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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Die Homerische Frage

Szenen hat er ihnen entlehnt, wie gelehrte Untersuchung festzustellen noch im¬
stande gewesen ist. Und so verfuhren auch die frommen Liederdichter des fünf¬
zehnten und sechzehnten Jahrhunderts, die sich selbst nicht scheuten, bekannte
Volkslieder durch Änderung weniger Worte und Beibehaltung der Melodie
in geistliche umzuwandeln.") Ebenso ist, um nur dies eine Beispiel noch zu
erwähnen, Goethes "Heidenröslein" ans einem alten Volksliede, zum Teil
unter wörtlicher Benutzung, entstanden. Niemand aber zweifelt daran, daß
dieses Gedicht trotzdem Goethes volles Eigentum ist.

In den zuletzt angeführten Fällen können wir die "Quellen," aus denen
der Dichter geschöpft hat, noch nachweisen. Bei Homer ist das unmöglich;
dennoch berechtigt uns nichts, zu glauben, daß er anders verfahren sei. Das
Maß seiner Abhängigkeit von seinen Vorgängern wird sich, da uns deren Dich¬
tungen bis auf den Namen selbst verloren sind, nie nachweisen lassen; ich
muß die Versuche der Neuern, dies durch eine scharfsinnige Analyse der Ge¬
dichte oder sorgfältige Beobachtung des Sprachgebrauchs oder der Eigentümlich¬
keiten im Versbau zu erreichen, für verfehlt halten. Die Analyse der Gedichte
geht nur von Forschungen des Verstandes aus und trägt der Phantasie des
Dichters zu wenig Rechnung.

Ist nun die angespannte hundertjährige Arbeit auf diesem Gebiete der
Forschung vergeblich gewesen, weil wir die Ergebnisse selbst der vorsichtigsten
Gelehrten ablehnen müssen? Nein, so steht es doch nicht. Alle menschliche
Erkenntnis geht nie in ganz gerader Linie vor sich. Irrungen und Umwege
liegen in der menschlichen Natur begründet, und der Streit ist, wie schon ein
alter Philosoph erkannt hat, der Vater wie von allem andern, so auch von
jeder wahren Erkenntnis. Die homerische Frage ist nur den Weg aller großen
Streitfragen, nicht bloß der wissenschaftlichen, sondern auch der religiösen und
politischen gegangen. Der entschiedne Angriff auf die blinde Bewunderung,
die Homer in der letzten Hälfte des vorigen Jahrhunderts genoß, hat freilich
vorübergehend dahin geführt, daß er bei nicht wenigen geradezu in Verachtung
geriet, daß jeder angehende Forscher auf diesem Gebiete sich nach dem Beispiel
berühmter Meister durch scharfen Tadel dieses oder jenes Teiles der Gedichte
einen Namen zu machen suchte. Aber der Angriff auf den Dichter hat auch
die Verteidigung geweckt, und nach manchen verunglückten Versuchen sind wir
zu einer gerechten Würdigung seines Schaffens und seiner Kunst gelangt.

Das Wunder, daß am Anfange der für uns erreichbaren griechischen
Litteratur ein vollendetes Kunstwerk steht, hat durch die Forschung der letzten
hundert Jahre seine ausreichende Erklärung gefunden. Homer steht eben nicht



So wurde z. B. aus dem Volkslied-: "Innsbruck, ich muß dich lassen, Ich fahr
dahin mein Straßen, In fremde Land dahin usw." das geistliche: "O Welt, ich muß dich
lassen, Ich fabr dahin mein Straßen Ins ewig Baterland." Vergl. meine Schrift: Die Be¬
deutung der Wiederholung, S. 1S9, wo ich mehr dergleichen Beispiele angeführt habe.
Die Homerische Frage

Szenen hat er ihnen entlehnt, wie gelehrte Untersuchung festzustellen noch im¬
stande gewesen ist. Und so verfuhren auch die frommen Liederdichter des fünf¬
zehnten und sechzehnten Jahrhunderts, die sich selbst nicht scheuten, bekannte
Volkslieder durch Änderung weniger Worte und Beibehaltung der Melodie
in geistliche umzuwandeln.") Ebenso ist, um nur dies eine Beispiel noch zu
erwähnen, Goethes „Heidenröslein" ans einem alten Volksliede, zum Teil
unter wörtlicher Benutzung, entstanden. Niemand aber zweifelt daran, daß
dieses Gedicht trotzdem Goethes volles Eigentum ist.

In den zuletzt angeführten Fällen können wir die „Quellen," aus denen
der Dichter geschöpft hat, noch nachweisen. Bei Homer ist das unmöglich;
dennoch berechtigt uns nichts, zu glauben, daß er anders verfahren sei. Das
Maß seiner Abhängigkeit von seinen Vorgängern wird sich, da uns deren Dich¬
tungen bis auf den Namen selbst verloren sind, nie nachweisen lassen; ich
muß die Versuche der Neuern, dies durch eine scharfsinnige Analyse der Ge¬
dichte oder sorgfältige Beobachtung des Sprachgebrauchs oder der Eigentümlich¬
keiten im Versbau zu erreichen, für verfehlt halten. Die Analyse der Gedichte
geht nur von Forschungen des Verstandes aus und trägt der Phantasie des
Dichters zu wenig Rechnung.

