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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Die Homerische Frage

ein Drittel sämtlicher Homerverse" (E. Schmidt, Parallelhomer, S. VIII). Und
auch diese Zahl wird noch bedeutend vermehrt durch vereinzelt vorkommende
Wiederholungen in andern Versen. In solchem Umfange finden sich jedenfalls
Wiederholungen von Versen oder Verstellen auch nicht annähernd bei irgend
einem uns bekannten Dichter. Auf sie hat deshalb auch in neuerer Zeit die
Kritik besonders ihr Augenmerk gerichtet. Da man fand, daß einzelne Wen¬
dungen, ja ganze Versreihen an der einen Stelle besser in den Zusammenhang
Päßler als an einer andern, so wurde der auf den ersten Blick überzeugende
Grundsatz aufgestellt, daß sie nur an der ersten Stelle ursprünglich gestanden
hatten, an der zweiten oder dritten aber mehr oder weniger geschickte Nach¬
ahmung sein müßten. Damit war aber ein Mittel gefunden, nicht nur "echtes"
von "unechtem" zu unterscheiden, sondern auch das Alter der einzelnen Teile
von Ilias und Odyssee wenigstens relativ zu bestimmen, und von diesem Mittel
ist reichlich Gebrauch gemacht worden.

Man mußte jedoch mißtrauisch über seinen Wert werden, wenn man sah,
daß es zu Widersprüchen in der Auffassung führte, daß die einen eine Stelle
für schön und echt hielten, die andre gerade als Erzeugnis "elenden Nach¬
ahmerstils" ansahen, und umgekehrt. Deshalb habe ich die ganze Frage ein¬
gehend untersucht (a. a. O.) und bin zu dem Ergebnis gekommen, das bisher
uuwiderlegt geblieben ist, daß diese Wiederholungen allein kein hinreichendes
Mittel bieten, das Alter einzelner Teile der homerischen Gedichte zu bestimmen,
da, von andern Gründen abgesehen, sich selbst in den besten Teilen der home¬
rischen Gedichte, in solchen, die die Kritik für die ältesten erklärt hat, sehr zahl¬
reiche wiederholte Verse finden, die zum Teil hier weniger passen als an andern
Stellen, und umgekehrt, daß in dem allgemein als ganz spät angesehenen vier¬
undzwanzigsten Gesänge der Odyssee noch immer Szenen vorkommen, die hier
angemessener sind als in frühern Gefangen, vor allein aber, daß die Wieder¬
holungen so ziemlich in gleichem Verhältnis in ältern und jüngern Teilen An¬
wendung finden.

Wie ist diese überraschende Thatsache zu erklären? Man könnte annehmen,
daß der Dichter, wie wir es von neuern Dichtern bestimmt wissen, einzelne
spätere Teile früher gedichtet habe als die. die ihnen der Handlung nach vor¬
ausgehen. Aber dazu stimmen dann wieder nicht andre Szenen oder Verse,
da sie hier schlechter passen als an der andern Stelle. So ist eine andre
Erklärung vorzuziehen, die uns zugleich einen Blick thun läßt in die Dich¬
tungsweise Homers und zu einer richtigern Wertschätzung seiner Kunst führt.

Die Sprache Homers ist wie keine andre formelhaft. Das geht soweit,
daß in einzelnen Verbindungen die Sprache erstarrt oder versteinert genannt
werden kann, d. h. gewisse Ausdrücke sind vielleicht schon vom Dichter nicht
mehr verstanden, sicher nicht mehr lebhaft empfunden worden. Es gehören
dahin vor allem die stehenden Beiwörter, die sich immer um derselben Stelle


Grenzboten I 1896 S8
Die Homerische Frage

ein Drittel sämtlicher Homerverse" (E. Schmidt, Parallelhomer, S. VIII). Und
auch diese Zahl wird noch bedeutend vermehrt durch vereinzelt vorkommende
Wiederholungen in andern Versen. In solchem Umfange finden sich jedenfalls
Wiederholungen von Versen oder Verstellen auch nicht annähernd bei irgend
einem uns bekannten Dichter. Auf sie hat deshalb auch in neuerer Zeit die
Kritik besonders ihr Augenmerk gerichtet. Da man fand, daß einzelne Wen¬
dungen, ja ganze Versreihen an der einen Stelle besser in den Zusammenhang
Päßler als an einer andern, so wurde der auf den ersten Blick überzeugende
Grundsatz aufgestellt, daß sie nur an der ersten Stelle ursprünglich gestanden
hatten, an der zweiten oder dritten aber mehr oder weniger geschickte Nach¬
ahmung sein müßten. Damit war aber ein Mittel gefunden, nicht nur „echtes"
von „unechtem" zu unterscheiden, sondern auch das Alter der einzelnen Teile
von Ilias und Odyssee wenigstens relativ zu bestimmen, und von diesem Mittel
ist reichlich Gebrauch gemacht worden.

