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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Dramaturgisches und Dramatisches

schrieben sein für die Aufführung. Es soll Handlung haben, denn nur die
läßt sich darstellen, und nur sie interessirt. Nun zeigt er uns an einer großen
Reihe von Dramen, vom Hamlet bis zur "Familie Selicke," was "aktuell" ist,
und was nicht. Sein Führer ist Shakespeare (der vom Avon), und zwei längere
Aufsätze über die Handlung des Hamlet gehören zu den glänzendsten Abschnitten
des Buches, das alles in allem genommen eine wahre Wohlthat ist gegenüber
so manchem, was wir seit Freytags Technik des Dramas haben genießen
müssen.

Hat man dieses durch und durch lebensvolle Buch aus der Hand gelegt,
so kommt einem Shakespeares zweiter mittelalterlicher Dramen¬
cyklus von Dr. E. W. Siepers (Berlin. Reuther und Reinhard, 1896),
das nachgelassene Werk eines kürzlich verstorbnen ältern Gymnasiallehrers, der
sich mehrfach mit Shakespeare beschäftigt hat, allerdings vor wie ein erratischer
Findling, ein Zeugnis fleißiger Gedankenarbeit aus einem frühern Zeitalter.
Dieser Band von drittehalbhundert Seiten behandelt Richard II., den ersten
und zweiten Teil von Heinrich IV. und Heinrich V. An diesen vier Stücken
wird uns erstens der "Entwicklungsgang des Königtums" gezeigt, zweitens
der "Entwicklungsgang der Menschheit" und endlich drittens -- auf über
hundert Seiten-- Shakespeare "als Interpret der Johanneischen Logosidee."
Wir geben die Abteilungen wörtlich, damit man die Ausdrücke nicht für will¬
kürlich untergeschoben halte. Der Herausgeber des Buches, ein Privatdozent
des Englischen an einer deutschen Universität, sagt uns nach einigen abfälligen
Bemerkungen über A. W. Schlegel und Gervinus, die wissenschaftliche Er¬
kenntnis Shakespeares hätten in Deutschland in der Zeit vor 1840 nur drei
Männer gefördert: Goethe, Herder und Solger. Darauf heißt es: "Siepers
ist einer der bedeutendsten derer, die diese Richtung fortsetzten." Wir müssen
ihm für diese Behauptung die Verantwortung überlassen.

Auch Kuno Fischers Streifzüge wider die Unkritik (Heidelberg,
Winter, 1896) beschäftigen sich mit dem Drama, aber dem deutschen. In den
drei ersten Aufsätzen über Lessings Nathan und Faust wendet sich Fischer
gegen zwei Gegner, die kaum irgend jemand kennt, und die die Ehre littera¬
rischer Befehdung auch nicht verdienen. Lassen wir sie darum namenlos. Die
Arbeit eines Dritten -- "Ein Faustkommeutator" (der vierte Aufsatz) --
bringt uns aber gar in den Bereich des hellen Blödsinns. Was sür eine
Überwindung muß es doch den ästhetischen Kritiker von anerkannten Geschmack
gekostet haben, diese früher in Zeitungen und Zeitschriften erschienenen vier
Aufsätze zum zweitenmale zum Druck zu gebe"! War es wirklich nötig? Selbst
in Bezug auf Nummer fünf und sechs, über Goethes Iphigenie und die histo¬
rische Persönlichkeit des Antonio im Tasso -- gegen Düntzer -- dürfte man
die Frage thun. Denn Kuno Fischer hätte auch ohne diese Wiederholung
seiner Ausführungen Recht behalten, weil er von vornherein Recht hatte.


Dramaturgisches und Dramatisches

schrieben sein für die Aufführung. Es soll Handlung haben, denn nur die
läßt sich darstellen, und nur sie interessirt. Nun zeigt er uns an einer großen
Reihe von Dramen, vom Hamlet bis zur „Familie Selicke," was „aktuell" ist,
und was nicht. Sein Führer ist Shakespeare (der vom Avon), und zwei längere
Aufsätze über die Handlung des Hamlet gehören zu den glänzendsten Abschnitten
des Buches, das alles in allem genommen eine wahre Wohlthat ist gegenüber
so manchem, was wir seit Freytags Technik des Dramas haben genießen
müssen.

Hat man dieses durch und durch lebensvolle Buch aus der Hand gelegt,
so kommt einem Shakespeares zweiter mittelalterlicher Dramen¬
cyklus von Dr. E. W. Siepers (Berlin. Reuther und Reinhard, 1896),
das nachgelassene Werk eines kürzlich verstorbnen ältern Gymnasiallehrers, der
sich mehrfach mit Shakespeare beschäftigt hat, allerdings vor wie ein erratischer
Findling, ein Zeugnis fleißiger Gedankenarbeit aus einem frühern Zeitalter.
Dieser Band von drittehalbhundert Seiten behandelt Richard II., den ersten
und zweiten Teil von Heinrich IV. und Heinrich V. An diesen vier Stücken
wird uns erstens der „Entwicklungsgang des Königtums" gezeigt, zweitens
der „Entwicklungsgang der Menschheit" und endlich drittens — auf über
hundert Seiten— Shakespeare „als Interpret der Johanneischen Logosidee."
Wir geben die Abteilungen wörtlich, damit man die Ausdrücke nicht für will¬
kürlich untergeschoben halte. Der Herausgeber des Buches, ein Privatdozent
des Englischen an einer deutschen Universität, sagt uns nach einigen abfälligen
Bemerkungen über A. W. Schlegel und Gervinus, die wissenschaftliche Er¬
kenntnis Shakespeares hätten in Deutschland in der Zeit vor 1840 nur drei
Männer gefördert: Goethe, Herder und Solger. Darauf heißt es: „Siepers
ist einer der bedeutendsten derer, die diese Richtung fortsetzten." Wir müssen
ihm für diese Behauptung die Verantwortung überlassen.

