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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Sudermanns neueste Dramen

Kreuzfeuer gegen die spätern Anläufe des Romanschriftstellers wie des Dra¬
matikers. Unumwunden wurde ausgesprochen, Sudermann gleite auf einer
schiefen Ebne reißend schnell abwärts und fordre eigentlich schon jetzt zum Ver¬
gleich seiner Gesellschaftsschilderung und seiner dramatischen Technik mit der
Lebenswiedergabe und der theatralischen "Mache" Paul Lindaus heraus.
Jedenfalls konnte sich der vielbesprochne und vielbeneidete Schriftsteller der
Thatsache getrosten, daß zwar die Kritiken gewisser litterarischer Organe scharf
wie das Messer der Guillotine sind, daß aber kein verständiger Mensch und
gesunder Ostpreuße seinen Kopf unter dieses Messer zu legen braucht.

Geradezu falsch und gänzlich sinnlos war bei alledem die mörderische Rück¬
Verweisung auf den Verfasser der "Maria und Magdalena" und der "Gräfin
Lea" nicht. Es giebt eine gewisse Einwirkung einer gewissen Berliner Luft
auf poetische Erfindung und poetische Gestaltung, die schon längst vor Lindau
weit höherstehenden Schriftstellern, wie Friedrich Spielhagen, verhängnisvoll
geworden isL Ein undefinirbares Etwas von gerade in Zeitungen und an
Stammtischen herrschender Anschauung, von gesellschaftlicher Sitte und Unsitte,
von modischer Schätzung gewisser Typen und modischer Geringschätzung andrer,
ein weitverbreitetes Rotwelsch, das für eine vorübergehende Zeit an die Stelle
lebendigen und unmittelbaren Seelenausdrucks tritt, bereitet der echten und un¬
mittelbaren poetischen Erfassung und Wiedergabe des Lebens spezifisch Berlinische
Hemmnisse. Natürlich war es noch ein Unterschied, ob dieses Berlinische
Etwas mit dem Glauben an den Fortschritt, einer immerhin ernst zu nehmenden
und in gewissem Sinne selbst idealen politischen Überzeugung und Selbsttäuschung
zusammenfiel, oder ob es einer spätern Periode, im Beginn der siebziger Jahre,
mit der Raffgier, der frivolen Genußgier und dem halb widrigen, halb lächerlichen
Dünkel der neuen Emporkömmlingsgesellschaft im Westend eins wurde. Kraft der
Zeitströmung und natürlich kraft allereigensten Zuges zu dem höchst vergnüg¬
lichen Leben und der vorurteilsloser Auffassung aller Zustände und Vorgänge in
der goldnen Gründerzeit spiegelte Lindau in seinen Dramen und Erzählungen
dies gewisse Etwas und hatte hinterdrein die Ehre, als der litterarische Haupt¬
vertreter der flachen Frivolität und der schnödesten Mammonanbetung ange¬
sehen und angegriffen zu werden. Vorausgesetzt, die erbarmungslosen Kritiker
Hermann Sudermanns hätten Recht mit ihrer Behauptung, daß auch dieser
Schriftsteller auf dem besten Wege sei, von dem protcischen und zweideutigen
Lebensgeiste nicht der Reichshauptstadt (wer wird glauben, daß das große
Berlin wirklich keinen andern Lebensgeist hätte als den, dessen Niederschläge
man allnächtlich in den Neichshallen und im Caso Bauer studiren kann), aber
gewisser lauter und lärmender Kreise Berlins abhängig zu werden, so würde
Sudermann noch immer Erkleckliches vor seinem Herrn Vorgänger voraus haben.
Andre Lebenskreise als die, die in den siebziger Jahren den Ton angaben und
zwar in verschwiegner Brust noch immer die Überzeugung hegen, daß sie weit
vortrefflicher wären als die Götter, denen aber nach außen hin allmählich bei


Sudermanns neueste Dramen

Kreuzfeuer gegen die spätern Anläufe des Romanschriftstellers wie des Dra¬
matikers. Unumwunden wurde ausgesprochen, Sudermann gleite auf einer
schiefen Ebne reißend schnell abwärts und fordre eigentlich schon jetzt zum Ver¬
gleich seiner Gesellschaftsschilderung und seiner dramatischen Technik mit der
Lebenswiedergabe und der theatralischen „Mache" Paul Lindaus heraus.
Jedenfalls konnte sich der vielbesprochne und vielbeneidete Schriftsteller der
Thatsache getrosten, daß zwar die Kritiken gewisser litterarischer Organe scharf
wie das Messer der Guillotine sind, daß aber kein verständiger Mensch und
gesunder Ostpreuße seinen Kopf unter dieses Messer zu legen braucht.