Man mußte jedoch mißtrauisch über seinen Wert werden, wenn man sah,
daß es zu Widersprüchen in der Auffassung führte, daß die einen eine Stelle
für schön und echt hielten, die andre gerade als Erzeugnis „elenden Nach¬
ahmerstils" ansahen, und umgekehrt. Deshalb habe ich die ganze Frage ein¬
gehend untersucht (a. a. O.) und bin zu dem Ergebnis gekommen, das bisher
uuwiderlegt geblieben ist, daß diese Wiederholungen allein kein hinreichendes
Mittel bieten, das Alter einzelner Teile der homerischen Gedichte zu bestimmen,
da, von andern Gründen abgesehen, sich selbst in den besten Teilen der home¬
rischen Gedichte, in solchen, die die Kritik für die ältesten erklärt hat, sehr zahl¬
reiche wiederholte Verse finden, die zum Teil hier weniger passen als an andern
Stellen, und umgekehrt, daß in dem allgemein als ganz spät angesehenen vier¬
undzwanzigsten Gesänge der Odyssee noch immer Szenen vorkommen, die hier
angemessener sind als in frühern Gefangen, vor allein aber, daß die Wieder¬
holungen so ziemlich in gleichem Verhältnis in ältern und jüngern Teilen An¬
wendung finden.

Wie ist diese überraschende Thatsache zu erklären? Man könnte annehmen,
daß der Dichter, wie wir es von neuern Dichtern bestimmt wissen, einzelne
spätere Teile früher gedichtet habe als die. die ihnen der Handlung nach vor¬
ausgehen. Aber dazu stimmen dann wieder nicht andre Szenen oder Verse,
da sie hier schlechter passen als an der andern Stelle. So ist eine andre
Erklärung vorzuziehen, die uns zugleich einen Blick thun läßt in die Dich¬
tungsweise Homers und zu einer richtigern Wertschätzung seiner Kunst führt.

Die Sprache Homers ist wie keine andre formelhaft. Das geht soweit,
daß in einzelnen Verbindungen die Sprache erstarrt oder versteinert genannt
werden kann, d. h. gewisse Ausdrücke sind vielleicht schon vom Dichter nicht
mehr verstanden, sicher nicht mehr lebhaft empfunden worden. Es gehören
dahin vor allem die stehenden Beiwörter, die sich immer um derselben Stelle


Grenzboten I 1896 S8
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[0465] Die Homerische Frage ein Drittel sämtlicher Homerverse" (E. Schmidt, Parallelhomer, S. VIII). Und auch diese Zahl wird noch bedeutend vermehrt durch vereinzelt vorkommende Wiederholungen in andern Versen. In solchem Umfange finden sich jedenfalls Wiederholungen von Versen oder Verstellen auch nicht annähernd bei irgend einem uns bekannten Dichter. Auf sie hat deshalb auch in neuerer Zeit die Kritik besonders ihr Augenmerk gerichtet. Da man fand, daß einzelne Wen¬ dungen, ja ganze Versreihen an der einen Stelle besser in den Zusammenhang Päßler als an einer andern, so wurde der auf den ersten Blick überzeugende Grundsatz aufgestellt, daß sie nur an der ersten Stelle ursprünglich gestanden hatten, an der zweiten oder dritten aber mehr oder weniger geschickte Nach¬ ahmung sein müßten. Damit war aber ein Mittel gefunden, nicht nur „echtes" von „unechtem" zu unterscheiden, sondern auch das Alter der einzelnen Teile von Ilias und Odyssee wenigstens relativ zu bestimmen, und von diesem Mittel ist reichlich Gebrauch gemacht worden. Man mußte jedoch mißtrauisch über seinen Wert werden, wenn man sah, daß es zu Widersprüchen in der Auffassung führte, daß die einen eine Stelle für schön und echt hielten, die andre gerade als Erzeugnis „elenden Nach¬ ahmerstils" ansahen, und umgekehrt. Deshalb habe ich die ganze Frage ein¬ gehend untersucht (a. a. O.) und bin zu dem Ergebnis gekommen, das bisher uuwiderlegt geblieben ist, daß diese Wiederholungen allein kein hinreichendes Mittel bieten, das Alter einzelner Teile der homerischen Gedichte zu bestimmen, da, von andern Gründen abgesehen, sich selbst in den besten Teilen der home¬ rischen Gedichte, in solchen, die die Kritik für die ältesten erklärt hat, sehr zahl¬ reiche wiederholte Verse finden, die zum Teil hier weniger passen als an andern Stellen, und umgekehrt, daß in dem allgemein als ganz spät angesehenen vier¬ undzwanzigsten Gesänge der Odyssee noch immer Szenen vorkommen, die hier angemessener sind als in frühern Gefangen, vor allein aber, daß die Wieder¬ holungen so ziemlich in gleichem Verhältnis in ältern und jüngern Teilen An¬ wendung finden. Wie ist diese überraschende Thatsache zu erklären? Man könnte annehmen, daß der Dichter, wie wir es von neuern Dichtern bestimmt wissen, einzelne spätere Teile früher gedichtet habe als die. die ihnen der Handlung nach vor¬ ausgehen. Aber dazu stimmen dann wieder nicht andre Szenen oder Verse, da sie hier schlechter passen als an der andern Stelle. So ist eine andre Erklärung vorzuziehen, die uns zugleich einen Blick thun läßt in die Dich¬ tungsweise Homers und zu einer richtigern Wertschätzung seiner Kunst führt. Die Sprache Homers ist wie keine andre formelhaft. Das geht soweit, daß in einzelnen Verbindungen die Sprache erstarrt oder versteinert genannt werden kann, d. h. gewisse Ausdrücke sind vielleicht schon vom Dichter nicht mehr verstanden, sicher nicht mehr lebhaft empfunden worden. Es gehören dahin vor allem die stehenden Beiwörter, die sich immer um derselben Stelle Grenzboten I 1896 S8

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/465>, abgerufen am 01.09.2024.