Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Homerische Frage

Vorzügen in der Darstellung Schattenseiten nicht fehlen,*) die den Genuß an
der Lektüre des Buches stören. Im ganzen aber muß anerkannt werden, daß
Grimm viel gethan hat, um Szenen, die die zersetzende Kritik als elende Er¬
zeugnisse vou Nachdichtern verworfen hat, richtig zu erklären und ihre Be¬
deutung für die ganze Dichtung ins rechte Licht zu setzen. So halt er, um
ein Beispiel zu geben, den ziemlich allgemein verworfnen zehnten Gesang der
Ilias (die Dolonie) für echt, weil er "Dinge" enthalte, "die dem Gedicht nicht
fehlen dürfen." Er soll ganz besonders der Charakteristik des Menelaos ge¬
widmet sein, von dem Grimm (II, 29 ff.) ein ganz eigentümliches Bild ent¬
wirft und dabei meint, daß der Dichter bei der Schilderung des Helden in
den vorangehenden Gesängen "schon die Verhültnisfe im Ange habe, die im
zehnten erst ihre ausreichende Begründung erhalten." Ähnlich schreibt er zum
siebzehnten Gesänge (II, 217): "Die, welche ein zufälliges Zusammenkommen
der Ilias aus allerlei aneinander sich reisenden Volksliedern für möglich
halten, möchte ich fragen, ob die Wirkung des siebzehnten Gesanges denkbar
sei ohne den Hinblick auf das Folgende und auf das Vorhergegangne. Ob
die Aristeia des Menelaos verständlich wäre ohne Kenntnis seiner durch alle
Gesänge sich merklich machenden Charaktermischung: des erfolglosen Helden¬
tums, des ewigen Wollens, das immer wieder von Erwägungen des eignen
Schicksals und von bösen Zufällen unterbrochen wird. Je mehr wir uns dem
Abschlüsse der Ilias nähern, um so feiner wird die moralische Ausarbeitung
der einzelnen Gestalten; jedoch nur derjenigen, auf die es dem Dichter an¬
kommt."

Doch billigt Grimm durchaus nicht alles, was wir jetzt in Ilias und
Odhsfee lesen. Wenn die Darstellung seinen Anforderungen nicht entspricht,
glaubt er, daß der ursprüngliche Text verloren gegangen oder verstümmelt
worden sei. Ja er versucht, wie nur irgendein philologischer Kritiker, den
ursprünglichen Zusammenhang durch eigne Phantasie zu ergänzen. Bezeichnend
dafür ist (I, 45 sf.) die Behandlung des Anfangs des zweiten Gesanges, der
sich wohl mehr als irgend ein andrer Gesang der Ilias hat meistern und
Äuderungsversuche gefallen lassen müssen. Ich will deshalb näher auf ihn
eingehen und daran zugleich meinen Standpunkt zur homerischen Frage dar¬
legen. Ich bin der Ansicht, daß weder Knötels noch Jägers noch Grimms
Ausführungen ausreichend sind, die Angriffe, die Homer erfahren hat, abzu¬
schlagen. Es genügt nicht, den Leugnern der Einheit gegenüber auf die ge-



°'°) Ich rechne dahin besonders den bekannten Stil Grimms, das Zerhacken des Ge-
dankens durch Punkte (II, 19 in 13 Zeilen 18 Punkte!) und das Übertragen ganz moderner
begriffe in jene alte Zeit. Wen sollte es nicht ärgern, wenn Hektor im Vergleich zu Äneas
°in "Parvenü" (II, 40) oder Iris "das Idealbild eines ausführenden Sekretärs hohen
Ranges" (II, 155) genannt wird?
Die Homerische Frage

Vorzügen in der Darstellung Schattenseiten nicht fehlen,*) die den Genuß an
der Lektüre des Buches stören. Im ganzen aber muß anerkannt werden, daß
Grimm viel gethan hat, um Szenen, die die zersetzende Kritik als elende Er¬
zeugnisse vou Nachdichtern verworfen hat, richtig zu erklären und ihre Be¬
deutung für die ganze Dichtung ins rechte Licht zu setzen. So halt er, um
ein Beispiel zu geben, den ziemlich allgemein verworfnen zehnten Gesang der
Ilias (die Dolonie) für echt, weil er „Dinge" enthalte, „die dem Gedicht nicht
fehlen dürfen." Er soll ganz besonders der Charakteristik des Menelaos ge¬
widmet sein, von dem Grimm (II, 29 ff.) ein ganz eigentümliches Bild ent¬
wirft und dabei meint, daß der Dichter bei der Schilderung des Helden in
den vorangehenden Gesängen „schon die Verhültnisfe im Ange habe, die im
zehnten erst ihre ausreichende Begründung erhalten." Ähnlich schreibt er zum
siebzehnten Gesänge (II, 217): „Die, welche ein zufälliges Zusammenkommen
der Ilias aus allerlei aneinander sich reisenden Volksliedern für möglich
halten, möchte ich fragen, ob die Wirkung des siebzehnten Gesanges denkbar
sei ohne den Hinblick auf das Folgende und auf das Vorhergegangne. Ob
die Aristeia des Menelaos verständlich wäre ohne Kenntnis seiner durch alle
Gesänge sich merklich machenden Charaktermischung: des erfolglosen Helden¬
tums, des ewigen Wollens, das immer wieder von Erwägungen des eignen
Schicksals und von bösen Zufällen unterbrochen wird. Je mehr wir uns dem
Abschlüsse der Ilias nähern, um so feiner wird die moralische Ausarbeitung
der einzelnen Gestalten; jedoch nur derjenigen, auf die es dem Dichter an¬
kommt."

