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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Die Homerische Frage

Ist aber deshalb Ilias und Odyssee in ihrer jetzigen Gestalt das Er¬
zeugnis des "dichtenden Volksgeistes," wie es noch in letzter Zeit Erhardt
(Die Entstehung der homerischen Gedichte, Leipzig, 1894) genauer auszuführen
unternommen hat, oder das Werk eines "stümperhaften Redaktors" oder "Flick-
Poeten," der aus den verschiedensten größern oder kleinern Lappen ein buntes
Kleid von häßlichem Ansehen zusammengeschnitten und so grob genäht hat, daß
überall die Nähte noch sichtbar sind, ja zum Teil aus den Flecken noch ein
volles prächtiges Gewand hergestellt werden kann? Ich sage nein, weil ich in
der eigentümlichen Gestaltung des Stoffes das Wirken eines großen Dichters
zu verspüren glaube. Wer der entgegengesetzten Ansicht ist -- und es sind
deren heute nicht wenige --, bedenkt nicht, daß das Material zu einem Ge¬
bäude noch nicht das Gebäude selbst ist, daß die Farben noch nicht das Ge¬
mälde selbst sind, daß es, um das Gebäude, um das Gemälde herzustellen, einer
schöpferischen That bedarf. Die drei größten griechischen Tragiker, Nschhlos,
Sophokles und Euripides, haben denselben, schon lange vorher im Epos be¬
handelten Stoff zum Gegenstand ihrer großartigen Tragödien gemacht, und
doch wie verschieden ist, obwohl sie dieselbe bekannte Sage behandelten, des
Aschylos Orestie (oder richtiger nur seine Choephoren) von des Sophokles und
Euripides Elektra! Wer würde nicht jede dieser Dichtungen als das eigenste
Werk ihrer Dichter gelten lassen? Oder, um ein uns näher liegendes Beispiel
zu wühlen, wie verschiedenartig ist, obwohl der geschichtliche Stoff derselbe ist,
die Behandlung der Jungfrau von Orleans bei Shakespeare (in Heinrich IV,
T. I), bei Voltaire (La Pucelle) und bei Schiller! Jede dieser Dichtungen
trägt durchaus das Gepräge ihres Schöpfers, ist sein eigenstes Werk. Was
hindert uns, anzunehmen, daß Homer genau ebenso der überlieferten Sage,
die bereits in bestimmter Form die Thaten der Helden vor Troja und ihre
Leiden auf der Rückkehr sang, gegenüberstand, daß er ihr seinen Geist ein¬
gehaucht und Werke geschaffen hat, die alle, die vor ihm und nach ihm den¬
selben Stoff behandelten, vollständig verdunkelt haben, wie es auch bei Schillers
Jungfrau von Orleans gegenüber den Dichtungen seiner Vorgänger der Fall ist?

Freilich kommt für Homer noch etwas hinzu: er hat nicht den Sagenstoff,
sondern auch Sprach- und Versgut seiner Vorgänger in reichlichsten Maße
benutzt. Das beweist nicht nur das Eigentümliche der Sprache (die Mischung
der Dialekte) und das Formelhafte im Ausdruck, sondern auch der kunstvolle
Bau des Verses, der diesen Wohllaut, diese Geschmeidigkeit erst nach langer
Kunstübung erreichen konnte. Aber auch dieser Umstand schmälert seinen Ruhm
mir wenig, macht vielmehr sein Schaffen nur begreiflicher, da er nun nicht
mehr in einsamer, unnahbarer Höhe wandelt, wie kritiklose Bewunderung lange
geglaubt hat, sondern andern Dichtern in der Art seines Schaffens menschlich
uühertritt. Denn ganz wie er, verfuhr Shakespeare mit dem "herrenlosen
Gute" dramatischer Dichtung, das er vorfand. Unzählige Verse, ja ganze


Die Homerische Frage

Ist aber deshalb Ilias und Odyssee in ihrer jetzigen Gestalt das Er¬
zeugnis des „dichtenden Volksgeistes," wie es noch in letzter Zeit Erhardt
(Die Entstehung der homerischen Gedichte, Leipzig, 1894) genauer auszuführen
unternommen hat, oder das Werk eines „stümperhaften Redaktors" oder „Flick-
Poeten," der aus den verschiedensten größern oder kleinern Lappen ein buntes
Kleid von häßlichem Ansehen zusammengeschnitten und so grob genäht hat, daß
überall die Nähte noch sichtbar sind, ja zum Teil aus den Flecken noch ein
volles prächtiges Gewand hergestellt werden kann? Ich sage nein, weil ich in
der eigentümlichen Gestaltung des Stoffes das Wirken eines großen Dichters
zu verspüren glaube. Wer der entgegengesetzten Ansicht ist — und es sind
deren heute nicht wenige —, bedenkt nicht, daß das Material zu einem Ge¬
bäude noch nicht das Gebäude selbst ist, daß die Farben noch nicht das Ge¬
mälde selbst sind, daß es, um das Gebäude, um das Gemälde herzustellen, einer
schöpferischen That bedarf. Die drei größten griechischen Tragiker, Nschhlos,
Sophokles und Euripides, haben denselben, schon lange vorher im Epos be¬
handelten Stoff zum Gegenstand ihrer großartigen Tragödien gemacht, und
doch wie verschieden ist, obwohl sie dieselbe bekannte Sage behandelten, des
Aschylos Orestie (oder richtiger nur seine Choephoren) von des Sophokles und
Euripides Elektra! Wer würde nicht jede dieser Dichtungen als das eigenste
Werk ihrer Dichter gelten lassen? Oder, um ein uns näher liegendes Beispiel
zu wühlen, wie verschiedenartig ist, obwohl der geschichtliche Stoff derselbe ist,
die Behandlung der Jungfrau von Orleans bei Shakespeare (in Heinrich IV,
T. I), bei Voltaire (La Pucelle) und bei Schiller! Jede dieser Dichtungen
trägt durchaus das Gepräge ihres Schöpfers, ist sein eigenstes Werk. Was
hindert uns, anzunehmen, daß Homer genau ebenso der überlieferten Sage,
die bereits in bestimmter Form die Thaten der Helden vor Troja und ihre
Leiden auf der Rückkehr sang, gegenüberstand, daß er ihr seinen Geist ein¬
gehaucht und Werke geschaffen hat, die alle, die vor ihm und nach ihm den¬
selben Stoff behandelten, vollständig verdunkelt haben, wie es auch bei Schillers
Jungfrau von Orleans gegenüber den Dichtungen seiner Vorgänger der Fall ist?

