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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Die Homerische Frage

schichtliche Überlieferung oder auf die Vorzüge der Dichtung hinzuweisen und
zu thun, als wäre alles vortrefflich und untadlig, und wenn uns etwas nicht
so erscheint, sofort (wie Grimm und die meisten Verteidiger der Einheit) eine
Verderbnis des ursprünglich vortrefflichen Textes anzunehmen, sondern wenn
wir Fehler und Unebenheiten in der Darstellung finden, so müssen wir zu¬
nächst fragen: Weshalb ist der Dichter, der doch den Gang der Handlung sonst
so angemessen zu gestalten weiß, so verfahren, und was hat er mit diesem
offenbaren Fehler erreicht?

Diese Betrachtungsweise ist geboten für alle Dichter, nicht bloß für Homer.
So planvoll schaffende Dichter wie Lessing, Schiller und Goethe bieten zahl¬
reiche Beispiele auffallender, in Wirklichkeit ganz unmöglicher Szenen, von denen
ich eine Reihe in dem genannten Programm: "Die Bedeutung der Wider¬
sprüche usw." angeführt habe. Ich erinnere hier nur an das Gespräch der
beiden Königinnen in Schillers Maria Stuart (HI, 4), das der Dichter selbst
"eine moralisch unmögliche Situation" genannt hat, das auch nicht geschichtlich
ist, ja auch nach der ganzen Anlage der Handlung unerwartet kommt. Wenn
trotzdem Schiller gerade diese Unterredung in den Mittelpunkt der ganzen Hand¬
lung gestellt hat, so muß er dazu wichtige ästhetische Gründe gehabt haben,
die ihn über alle Schwierigkeiten hinwegsehen ließen,*) Daß diese Auffassung
richtig ist, bestätigt uns in willkommner Weise das eigne Gedächtnis Goethes
bei einem ähnlichen "Fehler" in seiner Dichtung. In einem Gespräche mit
Eckermann (am 5. Juli 1827) kommt die Unterredung auch auf die Helena im
Faust. Dabei erklärt Goethe: "Aber haben Sie bemerkt, der Chor fällt bei
dem Trauergesang ganz aus der Rolle; er ist früher durchgehends antik ge¬
halten oder verleugnet doch nie seine Mädchennatur, hier aber wird er mit
einemmal ernst und hoch reflektirend und spricht Dinge aus, woran er nie
gedacht hat und auch nie hat denken können." Eckermann antwortet, daß er
das wohl bemerkt habe, fügt aber hinzu: "Solche kleine Widersprüche können
bei einer dadurch erreichten höhern Schönheit nicht in Betracht kommen. Das
Lied mußte gesungen werden, und da kein andrer Chor gegenwärtig war, so
mußten es die Mädchen singen." Und Goethe erwidert lachend: "Mich soll
nur wundern, was die deutschen Kritiker dazu sagen werden. Den Franzosen
wird der Verstand im Wege sein, und sie werden nicht bedenken, daß die Phan¬
tasie ihre eignen Gesetze hat, denen der Verstand nicht beikommen kann und
soll." Ganz wie Goethe hier einen Unterschied macht zwischen den Anforderungen
des Verstandes und den Schöpfungen der Phantasie, so noch in den Gesprächen
vom 27. Januar 1827 und vom 2". Januar 1827 ("Diese intendirte Änderung
war eine Forderung des Verstandes, und ich wäre dadurch bald zu einem



*) Welche das sind, haben die Erklärer seiner Dramen, vor allem Bellermann, nach¬
gewiesen.
Die Homerische Frage

schichtliche Überlieferung oder auf die Vorzüge der Dichtung hinzuweisen und
zu thun, als wäre alles vortrefflich und untadlig, und wenn uns etwas nicht
so erscheint, sofort (wie Grimm und die meisten Verteidiger der Einheit) eine
Verderbnis des ursprünglich vortrefflichen Textes anzunehmen, sondern wenn
wir Fehler und Unebenheiten in der Darstellung finden, so müssen wir zu¬
nächst fragen: Weshalb ist der Dichter, der doch den Gang der Handlung sonst
so angemessen zu gestalten weiß, so verfahren, und was hat er mit diesem
offenbaren Fehler erreicht?

