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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Dramaturgisches und Dramatisches

Vühring zuruft: "Was Sie eigentlich für eine Bocksphystoguomie haben,"
und der sich selbst mit den bocksbeinigen Satyrn vergleicht, in dieser "typischen"
Frauenwelt soviel Unheil anrichten kann!

Da zeigt uns gerade zur rechten Stunde eine kleine, anspruchslose Jugend¬
arbeit von Franz Nissel, was ein Drama ist: "Ein Wohlthäter, Schau¬
spiel in drei Akten," in Nissels dramatischen Werken (Dritte Folge, Stutt¬
gart, Cotta, 1896) von seiner Witwe herausgegeben. Lauter einfache Leute.
Ein Bauer, seine Tochter Marie, sein Knecht Andres, den er als Kind hilflos
an der Hecke gefunden und in sein Haus genommen hat. Die jungen Leute
sind einander gut, der wohlhabende Mann will den armen Burschen zum
Schwiegersohn. Aber diesen drückt der Gedanke, daß er dem Alten nicht nur
die Frau, sondern auch das Gut verdanken soll. Er geht trotzig davon und
kommt erst nach Jahren zurück, als der Alte, durch unverschuldetes Unglück
von Haus und Hof getrieben, sich durch die Hände seiner kränkelnden Tochter
ernähren lasten muß. Nun das Wiedersehen und gleich darauf ein einfacher,
alltäglicher Schluß: Andres und Marie. Aber wie ist das geschildert!
spannend, Teilnahme fordernd, und doch so schlicht, wie das Volk redet. Hier
hätte Avonianus auch zeigen können, was "Handlung" ist. Dabei ist das
Stück eine reizende Geschichte, die sich anch vortrefflich zum Lesen eignet.

"Ein dramatisches Gedicht in vier Aufzügen" nennt sich endlich Nabucv
von F. Fontana, deutsch von Bertha von Suttner (Dresden, Pierson,
1896). Fontana ist ein talentvoller, witziger, unruhiger und unbefriedigter
Norditaliener, halb Franzose von Neigung und als Journalist bei einem Teile
der Franzosen sehr beliebt. Geschrieben hat er so ziemlich über alles mögliche
und ist ein echter lin as siöolö-Mensch; mit nichts zufrieden, macht er überall
seine spöttischen Fragezeichen und ist immer noch geistreicher als seine Vor¬
gänger. Wo sie auf ihren Füßen gingen, versucht ers auf den Händen.
Das etwa ist der Charakter seines Feuilletons und einer Art von krauser
Satireudichtung, wodurch er seit lauger Zeit bekannt ist. Nun hat er auch
Dperntexte und Dramen geschrieben, und Ludwig Fulda, der uns dieses in
einem Vorwort mitteilt, lehrt uns zugleich, daß der Nabuco ohne Zweifel zu
seinen besten Arbeiten gehöre, sowohl wegen der schönen leidenschaftlichen
Sprache, als wegen des originellen "Wurfes." Wir dürfen uns also auf
etwas besondres gefaßt machen.

Die Fabel ist ziemlich einfach. Nabuco d. h. Nebukadnezar, umgeben von
einer Schar von Feldherren und Höflingen, die bis auf zwei oder drei weiter
keine Aufgabe zu haben scheinen, als daß sie uns durch ihre wunderlichen,
schwer auszusprechenden Namen einige Unbequemlichkeit bereiten -- Nabuco
kehrt von einem siegreichen Feldzuge nach Babylon zurück. Sein Übermut
kennt keine Grenzen mehr. Plötzlich aber fängt er an, auf allen Vieren zu
kriechen, winselt wie ein Hund, leckt seinen Unterthanen die Hand. Sie legen
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K>eil,,boten I 1896 55
Dramaturgisches und Dramatisches

Vühring zuruft: „Was Sie eigentlich für eine Bocksphystoguomie haben,"
und der sich selbst mit den bocksbeinigen Satyrn vergleicht, in dieser „typischen"
Frauenwelt soviel Unheil anrichten kann!

Da zeigt uns gerade zur rechten Stunde eine kleine, anspruchslose Jugend¬
arbeit von Franz Nissel, was ein Drama ist: „Ein Wohlthäter, Schau¬
spiel in drei Akten," in Nissels dramatischen Werken (Dritte Folge, Stutt¬
gart, Cotta, 1896) von seiner Witwe herausgegeben. Lauter einfache Leute.
Ein Bauer, seine Tochter Marie, sein Knecht Andres, den er als Kind hilflos
an der Hecke gefunden und in sein Haus genommen hat. Die jungen Leute
sind einander gut, der wohlhabende Mann will den armen Burschen zum
Schwiegersohn. Aber diesen drückt der Gedanke, daß er dem Alten nicht nur
die Frau, sondern auch das Gut verdanken soll. Er geht trotzig davon und
kommt erst nach Jahren zurück, als der Alte, durch unverschuldetes Unglück
von Haus und Hof getrieben, sich durch die Hände seiner kränkelnden Tochter
ernähren lasten muß. Nun das Wiedersehen und gleich darauf ein einfacher,
alltäglicher Schluß: Andres und Marie. Aber wie ist das geschildert!
spannend, Teilnahme fordernd, und doch so schlicht, wie das Volk redet. Hier
hätte Avonianus auch zeigen können, was „Handlung" ist. Dabei ist das
Stück eine reizende Geschichte, die sich anch vortrefflich zum Lesen eignet.