Doch billigt Grimm durchaus nicht alles, was wir jetzt in Ilias und
Odhsfee lesen. Wenn die Darstellung seinen Anforderungen nicht entspricht,
glaubt er, daß der ursprüngliche Text verloren gegangen oder verstümmelt
worden sei. Ja er versucht, wie nur irgendein philologischer Kritiker, den
ursprünglichen Zusammenhang durch eigne Phantasie zu ergänzen. Bezeichnend
dafür ist (I, 45 sf.) die Behandlung des Anfangs des zweiten Gesanges, der
sich wohl mehr als irgend ein andrer Gesang der Ilias hat meistern und
Äuderungsversuche gefallen lassen müssen. Ich will deshalb näher auf ihn
eingehen und daran zugleich meinen Standpunkt zur homerischen Frage dar¬
legen. Ich bin der Ansicht, daß weder Knötels noch Jägers noch Grimms
Ausführungen ausreichend sind, die Angriffe, die Homer erfahren hat, abzu¬
schlagen. Es genügt nicht, den Leugnern der Einheit gegenüber auf die ge-



°'°) Ich rechne dahin besonders den bekannten Stil Grimms, das Zerhacken des Ge-
dankens durch Punkte (II, 19 in 13 Zeilen 18 Punkte!) und das Übertragen ganz moderner
begriffe in jene alte Zeit. Wen sollte es nicht ärgern, wenn Hektor im Vergleich zu Äneas
°in „Parvenü" (II, 40) oder Iris „das Idealbild eines ausführenden Sekretärs hohen
Ranges" (II, 155) genannt wird?
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0431" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/222077"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Homerische Frage</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1432" prev="#ID_1431"> Vorzügen in der Darstellung Schattenseiten nicht fehlen,*) die den Genuß an<lb/>
der Lektüre des Buches stören. Im ganzen aber muß anerkannt werden, daß<lb/>
Grimm viel gethan hat, um Szenen, die die zersetzende Kritik als elende Er¬<lb/>
zeugnisse vou Nachdichtern verworfen hat, richtig zu erklären und ihre Be¬<lb/>
deutung für die ganze Dichtung ins rechte Licht zu setzen. So halt er, um<lb/>
ein Beispiel zu geben, den ziemlich allgemein verworfnen zehnten Gesang der<lb/>
Ilias (die Dolonie) für echt, weil er &#x201E;Dinge" enthalte, &#x201E;die dem Gedicht nicht<lb/>
fehlen dürfen." Er soll ganz besonders der Charakteristik des Menelaos ge¬<lb/>
widmet sein, von dem Grimm (II, 29 ff.) ein ganz eigentümliches Bild ent¬<lb/>
wirft und dabei meint, daß der Dichter bei der Schilderung des Helden in<lb/>
den vorangehenden Gesängen &#x201E;schon die Verhültnisfe im Ange habe, die im<lb/>
zehnten erst ihre ausreichende Begründung erhalten." Ähnlich schreibt er zum<lb/>
siebzehnten Gesänge (II, 217): &#x201E;Die, welche ein zufälliges Zusammenkommen<lb/>
der Ilias aus allerlei aneinander sich reisenden Volksliedern für möglich<lb/>
halten, möchte ich fragen, ob die Wirkung des siebzehnten Gesanges denkbar<lb/>
sei ohne den Hinblick auf das Folgende und auf das Vorhergegangne. Ob<lb/>
die Aristeia des Menelaos verständlich wäre ohne Kenntnis seiner durch alle<lb/>
Gesänge sich merklich machenden Charaktermischung: des erfolglosen Helden¬<lb/>
tums, des ewigen Wollens, das immer wieder von Erwägungen des eignen<lb/>
Schicksals und von bösen Zufällen unterbrochen wird. Je mehr wir uns dem<lb/>
Abschlüsse der Ilias nähern, um so feiner wird die moralische Ausarbeitung<lb/>
der einzelnen Gestalten; jedoch nur derjenigen, auf die es dem Dichter an¬<lb/>
kommt."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1433" next="#ID_1434"> Doch billigt Grimm durchaus nicht alles, was wir jetzt in Ilias und<lb/>
Odhsfee lesen. Wenn die Darstellung seinen Anforderungen nicht entspricht,<lb/>
glaubt er, daß der ursprüngliche Text verloren gegangen oder verstümmelt<lb/>
worden sei. Ja er versucht, wie nur irgendein philologischer Kritiker, den<lb/>
ursprünglichen Zusammenhang durch eigne Phantasie zu ergänzen. Bezeichnend<lb/>
dafür ist (I, 45 sf.) die Behandlung des Anfangs des zweiten Gesanges, der<lb/>
sich wohl mehr als irgend ein andrer Gesang der Ilias hat meistern und<lb/>
