist so unermeßlich reich und groß, daß es jedem Dichter, der offne Augen hat, Handlungen und Gestalten zuführen kann, ohne daß er litterarische Anleihen zu machen braucht, und ohne daß er die überlieferten Motive kümmerlich hin- und herdrehen muß, um eine bisher unbeleuchtete Seite auszuspüren. Aber wir werden unwillkürlich an die poetische Verwertung und die edle Lösung des Motivs bei Dickens erinnert, wenn wir die Bedenken mustern, die gegen die Schlußwendung von Sudermanns „Glück im Winkel" erhoben worden sind. Mrs. Annie strong liebt ihren alternden Gemahl und dankt es ihm vor allein,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/48>, abgerufen am 01.09.2024.