Geradezu falsch und gänzlich sinnlos war bei alledem die mörderische Rück¬
Verweisung auf den Verfasser der „Maria und Magdalena" und der „Gräfin
Lea" nicht. Es giebt eine gewisse Einwirkung einer gewissen Berliner Luft
auf poetische Erfindung und poetische Gestaltung, die schon längst vor Lindau
weit höherstehenden Schriftstellern, wie Friedrich Spielhagen, verhängnisvoll
geworden isL Ein undefinirbares Etwas von gerade in Zeitungen und an
Stammtischen herrschender Anschauung, von gesellschaftlicher Sitte und Unsitte,
von modischer Schätzung gewisser Typen und modischer Geringschätzung andrer,
ein weitverbreitetes Rotwelsch, das für eine vorübergehende Zeit an die Stelle
lebendigen und unmittelbaren Seelenausdrucks tritt, bereitet der echten und un¬
mittelbaren poetischen Erfassung und Wiedergabe des Lebens spezifisch Berlinische
Hemmnisse. Natürlich war es noch ein Unterschied, ob dieses Berlinische
Etwas mit dem Glauben an den Fortschritt, einer immerhin ernst zu nehmenden
und in gewissem Sinne selbst idealen politischen Überzeugung und Selbsttäuschung
zusammenfiel, oder ob es einer spätern Periode, im Beginn der siebziger Jahre,
mit der Raffgier, der frivolen Genußgier und dem halb widrigen, halb lächerlichen
Dünkel der neuen Emporkömmlingsgesellschaft im Westend eins wurde. Kraft der
Zeitströmung und natürlich kraft allereigensten Zuges zu dem höchst vergnüg¬
lichen Leben und der vorurteilsloser Auffassung aller Zustände und Vorgänge in
der goldnen Gründerzeit spiegelte Lindau in seinen Dramen und Erzählungen
dies gewisse Etwas und hatte hinterdrein die Ehre, als der litterarische Haupt¬
vertreter der flachen Frivolität und der schnödesten Mammonanbetung ange¬
sehen und angegriffen zu werden. Vorausgesetzt, die erbarmungslosen Kritiker
Hermann Sudermanns hätten Recht mit ihrer Behauptung, daß auch dieser
Schriftsteller auf dem besten Wege sei, von dem protcischen und zweideutigen
Lebensgeiste nicht der Reichshauptstadt (wer wird glauben, daß das große
Berlin wirklich keinen andern Lebensgeist hätte als den, dessen Niederschläge
man allnächtlich in den Neichshallen und im Caso Bauer studiren kann), aber
gewisser lauter und lärmender Kreise Berlins abhängig zu werden, so würde
Sudermann noch immer Erkleckliches vor seinem Herrn Vorgänger voraus haben.
Andre Lebenskreise als die, die in den siebziger Jahren den Ton angaben und
zwar in verschwiegner Brust noch immer die Überzeugung hegen, daß sie weit
vortrefflicher wären als die Götter, denen aber nach außen hin allmählich bei


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[0044] Sudermanns neueste Dramen Kreuzfeuer gegen die spätern Anläufe des Romanschriftstellers wie des Dra¬ matikers. Unumwunden wurde ausgesprochen, Sudermann gleite auf einer schiefen Ebne reißend schnell abwärts und fordre eigentlich schon jetzt zum Ver¬ gleich seiner Gesellschaftsschilderung und seiner dramatischen Technik mit der Lebenswiedergabe und der theatralischen „Mache" Paul Lindaus heraus. Jedenfalls konnte sich der vielbesprochne und vielbeneidete Schriftsteller der Thatsache getrosten, daß zwar die Kritiken gewisser litterarischer Organe scharf wie das Messer der Guillotine sind, daß aber kein verständiger Mensch und gesunder Ostpreuße seinen Kopf unter dieses Messer zu legen braucht. Geradezu falsch und gänzlich sinnlos war bei alledem die mörderische Rück¬ Verweisung auf den Verfasser der „Maria und Magdalena" und der „Gräfin Lea" nicht. Es giebt eine gewisse Einwirkung einer gewissen Berliner Luft auf poetische Erfindung und poetische Gestaltung, die schon längst vor Lindau weit höherstehenden Schriftstellern, wie Friedrich Spielhagen, verhängnisvoll geworden isL Ein undefinirbares Etwas von gerade in Zeitungen und an Stammtischen herrschender Anschauung, von gesellschaftlicher Sitte und Unsitte, von modischer Schätzung gewisser Typen und modischer Geringschätzung andrer, ein weitverbreitetes Rotwelsch, das für eine vorübergehende Zeit an die Stelle lebendigen und unmittelbaren Seelenausdrucks tritt, bereitet der echten und un¬ mittelbaren poetischen Erfassung und Wiedergabe des Lebens spezifisch Berlinische Hemmnisse. Natürlich war es noch ein Unterschied, ob dieses Berlinische Etwas mit dem Glauben an den Fortschritt, einer immerhin ernst zu nehmenden und in gewissem Sinne selbst idealen politischen Überzeugung und Selbsttäuschung zusammenfiel, oder ob es einer spätern Periode, im Beginn der siebziger Jahre, mit der Raffgier, der frivolen Genußgier und dem halb widrigen, halb lächerlichen Dünkel der neuen Emporkömmlingsgesellschaft im Westend eins wurde. Kraft der Zeitströmung und natürlich kraft allereigensten Zuges zu dem höchst vergnüg¬ lichen Leben und der vorurteilsloser Auffassung aller Zustände und Vorgänge in der goldnen Gründerzeit spiegelte Lindau in seinen Dramen und Erzählungen dies gewisse Etwas und hatte hinterdrein die Ehre, als der litterarische Haupt¬ vertreter der flachen Frivolität und der schnödesten Mammonanbetung ange¬ sehen und angegriffen zu werden. Vorausgesetzt, die erbarmungslosen Kritiker Hermann Sudermanns hätten Recht mit ihrer Behauptung, daß auch dieser Schriftsteller auf dem besten Wege sei, von dem protcischen und zweideutigen Lebensgeiste nicht der Reichshauptstadt (wer wird glauben, daß das große Berlin wirklich keinen andern Lebensgeist hätte als den, dessen Niederschläge man allnächtlich in den Neichshallen und im Caso Bauer studiren kann), aber gewisser lauter und lärmender Kreise Berlins abhängig zu werden, so würde Sudermann noch immer Erkleckliches vor seinem Herrn Vorgänger voraus haben. Andre Lebenskreise als die, die in den siebziger Jahren den Ton angaben und zwar in verschwiegner Brust noch immer die Überzeugung hegen, daß sie weit vortrefflicher wären als die Götter, denen aber nach außen hin allmählich bei

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/44>, abgerufen am 01.09.2024.