Äuderungsversuche gefallen lassen müssen. Ich will deshalb näher auf ihn<lb/>
eingehen und daran zugleich meinen Standpunkt zur homerischen Frage dar¬<lb/>
legen. Ich bin der Ansicht, daß weder Knötels noch Jägers noch Grimms<lb/>
Ausführungen ausreichend sind, die Angriffe, die Homer erfahren hat, abzu¬<lb/>
schlagen.  Es genügt nicht, den Leugnern der Einheit gegenüber auf die ge-</p><lb/>
          <note xml:id="FID_71" place="foot"> °'°) Ich rechne dahin besonders den bekannten Stil Grimms, das Zerhacken des Ge-<lb/>
dankens durch Punkte (II, 19 in 13 Zeilen 18 Punkte!) und das Übertragen ganz moderner<lb/>
begriffe in jene alte Zeit. Wen sollte es nicht ärgern, wenn Hektor im Vergleich zu Äneas<lb/>
°in &#x201E;Parvenü" (II, 40) oder Iris &#x201E;das Idealbild eines ausführenden Sekretärs hohen<lb/>
Ranges" (II, 155) genannt wird?</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0431] Die Homerische Frage Vorzügen in der Darstellung Schattenseiten nicht fehlen,*) die den Genuß an der Lektüre des Buches stören. Im ganzen aber muß anerkannt werden, daß Grimm viel gethan hat, um Szenen, die die zersetzende Kritik als elende Er¬ zeugnisse vou Nachdichtern verworfen hat, richtig zu erklären und ihre Be¬ deutung für die ganze Dichtung ins rechte Licht zu setzen. So halt er, um ein Beispiel zu geben, den ziemlich allgemein verworfnen zehnten Gesang der Ilias (die Dolonie) für echt, weil er „Dinge" enthalte, „die dem Gedicht nicht fehlen dürfen." Er soll ganz besonders der Charakteristik des Menelaos ge¬ widmet sein, von dem Grimm (II, 29 ff.) ein ganz eigentümliches Bild ent¬ wirft und dabei meint, daß der Dichter bei der Schilderung des Helden in den vorangehenden Gesängen „schon die Verhültnisfe im Ange habe, die im zehnten erst ihre ausreichende Begründung erhalten." Ähnlich schreibt er zum siebzehnten Gesänge (II, 217): „Die, welche ein zufälliges Zusammenkommen der Ilias aus allerlei aneinander sich reisenden Volksliedern für möglich halten, möchte ich fragen, ob die Wirkung des siebzehnten Gesanges denkbar sei ohne den Hinblick auf das Folgende und auf das Vorhergegangne. Ob die Aristeia des Menelaos verständlich wäre ohne Kenntnis seiner durch alle Gesänge sich merklich machenden Charaktermischung: des erfolglosen Helden¬ tums, des ewigen Wollens, das immer wieder von Erwägungen des eignen Schicksals und von bösen Zufällen unterbrochen wird. Je mehr wir uns dem Abschlüsse der Ilias nähern, um so feiner wird die moralische Ausarbeitung der einzelnen Gestalten; jedoch nur derjenigen, auf die es dem Dichter an¬ kommt." Doch billigt Grimm durchaus nicht alles, was wir jetzt in Ilias und Odhsfee lesen. Wenn die Darstellung seinen Anforderungen nicht entspricht, glaubt er, daß der ursprüngliche Text verloren gegangen oder verstümmelt worden sei. Ja er versucht, wie nur irgendein philologischer Kritiker, den ursprünglichen Zusammenhang durch eigne Phantasie zu ergänzen. Bezeichnend dafür ist (I, 45 sf.) die Behandlung des Anfangs des zweiten Gesanges, der sich wohl mehr als irgend ein andrer Gesang der Ilias hat meistern und Äuderungsversuche gefallen lassen müssen. Ich will deshalb näher auf ihn eingehen und daran zugleich meinen Standpunkt zur homerischen Frage dar¬ legen. Ich bin der Ansicht, daß weder Knötels noch Jägers noch Grimms Ausführungen ausreichend sind, die Angriffe, die Homer erfahren hat, abzu¬ schlagen. Es genügt nicht, den Leugnern der Einheit gegenüber auf die ge- °'°) Ich rechne dahin besonders den bekannten Stil Grimms, das Zerhacken des Ge- dankens durch Punkte (II, 19 in 13 Zeilen 18 Punkte!) und das Übertragen ganz moderner begriffe in jene alte Zeit. Wen sollte es nicht ärgern, wenn Hektor im Vergleich zu Äneas °in „Parvenü" (II, 40) oder Iris „das Idealbild eines ausführenden Sekretärs hohen Ranges" (II, 155) genannt wird?

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/431
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/431>, abgerufen am 01.09.2024.