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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Die Homerische Frage

bestehen läßt und uns fast unbemerkt sowohl die Dauer, als den Anfang und
den Grund des Krieges angiebt.

' Das Mittel dazu, das natürlich leicht, wie alle ähnlichen, zu tadeln, aber
sehr schwer durch ein andres zu ersetzen sein dürfte, ist der Traum, den Zeus
dem Agamemnon schickt, um ihn zum Kampfe anzuspornen, wobei die im ersten
Gesänge geschilderte Lage vorausgesetzt wird. Es bedürfte wohl einer besondern
Ermutigung zum Kampfe für die Griechen, da sich ihr Hauptheld grollend
zurückgezogen hat. Man sollte nun freilich erwarten -- und das haben auch
alle reinen Verstandeskritiker gethan --, daß der so angespornte Agamemnon
die Griechen sofort zum Kampfe führen werde. Statt dessen beruft er die
Fürsten, teilt ihnen den Traum mit und erklärt ihnen ganz unerwartet, er
wolle die Menge dadurch versuchen, daß er sie zur Rückkehr in die Heimat
ausfordre. Und keiner der Fürsten macht ihn auf das Bedenkliche seines Planes
aufmerksam; es folgt vielmehr nur eine kurze Bemerkung Nestors über den
Traum selbst, dann die Volksversammlung, in der, wie vorauszusehen war,
der Vorschlag die entgegengesetzte Wirkung hat, die Agamemnon gehofft hat:
das Volk stürzt in hellen Haufen zu den Schiffen, um ins Vaterland zurück¬
zukehren. Da dies Verfahren Agamemnos ganz unbegreiflich, ja in Wirklich¬
keit unmöglich erscheint, so haben alle Kritiker, die die Stelle nur für sich be¬
trachten und nicht weiter sehen oder Auffallendes bei andern Dichtern zur
Erklärung heranziehen, hier eine "Störung des ursprünglichen Zusammen¬
hangs" angenommen. Leider ist auch Grimm, der doch so bewandert in der
Litteratur der verschiedensten Völker und Zeiten ist, in diesen Fehler verfallen.
Er glaubt, daß ursprünglich Odysseus dem Könige den Rat gegeben habe,
das Volk zu versuchen, um eine Bestätigung für den Traum des Zeus zu
haben. Wie ist es aber denkbar, daß der schlaueste aller Griechen einen so
thörichten Vorschlag thun sollte, dessen Folgen er doch voraussehen mußte,
und daß die andern Fürsten, vor allen Agamemnon, dem nicht entschieden wider¬
sprochen hätten?

Ich halte diese Lösung der Schwierigkeit für die unglücklichste, weil sie
auf etwas für die Handlung unwesentliches, einen bloßen Notbehelf, den Traum
Agamenmons, ein Gewicht legt, das ihm in keiner Weise zukommt. Der Dichter
geht vielmehr über die Absicht Agamenmons, das Volk zu versuchen, die ja
an sich unverständlich ist, in der Versammlung der Fürsten ganz kurz hinweg;
er läßt sie von andern nicht angreifen, weil sie nicht verteidigt werden kann --
ganz wie er in der Odyssee (7, 242 ff.) den Helden die Frage der Arete nach
seinem Namen übergehen läßt, ohne Gründe für sein Verschweigen anzugeben,
weil sich eben keine Gründe angeben lassen. Deshalb aber Homer sür einen
"Stümper" zu halten, wie es eine unbillige Verstandeskritik thut, die ein
Dichterwerk wie ein geschichtliches oder philosophisches Werk behandelt, geht
nach dem, was ich oben über das Verfahren unsrer größten Dichter gesagt


Die Homerische Frage

bestehen läßt und uns fast unbemerkt sowohl die Dauer, als den Anfang und
den Grund des Krieges angiebt.

' Das Mittel dazu, das natürlich leicht, wie alle ähnlichen, zu tadeln, aber
sehr schwer durch ein andres zu ersetzen sein dürfte, ist der Traum, den Zeus
dem Agamemnon schickt, um ihn zum Kampfe anzuspornen, wobei die im ersten
Gesänge geschilderte Lage vorausgesetzt wird. Es bedürfte wohl einer besondern
Ermutigung zum Kampfe für die Griechen, da sich ihr Hauptheld grollend
zurückgezogen hat. Man sollte nun freilich erwarten — und das haben auch
alle reinen Verstandeskritiker gethan —, daß der so angespornte Agamemnon
die Griechen sofort zum Kampfe führen werde. Statt dessen beruft er die
Fürsten, teilt ihnen den Traum mit und erklärt ihnen ganz unerwartet, er
wolle die Menge dadurch versuchen, daß er sie zur Rückkehr in die Heimat
ausfordre. Und keiner der Fürsten macht ihn auf das Bedenkliche seines Planes
aufmerksam; es folgt vielmehr nur eine kurze Bemerkung Nestors über den
Traum selbst, dann die Volksversammlung, in der, wie vorauszusehen war,
der Vorschlag die entgegengesetzte Wirkung hat, die Agamemnon gehofft hat:
das Volk stürzt in hellen Haufen zu den Schiffen, um ins Vaterland zurück¬
zukehren. Da dies Verfahren Agamemnos ganz unbegreiflich, ja in Wirklich¬
keit unmöglich erscheint, so haben alle Kritiker, die die Stelle nur für sich be¬
trachten und nicht weiter sehen oder Auffallendes bei andern Dichtern zur
Erklärung heranziehen, hier eine „Störung des ursprünglichen Zusammen¬
hangs" angenommen. Leider ist auch Grimm, der doch so bewandert in der
Litteratur der verschiedensten Völker und Zeiten ist, in diesen Fehler verfallen.
Er glaubt, daß ursprünglich Odysseus dem Könige den Rat gegeben habe,
das Volk zu versuchen, um eine Bestätigung für den Traum des Zeus zu
haben. Wie ist es aber denkbar, daß der schlaueste aller Griechen einen so
thörichten Vorschlag thun sollte, dessen Folgen er doch voraussehen mußte,
und daß die andern Fürsten, vor allen Agamemnon, dem nicht entschieden wider¬
sprochen hätten?

Ich halte diese Lösung der Schwierigkeit für die unglücklichste, weil sie
auf etwas für die Handlung unwesentliches, einen bloßen Notbehelf, den Traum
Agamenmons, ein Gewicht legt, das ihm in keiner Weise zukommt. Der Dichter
geht vielmehr über die Absicht Agamenmons, das Volk zu versuchen, die ja
an sich unverständlich ist, in der Versammlung der Fürsten ganz kurz hinweg;
er läßt sie von andern nicht angreifen, weil sie nicht verteidigt werden kann —
ganz wie er in der Odyssee (7, 242 ff.) den Helden die Frage der Arete nach
seinem Namen übergehen läßt, ohne Gründe für sein Verschweigen anzugeben,
weil sich eben keine Gründe angeben lassen. Deshalb aber Homer sür einen
„Stümper" zu halten, wie es eine unbillige Verstandeskritik thut, die ein
Dichterwerk wie ein geschichtliches oder philosophisches Werk behandelt, geht
nach dem, was ich oben über das Verfahren unsrer größten Dichter gesagt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/434>, abgerufen am 01.09.2024.