Auch Kuno Fischers Streifzüge wider die Unkritik (Heidelberg,
Winter, 1896) beschäftigen sich mit dem Drama, aber dem deutschen. In den
drei ersten Aufsätzen über Lessings Nathan und Faust wendet sich Fischer
gegen zwei Gegner, die kaum irgend jemand kennt, und die die Ehre littera¬
rischer Befehdung auch nicht verdienen. Lassen wir sie darum namenlos. Die
Arbeit eines Dritten — „Ein Faustkommeutator" (der vierte Aufsatz) —
bringt uns aber gar in den Bereich des hellen Blödsinns. Was sür eine
Überwindung muß es doch den ästhetischen Kritiker von anerkannten Geschmack
gekostet haben, diese früher in Zeitungen und Zeitschriften erschienenen vier
Aufsätze zum zweitenmale zum Druck zu gebe»! War es wirklich nötig? Selbst
in Bezug auf Nummer fünf und sechs, über Goethes Iphigenie und die histo¬
rische Persönlichkeit des Antonio im Tasso — gegen Düntzer — dürfte man
die Frage thun. Denn Kuno Fischer hätte auch ohne diese Wiederholung
seiner Ausführungen Recht behalten, weil er von vornherein Recht hatte.


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[0438] Dramaturgisches und Dramatisches schrieben sein für die Aufführung. Es soll Handlung haben, denn nur die läßt sich darstellen, und nur sie interessirt. Nun zeigt er uns an einer großen Reihe von Dramen, vom Hamlet bis zur „Familie Selicke," was „aktuell" ist, und was nicht. Sein Führer ist Shakespeare (der vom Avon), und zwei längere Aufsätze über die Handlung des Hamlet gehören zu den glänzendsten Abschnitten des Buches, das alles in allem genommen eine wahre Wohlthat ist gegenüber so manchem, was wir seit Freytags Technik des Dramas haben genießen müssen. Hat man dieses durch und durch lebensvolle Buch aus der Hand gelegt, so kommt einem Shakespeares zweiter mittelalterlicher Dramen¬ cyklus von Dr. E. W. Siepers (Berlin. Reuther und Reinhard, 1896), das nachgelassene Werk eines kürzlich verstorbnen ältern Gymnasiallehrers, der sich mehrfach mit Shakespeare beschäftigt hat, allerdings vor wie ein erratischer Findling, ein Zeugnis fleißiger Gedankenarbeit aus einem frühern Zeitalter. Dieser Band von drittehalbhundert Seiten behandelt Richard II., den ersten und zweiten Teil von Heinrich IV. und Heinrich V. An diesen vier Stücken wird uns erstens der „Entwicklungsgang des Königtums" gezeigt, zweitens der „Entwicklungsgang der Menschheit" und endlich drittens — auf über hundert Seiten— Shakespeare „als Interpret der Johanneischen Logosidee." Wir geben die Abteilungen wörtlich, damit man die Ausdrücke nicht für will¬ kürlich untergeschoben halte. Der Herausgeber des Buches, ein Privatdozent des Englischen an einer deutschen Universität, sagt uns nach einigen abfälligen Bemerkungen über A. W. Schlegel und Gervinus, die wissenschaftliche Er¬ kenntnis Shakespeares hätten in Deutschland in der Zeit vor 1840 nur drei Männer gefördert: Goethe, Herder und Solger. Darauf heißt es: „Siepers ist einer der bedeutendsten derer, die diese Richtung fortsetzten." Wir müssen ihm für diese Behauptung die Verantwortung überlassen. Auch Kuno Fischers Streifzüge wider die Unkritik (Heidelberg, Winter, 1896) beschäftigen sich mit dem Drama, aber dem deutschen. In den drei ersten Aufsätzen über Lessings Nathan und Faust wendet sich Fischer gegen zwei Gegner, die kaum irgend jemand kennt, und die die Ehre littera¬ rischer Befehdung auch nicht verdienen. Lassen wir sie darum namenlos. Die Arbeit eines Dritten — „Ein Faustkommeutator" (der vierte Aufsatz) — bringt uns aber gar in den Bereich des hellen Blödsinns. Was sür eine Überwindung muß es doch den ästhetischen Kritiker von anerkannten Geschmack gekostet haben, diese früher in Zeitungen und Zeitschriften erschienenen vier Aufsätze zum zweitenmale zum Druck zu gebe»! War es wirklich nötig? Selbst in Bezug auf Nummer fünf und sechs, über Goethes Iphigenie und die histo¬ rische Persönlichkeit des Antonio im Tasso — gegen Düntzer — dürfte man die Frage thun. Denn Kuno Fischer hätte auch ohne diese Wiederholung seiner Ausführungen Recht behalten, weil er von vornherein Recht hatte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/438>, abgerufen am 01.09.2024.