Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Homerische Frage

oder noch lange nicht merkt --, und in der unvergleichlichen Geschichte vom
Hunde Argos im siebzehnten Buche hat derselbe Dichter dem ganzem Ge¬
schlecht ein unvergängliches und wohlverdientes Denkmal gesetzt." Ähnliche
Liebe für die Tierwelt und sorgfältige Beobachtung ihres Lebens und Treibens
zeigt der Dichter in unzähligen Gleichnissen, die eine gewaltige Kluft von allen
andern Dichtungen trennt.

Wie Knötel, weist auch Jäger die Bedenken Wolfs gegen die Möglich¬
keit der Verbreitung so großer Epen in so alter Zeit zurück. