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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Andermanns neueste Dramen

le vor und seit einem Jahrzehnt angekündigte große Revolution
unsrer Litteratur hat die wunderbarsten Früchte gezeitigt. Sie
hat zugleich den nacktesten Cynismus und das stärkste Raffine¬
ment entwickelt, die in irgend einer Litteraturperiode neben und
gegen einander gewirkt haben, sie hat die sozialdemokratische Phrase
von der ursprünglichen Gleichheit aller zweibeinigen Kreatur dicht neben die
Phrase vom neuen Herrentum und vom Übermenschenbewußtsein''gerückt, sie
hat die grammatischen Fehler der Alltagsrede, die fragmentarischen Laute des
Stammlers und das Zischen des Zahnlosen "behufs Charakteristik" litteratur¬
fähig gemacht und in wunderbarem Widerspruch mit der nackten Kopie ab¬
normer Wirklichkeit einen neuen sstilo oulto erzeugt, in dem Wort, Bild und
Klang gleich unnatürlich sind. Sie hat die Bildung als solche zu ächten ver¬
sucht und gleichwohl einen absonderlichen Vildungsdünkel wachgerufen, der
jedem Einzelnen das Recht giebt, seine Zeitgenossen als Barbaren gering zu
schätzen. Sie hat mit gewaltigem Getöse Originalität begehrt und ist nach
einander bei der sklavischen Nachahmung von Zola, von Ibsen, von Tolstoi,
von Jacobsen und Pontoppidan, von Bourget und Maupassant angelangt.
Sie hat sich gegen die Autorität der klassischen Dichtung erhoben und ist eben
dabei, die Mustergiltigkeit der Lobenstein, Hosfmannswaldau und Ziegler zu
preise". Vor allem aber, sie hat das litterarische, die Welt niederzwingende
Genie, den litterarischen Bismarck gefordert und prophezeit (der freilich inner¬
halb von zehn Jahren zehn verschiedne Namen getragen hat) und ist am Ende
höchlich zufrieden, wenn aus ihr ein paar Talente hervorgehen, die ernst ge¬
nommen werden können, und bei denen überhaupt von einer Entwicklung die
Rede sein darf. Die Bewegung hat sich darüber freilich zerspalten, und der
gewöhnliche Gang aller Revolutionen läßt sich anch bei ihr beobachten. Sowie
sich ein paar Schriftsteller ans dem engsten Kreise der Parteischlagworte und
des sinnlosen Wütens emporhoben, ein paar Dramen und Romane das Inter¬
esse und die Teilnahme eines größern Publikums erweckten, splitterte sich von
der Linken eine äußerste Linke ab, die mit verächtlichem Achselzucken von Zu¬
geständnissen an das Philistertum oder deu ästhetischen Janhagel sprach. Sowie
Hermann Sudermann in den Cottaschen Verlag überging und "hoftheaterfähig"
wurde, begann von denselben Stellen her, von denen man früher die Dramen
"Ehre" und "Heimat" rückhaltlos und überschwänglich gepriesen hatte, ein




Andermanns neueste Dramen

le vor und seit einem Jahrzehnt angekündigte große Revolution
unsrer Litteratur hat die wunderbarsten Früchte gezeitigt. Sie
hat zugleich den nacktesten Cynismus und das stärkste Raffine¬
ment entwickelt, die in irgend einer Litteraturperiode neben und
gegen einander gewirkt haben, sie hat die sozialdemokratische Phrase
von der ursprünglichen Gleichheit aller zweibeinigen Kreatur dicht neben die
Phrase vom neuen Herrentum und vom Übermenschenbewußtsein''gerückt, sie
hat die grammatischen Fehler der Alltagsrede, die fragmentarischen Laute des
Stammlers und das Zischen des Zahnlosen „behufs Charakteristik" litteratur¬
fähig gemacht und in wunderbarem Widerspruch mit der nackten Kopie ab¬
normer Wirklichkeit einen neuen sstilo oulto erzeugt, in dem Wort, Bild und
Klang gleich unnatürlich sind. Sie hat die Bildung als solche zu ächten ver¬
sucht und gleichwohl einen absonderlichen Vildungsdünkel wachgerufen, der
jedem Einzelnen das Recht giebt, seine Zeitgenossen als Barbaren gering zu
schätzen. Sie hat mit gewaltigem Getöse Originalität begehrt und ist nach
einander bei der sklavischen Nachahmung von Zola, von Ibsen, von Tolstoi,
von Jacobsen und Pontoppidan, von Bourget und Maupassant angelangt.
Sie hat sich gegen die Autorität der klassischen Dichtung erhoben und ist eben
dabei, die Mustergiltigkeit der Lobenstein, Hosfmannswaldau und Ziegler zu
preise». Vor allem aber, sie hat das litterarische, die Welt niederzwingende
Genie, den litterarischen Bismarck gefordert und prophezeit (der freilich inner¬
halb von zehn Jahren zehn verschiedne Namen getragen hat) und ist am Ende
höchlich zufrieden, wenn aus ihr ein paar Talente hervorgehen, die ernst ge¬
nommen werden können, und bei denen überhaupt von einer Entwicklung die
Rede sein darf. Die Bewegung hat sich darüber freilich zerspalten, und der
gewöhnliche Gang aller Revolutionen läßt sich anch bei ihr beobachten. Sowie
sich ein paar Schriftsteller ans dem engsten Kreise der Parteischlagworte und
des sinnlosen Wütens emporhoben, ein paar Dramen und Romane das Inter¬
esse und die Teilnahme eines größern Publikums erweckten, splitterte sich von
der Linken eine äußerste Linke ab, die mit verächtlichem Achselzucken von Zu¬
geständnissen an das Philistertum oder deu ästhetischen Janhagel sprach. Sowie
Hermann Sudermann in den Cottaschen Verlag überging und „hoftheaterfähig"
wurde, begann von denselben Stellen her, von denen man früher die Dramen
„Ehre" und „Heimat" rückhaltlos und überschwänglich gepriesen hatte, ein


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/43>, abgerufen am 01.09.2024.