„Ein dramatisches Gedicht in vier Aufzügen" nennt sich endlich Nabucv
von F. Fontana, deutsch von Bertha von Suttner (Dresden, Pierson,
1896). Fontana ist ein talentvoller, witziger, unruhiger und unbefriedigter
Norditaliener, halb Franzose von Neigung und als Journalist bei einem Teile
der Franzosen sehr beliebt. Geschrieben hat er so ziemlich über alles mögliche
und ist ein echter lin as siöolö-Mensch; mit nichts zufrieden, macht er überall
seine spöttischen Fragezeichen und ist immer noch geistreicher als seine Vor¬
gänger. Wo sie auf ihren Füßen gingen, versucht ers auf den Händen.
Das etwa ist der Charakter seines Feuilletons und einer Art von krauser
Satireudichtung, wodurch er seit lauger Zeit bekannt ist. Nun hat er auch
Dperntexte und Dramen geschrieben, und Ludwig Fulda, der uns dieses in
einem Vorwort mitteilt, lehrt uns zugleich, daß der Nabuco ohne Zweifel zu
seinen besten Arbeiten gehöre, sowohl wegen der schönen leidenschaftlichen
Sprache, als wegen des originellen „Wurfes." Wir dürfen uns also auf
etwas besondres gefaßt machen.

Die Fabel ist ziemlich einfach. Nabuco d. h. Nebukadnezar, umgeben von
einer Schar von Feldherren und Höflingen, die bis auf zwei oder drei weiter
keine Aufgabe zu haben scheinen, als daß sie uns durch ihre wunderlichen,
schwer auszusprechenden Namen einige Unbequemlichkeit bereiten — Nabuco
kehrt von einem siegreichen Feldzuge nach Babylon zurück. Sein Übermut
kennt keine Grenzen mehr. Plötzlich aber fängt er an, auf allen Vieren zu
kriechen, winselt wie ein Hund, leckt seinen Unterthanen die Hand. Sie legen
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[0441] Dramaturgisches und Dramatisches Vühring zuruft: „Was Sie eigentlich für eine Bocksphystoguomie haben," und der sich selbst mit den bocksbeinigen Satyrn vergleicht, in dieser „typischen" Frauenwelt soviel Unheil anrichten kann! Da zeigt uns gerade zur rechten Stunde eine kleine, anspruchslose Jugend¬ arbeit von Franz Nissel, was ein Drama ist: „Ein Wohlthäter, Schau¬ spiel in drei Akten," in Nissels dramatischen Werken (Dritte Folge, Stutt¬ gart, Cotta, 1896) von seiner Witwe herausgegeben. Lauter einfache Leute. Ein Bauer, seine Tochter Marie, sein Knecht Andres, den er als Kind hilflos an der Hecke gefunden und in sein Haus genommen hat. Die jungen Leute sind einander gut, der wohlhabende Mann will den armen Burschen zum Schwiegersohn. Aber diesen drückt der Gedanke, daß er dem Alten nicht nur die Frau, sondern auch das Gut verdanken soll. Er geht trotzig davon und kommt erst nach Jahren zurück, als der Alte, durch unverschuldetes Unglück von Haus und Hof getrieben, sich durch die Hände seiner kränkelnden Tochter ernähren lasten muß. Nun das Wiedersehen und gleich darauf ein einfacher, alltäglicher Schluß: Andres und Marie. Aber wie ist das geschildert! spannend, Teilnahme fordernd, und doch so schlicht, wie das Volk redet. Hier hätte Avonianus auch zeigen können, was „Handlung" ist. Dabei ist das Stück eine reizende Geschichte, die sich anch vortrefflich zum Lesen eignet. „Ein dramatisches Gedicht in vier Aufzügen" nennt sich endlich Nabucv von F. Fontana, deutsch von Bertha von Suttner (Dresden, Pierson, 1896). Fontana ist ein talentvoller, witziger, unruhiger und unbefriedigter Norditaliener, halb Franzose von Neigung und als Journalist bei einem Teile der Franzosen sehr beliebt. Geschrieben hat er so ziemlich über alles mögliche und ist ein echter lin as siöolö-Mensch; mit nichts zufrieden, macht er überall seine spöttischen Fragezeichen und ist immer noch geistreicher als seine Vor¬ gänger. Wo sie auf ihren Füßen gingen, versucht ers auf den Händen. Das etwa ist der Charakter seines Feuilletons und einer Art von krauser Satireudichtung, wodurch er seit lauger Zeit bekannt ist. Nun hat er auch Dperntexte und Dramen geschrieben, und Ludwig Fulda, der uns dieses in einem Vorwort mitteilt, lehrt uns zugleich, daß der Nabuco ohne Zweifel zu seinen besten Arbeiten gehöre, sowohl wegen der schönen leidenschaftlichen Sprache, als wegen des originellen „Wurfes." Wir dürfen uns also auf etwas besondres gefaßt machen. Die Fabel ist ziemlich einfach. Nabuco d. h. Nebukadnezar, umgeben von einer Schar von Feldherren und Höflingen, die bis auf zwei oder drei weiter keine Aufgabe zu haben scheinen, als daß sie uns durch ihre wunderlichen, schwer auszusprechenden Namen einige Unbequemlichkeit bereiten — Nabuco kehrt von einem siegreichen Feldzuge nach Babylon zurück. Sein Übermut kennt keine Grenzen mehr. Plötzlich aber fängt er an, auf allen Vieren zu kriechen, winselt wie ein Hund, leckt seinen Unterthanen die Hand. Sie legen ' K>eil,,boten I 1896 55

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/441>, abgerufen am 01.09.2024.