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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Die Homerische Frage

habe, nicht an. Ein solches verwerfendes Urteil würde nur dann berechtigt
sein, wenn sich ein "höherer Zweck" nicht nachweisen ließe. Dieser aber liegt
ganz offen da. Die Versuchung des Volks dient dem Dichter dazu, uns in
die Zeit, wo der Krieg spielt, und in die Stimmung der Griechen im zehnten
Jahre des Krieges zu versetzen, wie die spätern Reden einzelner Helden, des
Nestor, des Odysseus, auf den Anfang und das Ende des Krieges zugleich
hinweisen und der dritte Gesang, neben andern Aufklärungen, uns den Grund
und Gegenstand des Krieges vor Augen führt. Um dieses Zweckes willen
läßt der Dichter den Agamemnon etwas thun, was in Wirklichkeit kaum Mög¬
lich wäre; die Ermutigung, die Agamemnon dnrch den Traum erfährt, dient
notdürftig dazu, sein Thun einigermaßen begreiflich zu machen, wie in der
oben aus Schiller angeführten Stelle Elisabeths Eitelkeit, welche Leicester
anstachelt, um die Zusammenkunft der beiden Königinnen zu ermöglichen. Zu
genaueren Abwägen aber kommt erst beim Lesen der kritische Zweifler. Denn
"die Phantasie des Hörers wird so unablässig in Anspruch genommen -- erst
durch den Traum, dann durch die lärmende Volksversammlung, den Aufbruch
zur Heimkehr, das Dazwischentreten des Odysseus, die Bestrafung des Ther-
sites --, alle diese Bilder reihen sich so lebendig und ununterbrochen vor
unsern Augen an einander, daß wir zu kritischen Einwendungen zunächst gar
keine Zeit haben" (L. Erhardt, Die Entstehung der homerischen Gedichte
S. 2").

Dieses eine Beispiel mag hier genügen, um meine Auffassung gegenüber
der neuern Homerforschung, selbst Grimm gegenüber, der doch sonst so be¬
müht ist, die Einheit der homerischen Gedichte zu beweisen, anschaulich zu
machen/') Ich bin der Ansicht, daß nicht nur kleinere Versehen und Unacht¬
samkeiten, wie sie zu dem Urteile des Horciz führten: HuÄNÄoaus vomis clor-
initiit Loinörus, sondern auch schwerere Anstöße und Unebenheiten nicht gegen
die einheitliche Auffassung der Gedichte sprechen, wenn wir den Grund zu dem
Widerspruche in einer bestimmten Absicht des Dichters entdecken können. Denn
ähnliche Widersprüche finden wir auch in entschieden einheitlichen Werken selbst
hochbegabter Dichter. Dabei ist zu bedenken, daß wir durch nichts berechtigt
sind, in Ilias und Odyssee Werke wie aus einem Guß anzunehmen, bei denen
der Dichter von vornherein nach einem bestimmten Schema einen Tag nach dem
andern gearbeitet habe. Schillers Don Carlos, doch auch das Werk eines
Dichters, hat sich viele Umgestaltungen gefallen lassen müssen, Dante hat an
seiner Divina Commedia sein ganzes Leben gearbeitet, wie Goethe an seinem
Faust. Besonders bezeichnend aber ist in dieser Hinsicht das Geständnis Wie-



Wer sich für die Frage interessirt, findet eine Reihe ähnlicher Beispiele besprochen in
anfangs genannten Programm "Die Bedeutung der Widersprüche für die Homerische
-nage." a, O. bietet einige Fülle ähnlicher Erklärung.
Die Homerische Frage

habe, nicht an. Ein solches verwerfendes Urteil würde nur dann berechtigt
sein, wenn sich ein „höherer Zweck" nicht nachweisen ließe. Dieser aber liegt
ganz offen da. Die Versuchung des Volks dient dem Dichter dazu, uns in
die Zeit, wo der Krieg spielt, und in die Stimmung der Griechen im zehnten
Jahre des Krieges zu versetzen, wie die spätern Reden einzelner Helden, des
Nestor, des Odysseus, auf den Anfang und das Ende des Krieges zugleich
hinweisen und der dritte Gesang, neben andern Aufklärungen, uns den Grund
und Gegenstand des Krieges vor Augen führt. Um dieses Zweckes willen
läßt der Dichter den Agamemnon etwas thun, was in Wirklichkeit kaum Mög¬
lich wäre; die Ermutigung, die Agamemnon dnrch den Traum erfährt, dient
notdürftig dazu, sein Thun einigermaßen begreiflich zu machen, wie in der
oben aus Schiller angeführten Stelle Elisabeths Eitelkeit, welche Leicester
anstachelt, um die Zusammenkunft der beiden Königinnen zu ermöglichen. Zu
genaueren Abwägen aber kommt erst beim Lesen der kritische Zweifler. Denn
»die Phantasie des Hörers wird so unablässig in Anspruch genommen — erst
durch den Traum, dann durch die lärmende Volksversammlung, den Aufbruch
zur Heimkehr, das Dazwischentreten des Odysseus, die Bestrafung des Ther-
sites —, alle diese Bilder reihen sich so lebendig und ununterbrochen vor
unsern Augen an einander, daß wir zu kritischen Einwendungen zunächst gar
keine Zeit haben" (L. Erhardt, Die Entstehung der homerischen Gedichte
S. 2»).