Freilich kommt für Homer noch etwas hinzu: er hat nicht den Sagenstoff,
sondern auch Sprach- und Versgut seiner Vorgänger in reichlichsten Maße
benutzt. Das beweist nicht nur das Eigentümliche der Sprache (die Mischung
der Dialekte) und das Formelhafte im Ausdruck, sondern auch der kunstvolle
Bau des Verses, der diesen Wohllaut, diese Geschmeidigkeit erst nach langer
Kunstübung erreichen konnte. Aber auch dieser Umstand schmälert seinen Ruhm
mir wenig, macht vielmehr sein Schaffen nur begreiflicher, da er nun nicht
mehr in einsamer, unnahbarer Höhe wandelt, wie kritiklose Bewunderung lange
geglaubt hat, sondern andern Dichtern in der Art seines Schaffens menschlich
uühertritt. Denn ganz wie er, verfuhr Shakespeare mit dem „herrenlosen
Gute" dramatischer Dichtung, das er vorfand. Unzählige Verse, ja ganze


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[0467] Die Homerische Frage Ist aber deshalb Ilias und Odyssee in ihrer jetzigen Gestalt das Er¬ zeugnis des „dichtenden Volksgeistes," wie es noch in letzter Zeit Erhardt (Die Entstehung der homerischen Gedichte, Leipzig, 1894) genauer auszuführen unternommen hat, oder das Werk eines „stümperhaften Redaktors" oder „Flick- Poeten," der aus den verschiedensten größern oder kleinern Lappen ein buntes Kleid von häßlichem Ansehen zusammengeschnitten und so grob genäht hat, daß überall die Nähte noch sichtbar sind, ja zum Teil aus den Flecken noch ein volles prächtiges Gewand hergestellt werden kann? Ich sage nein, weil ich in der eigentümlichen Gestaltung des Stoffes das Wirken eines großen Dichters zu verspüren glaube. Wer der entgegengesetzten Ansicht ist — und es sind deren heute nicht wenige —, bedenkt nicht, daß das Material zu einem Ge¬ bäude noch nicht das Gebäude selbst ist, daß die Farben noch nicht das Ge¬ mälde selbst sind, daß es, um das Gebäude, um das Gemälde herzustellen, einer schöpferischen That bedarf. Die drei größten griechischen Tragiker, Nschhlos, Sophokles und Euripides, haben denselben, schon lange vorher im Epos be¬ handelten Stoff zum Gegenstand ihrer großartigen Tragödien gemacht, und doch wie verschieden ist, obwohl sie dieselbe bekannte Sage behandelten, des Aschylos Orestie (oder richtiger nur seine Choephoren) von des Sophokles und Euripides Elektra! Wer würde nicht jede dieser Dichtungen als das eigenste Werk ihrer Dichter gelten lassen? Oder, um ein uns näher liegendes Beispiel zu wühlen, wie verschiedenartig ist, obwohl der geschichtliche Stoff derselbe ist, die Behandlung der Jungfrau von Orleans bei Shakespeare (in Heinrich IV, T. I), bei Voltaire (La Pucelle) und bei Schiller! Jede dieser Dichtungen trägt durchaus das Gepräge ihres Schöpfers, ist sein eigenstes Werk. Was hindert uns, anzunehmen, daß Homer genau ebenso der überlieferten Sage, die bereits in bestimmter Form die Thaten der Helden vor Troja und ihre Leiden auf der Rückkehr sang, gegenüberstand, daß er ihr seinen Geist ein¬ gehaucht und Werke geschaffen hat, die alle, die vor ihm und nach ihm den¬ selben Stoff behandelten, vollständig verdunkelt haben, wie es auch bei Schillers Jungfrau von Orleans gegenüber den Dichtungen seiner Vorgänger der Fall ist? Freilich kommt für Homer noch etwas hinzu: er hat nicht den Sagenstoff, sondern auch Sprach- und Versgut seiner Vorgänger in reichlichsten Maße benutzt. Das beweist nicht nur das Eigentümliche der Sprache (die Mischung der Dialekte) und das Formelhafte im Ausdruck, sondern auch der kunstvolle Bau des Verses, der diesen Wohllaut, diese Geschmeidigkeit erst nach langer Kunstübung erreichen konnte. Aber auch dieser Umstand schmälert seinen Ruhm mir wenig, macht vielmehr sein Schaffen nur begreiflicher, da er nun nicht mehr in einsamer, unnahbarer Höhe wandelt, wie kritiklose Bewunderung lange geglaubt hat, sondern andern Dichtern in der Art seines Schaffens menschlich uühertritt. Denn ganz wie er, verfuhr Shakespeare mit dem „herrenlosen Gute" dramatischer Dichtung, das er vorfand. Unzählige Verse, ja ganze

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/467>, abgerufen am 01.09.2024.