Diese Betrachtungsweise ist geboten für alle Dichter, nicht bloß für Homer.
So planvoll schaffende Dichter wie Lessing, Schiller und Goethe bieten zahl¬
reiche Beispiele auffallender, in Wirklichkeit ganz unmöglicher Szenen, von denen
ich eine Reihe in dem genannten Programm: „Die Bedeutung der Wider¬
sprüche usw." angeführt habe. Ich erinnere hier nur an das Gespräch der
beiden Königinnen in Schillers Maria Stuart (HI, 4), das der Dichter selbst
„eine moralisch unmögliche Situation" genannt hat, das auch nicht geschichtlich
ist, ja auch nach der ganzen Anlage der Handlung unerwartet kommt. Wenn
trotzdem Schiller gerade diese Unterredung in den Mittelpunkt der ganzen Hand¬
lung gestellt hat, so muß er dazu wichtige ästhetische Gründe gehabt haben,
die ihn über alle Schwierigkeiten hinwegsehen ließen,*) Daß diese Auffassung
richtig ist, bestätigt uns in willkommner Weise das eigne Gedächtnis Goethes
bei einem ähnlichen „Fehler" in seiner Dichtung. In einem Gespräche mit
Eckermann (am 5. Juli 1827) kommt die Unterredung auch auf die Helena im
Faust. Dabei erklärt Goethe: „Aber haben Sie bemerkt, der Chor fällt bei
dem Trauergesang ganz aus der Rolle; er ist früher durchgehends antik ge¬
halten oder verleugnet doch nie seine Mädchennatur, hier aber wird er mit
einemmal ernst und hoch reflektirend und spricht Dinge aus, woran er nie
gedacht hat und auch nie hat denken können." Eckermann antwortet, daß er
das wohl bemerkt habe, fügt aber hinzu: „Solche kleine Widersprüche können
bei einer dadurch erreichten höhern Schönheit nicht in Betracht kommen. Das
Lied mußte gesungen werden, und da kein andrer Chor gegenwärtig war, so
mußten es die Mädchen singen." Und Goethe erwidert lachend: „Mich soll
nur wundern, was die deutschen Kritiker dazu sagen werden. Den Franzosen
wird der Verstand im Wege sein, und sie werden nicht bedenken, daß die Phan¬
tasie ihre eignen Gesetze hat, denen der Verstand nicht beikommen kann und
soll." Ganz wie Goethe hier einen Unterschied macht zwischen den Anforderungen
des Verstandes und den Schöpfungen der Phantasie, so noch in den Gesprächen
vom 27. Januar 1827 und vom 2». Januar 1827 („Diese intendirte Änderung
war eine Forderung des Verstandes, und ich wäre dadurch bald zu einem



*) Welche das sind, haben die Erklärer seiner Dramen, vor allem Bellermann, nach¬
gewiesen.
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[0432] Die Homerische Frage schichtliche Überlieferung oder auf die Vorzüge der Dichtung hinzuweisen und zu thun, als wäre alles vortrefflich und untadlig, und wenn uns etwas nicht so erscheint, sofort (wie Grimm und die meisten Verteidiger der Einheit) eine Verderbnis des ursprünglich vortrefflichen Textes anzunehmen, sondern wenn wir Fehler und Unebenheiten in der Darstellung finden, so müssen wir zu¬ nächst fragen: Weshalb ist der Dichter, der doch den Gang der Handlung sonst so angemessen zu gestalten weiß, so verfahren, und was hat er mit diesem offenbaren Fehler erreicht? Diese Betrachtungsweise ist geboten für alle Dichter, nicht bloß für Homer. So planvoll schaffende Dichter wie Lessing, Schiller und Goethe bieten zahl¬ reiche Beispiele auffallender, in Wirklichkeit ganz unmöglicher Szenen, von denen ich eine Reihe in dem genannten Programm: „Die Bedeutung der Wider¬ sprüche usw." angeführt habe. Ich erinnere hier nur an das Gespräch der beiden Königinnen in Schillers Maria Stuart (HI, 4), das der Dichter selbst „eine moralisch unmögliche Situation" genannt hat, das auch nicht geschichtlich ist, ja auch nach der ganzen Anlage der Handlung unerwartet kommt. Wenn trotzdem Schiller gerade diese Unterredung in den Mittelpunkt der ganzen Hand¬ lung gestellt hat, so muß er dazu wichtige ästhetische Gründe gehabt haben, die ihn über alle Schwierigkeiten hinwegsehen ließen,*) Daß diese Auffassung richtig ist, bestätigt uns in willkommner Weise das eigne Gedächtnis Goethes bei einem ähnlichen „Fehler" in seiner Dichtung. In einem Gespräche mit Eckermann (am 5. Juli 1827) kommt die Unterredung auch auf die Helena im Faust. Dabei erklärt Goethe: „Aber haben Sie bemerkt, der Chor fällt bei dem Trauergesang ganz aus der Rolle; er ist früher durchgehends antik ge¬ halten oder verleugnet doch nie seine Mädchennatur, hier aber wird er mit einemmal ernst und hoch reflektirend und spricht Dinge aus, woran er nie gedacht hat und auch nie hat denken können." Eckermann antwortet, daß er das wohl bemerkt habe, fügt aber hinzu: „Solche kleine Widersprüche können bei einer dadurch erreichten höhern Schönheit nicht in Betracht kommen. Das Lied mußte gesungen werden, und da kein andrer Chor gegenwärtig war, so mußten es die Mädchen singen." Und Goethe erwidert lachend: „Mich soll nur wundern, was die deutschen Kritiker dazu sagen werden. Den Franzosen wird der Verstand im Wege sein, und sie werden nicht bedenken, daß die Phan¬ tasie ihre eignen Gesetze hat, denen der Verstand nicht beikommen kann und soll." Ganz wie Goethe hier einen Unterschied macht zwischen den Anforderungen des Verstandes und den Schöpfungen der Phantasie, so noch in den Gesprächen vom 27. Januar 1827 und vom 2». Januar 1827 („Diese intendirte Änderung war eine Forderung des Verstandes, und ich wäre dadurch bald zu einem *) Welche das sind, haben die Erklärer seiner Dramen, vor allem Bellermann, nach¬ gewiesen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/432>, abgerufen am 01.09.2024.