Ist nun die angespannte hundertjährige Arbeit auf diesem Gebiete der
Forschung vergeblich gewesen, weil wir die Ergebnisse selbst der vorsichtigsten
Gelehrten ablehnen müssen? Nein, so steht es doch nicht. Alle menschliche
Erkenntnis geht nie in ganz gerader Linie vor sich. Irrungen und Umwege
liegen in der menschlichen Natur begründet, und der Streit ist, wie schon ein
alter Philosoph erkannt hat, der Vater wie von allem andern, so auch von
jeder wahren Erkenntnis. Die homerische Frage ist nur den Weg aller großen
Streitfragen, nicht bloß der wissenschaftlichen, sondern auch der religiösen und
politischen gegangen. Der entschiedne Angriff auf die blinde Bewunderung,
die Homer in der letzten Hälfte des vorigen Jahrhunderts genoß, hat freilich
vorübergehend dahin geführt, daß er bei nicht wenigen geradezu in Verachtung
geriet, daß jeder angehende Forscher auf diesem Gebiete sich nach dem Beispiel
berühmter Meister durch scharfen Tadel dieses oder jenes Teiles der Gedichte
einen Namen zu machen suchte. Aber der Angriff auf den Dichter hat auch
die Verteidigung geweckt, und nach manchen verunglückten Versuchen sind wir
zu einer gerechten Würdigung seines Schaffens und seiner Kunst gelangt.

Das Wunder, daß am Anfange der für uns erreichbaren griechischen
Litteratur ein vollendetes Kunstwerk steht, hat durch die Forschung der letzten
hundert Jahre seine ausreichende Erklärung gefunden. Homer steht eben nicht



So wurde z. B. aus dem Volkslied-: „Innsbruck, ich muß dich lassen, Ich fahr
dahin mein Straßen, In fremde Land dahin usw." das geistliche: „O Welt, ich muß dich
lassen, Ich fabr dahin mein Straßen Ins ewig Baterland." Vergl. meine Schrift: Die Be¬
deutung der Wiederholung, S. 1S9, wo ich mehr dergleichen Beispiele angeführt habe.
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[0468] Die Homerische Frage Szenen hat er ihnen entlehnt, wie gelehrte Untersuchung festzustellen noch im¬ stande gewesen ist. Und so verfuhren auch die frommen Liederdichter des fünf¬ zehnten und sechzehnten Jahrhunderts, die sich selbst nicht scheuten, bekannte Volkslieder durch Änderung weniger Worte und Beibehaltung der Melodie in geistliche umzuwandeln.") Ebenso ist, um nur dies eine Beispiel noch zu erwähnen, Goethes „Heidenröslein" ans einem alten Volksliede, zum Teil unter wörtlicher Benutzung, entstanden. Niemand aber zweifelt daran, daß dieses Gedicht trotzdem Goethes volles Eigentum ist. In den zuletzt angeführten Fällen können wir die „Quellen," aus denen der Dichter geschöpft hat, noch nachweisen. Bei Homer ist das unmöglich; dennoch berechtigt uns nichts, zu glauben, daß er anders verfahren sei. Das Maß seiner Abhängigkeit von seinen Vorgängern wird sich, da uns deren Dich¬ tungen bis auf den Namen selbst verloren sind, nie nachweisen lassen; ich muß die Versuche der Neuern, dies durch eine scharfsinnige Analyse der Ge¬ dichte oder sorgfältige Beobachtung des Sprachgebrauchs oder der Eigentümlich¬ keiten im Versbau zu erreichen, für verfehlt halten. Die Analyse der Gedichte geht nur von Forschungen des Verstandes aus und trägt der Phantasie des Dichters zu wenig Rechnung. Ist nun die angespannte hundertjährige Arbeit auf diesem Gebiete der Forschung vergeblich gewesen, weil wir die Ergebnisse selbst der vorsichtigsten Gelehrten ablehnen müssen? Nein, so steht es doch nicht. Alle menschliche Erkenntnis geht nie in ganz gerader Linie vor sich. Irrungen und Umwege liegen in der menschlichen Natur begründet, und der Streit ist, wie schon ein alter Philosoph erkannt hat, der Vater wie von allem andern, so auch von jeder wahren Erkenntnis. Die homerische Frage ist nur den Weg aller großen Streitfragen, nicht bloß der wissenschaftlichen, sondern auch der religiösen und politischen gegangen. Der entschiedne Angriff auf die blinde Bewunderung, die Homer in der letzten Hälfte des vorigen Jahrhunderts genoß, hat freilich vorübergehend dahin geführt, daß er bei nicht wenigen geradezu in Verachtung geriet, daß jeder angehende Forscher auf diesem Gebiete sich nach dem Beispiel berühmter Meister durch scharfen Tadel dieses oder jenes Teiles der Gedichte einen Namen zu machen suchte. Aber der Angriff auf den Dichter hat auch die Verteidigung geweckt, und nach manchen verunglückten Versuchen sind wir zu einer gerechten Würdigung seines Schaffens und seiner Kunst gelangt. Das Wunder, daß am Anfange der für uns erreichbaren griechischen Litteratur ein vollendetes Kunstwerk steht, hat durch die Forschung der letzten hundert Jahre seine ausreichende Erklärung gefunden. Homer steht eben nicht So wurde z. B. aus dem Volkslied-: „Innsbruck, ich muß dich lassen, Ich fahr dahin mein Straßen, In fremde Land dahin usw." das geistliche: „O Welt, ich muß dich lassen, Ich fabr dahin mein Straßen Ins ewig Baterland." Vergl. meine Schrift: Die Be¬ deutung der Wiederholung, S. 1S9, wo ich mehr dergleichen Beispiele angeführt habe.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/468>, abgerufen am 01.09.2024.