Dieses eine Beispiel mag hier genügen, um meine Auffassung gegenüber
der neuern Homerforschung, selbst Grimm gegenüber, der doch sonst so be¬
müht ist, die Einheit der homerischen Gedichte zu beweisen, anschaulich zu
machen/') Ich bin der Ansicht, daß nicht nur kleinere Versehen und Unacht¬
samkeiten, wie sie zu dem Urteile des Horciz führten: HuÄNÄoaus vomis clor-
initiit Loinörus, sondern auch schwerere Anstöße und Unebenheiten nicht gegen
die einheitliche Auffassung der Gedichte sprechen, wenn wir den Grund zu dem
Widerspruche in einer bestimmten Absicht des Dichters entdecken können. Denn
ähnliche Widersprüche finden wir auch in entschieden einheitlichen Werken selbst
hochbegabter Dichter. Dabei ist zu bedenken, daß wir durch nichts berechtigt
sind, in Ilias und Odyssee Werke wie aus einem Guß anzunehmen, bei denen
der Dichter von vornherein nach einem bestimmten Schema einen Tag nach dem
andern gearbeitet habe. Schillers Don Carlos, doch auch das Werk eines
Dichters, hat sich viele Umgestaltungen gefallen lassen müssen, Dante hat an
seiner Divina Commedia sein ganzes Leben gearbeitet, wie Goethe an seinem
Faust. Besonders bezeichnend aber ist in dieser Hinsicht das Geständnis Wie-



Wer sich für die Frage interessirt, findet eine Reihe ähnlicher Beispiele besprochen in
anfangs genannten Programm „Die Bedeutung der Widersprüche für die Homerische
-nage." a, O. bietet einige Fülle ähnlicher Erklärung.
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[0435] Die Homerische Frage habe, nicht an. Ein solches verwerfendes Urteil würde nur dann berechtigt sein, wenn sich ein „höherer Zweck" nicht nachweisen ließe. Dieser aber liegt ganz offen da. Die Versuchung des Volks dient dem Dichter dazu, uns in die Zeit, wo der Krieg spielt, und in die Stimmung der Griechen im zehnten Jahre des Krieges zu versetzen, wie die spätern Reden einzelner Helden, des Nestor, des Odysseus, auf den Anfang und das Ende des Krieges zugleich hinweisen und der dritte Gesang, neben andern Aufklärungen, uns den Grund und Gegenstand des Krieges vor Augen führt. Um dieses Zweckes willen läßt der Dichter den Agamemnon etwas thun, was in Wirklichkeit kaum Mög¬ lich wäre; die Ermutigung, die Agamemnon dnrch den Traum erfährt, dient notdürftig dazu, sein Thun einigermaßen begreiflich zu machen, wie in der oben aus Schiller angeführten Stelle Elisabeths Eitelkeit, welche Leicester anstachelt, um die Zusammenkunft der beiden Königinnen zu ermöglichen. Zu genaueren Abwägen aber kommt erst beim Lesen der kritische Zweifler. Denn »die Phantasie des Hörers wird so unablässig in Anspruch genommen — erst durch den Traum, dann durch die lärmende Volksversammlung, den Aufbruch zur Heimkehr, das Dazwischentreten des Odysseus, die Bestrafung des Ther- sites —, alle diese Bilder reihen sich so lebendig und ununterbrochen vor unsern Augen an einander, daß wir zu kritischen Einwendungen zunächst gar keine Zeit haben" (L. Erhardt, Die Entstehung der homerischen Gedichte S. 2»). Dieses eine Beispiel mag hier genügen, um meine Auffassung gegenüber der neuern Homerforschung, selbst Grimm gegenüber, der doch sonst so be¬ müht ist, die Einheit der homerischen Gedichte zu beweisen, anschaulich zu machen/') Ich bin der Ansicht, daß nicht nur kleinere Versehen und Unacht¬ samkeiten, wie sie zu dem Urteile des Horciz führten: HuÄNÄoaus vomis clor- initiit Loinörus, sondern auch schwerere Anstöße und Unebenheiten nicht gegen die einheitliche Auffassung der Gedichte sprechen, wenn wir den Grund zu dem Widerspruche in einer bestimmten Absicht des Dichters entdecken können. Denn ähnliche Widersprüche finden wir auch in entschieden einheitlichen Werken selbst hochbegabter Dichter. Dabei ist zu bedenken, daß wir durch nichts berechtigt sind, in Ilias und Odyssee Werke wie aus einem Guß anzunehmen, bei denen der Dichter von vornherein nach einem bestimmten Schema einen Tag nach dem andern gearbeitet habe. Schillers Don Carlos, doch auch das Werk eines Dichters, hat sich viele Umgestaltungen gefallen lassen müssen, Dante hat an seiner Divina Commedia sein ganzes Leben gearbeitet, wie Goethe an seinem Faust. Besonders bezeichnend aber ist in dieser Hinsicht das Geständnis Wie- Wer sich für die Frage interessirt, findet eine Reihe ähnlicher Beispiele besprochen in anfangs genannten Programm „Die Bedeutung der Widersprüche für die Homerische -nage." a, O. bietet einige Fülle ähnlicher Erklärung.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/435>, abgerufen am 01.09.2024.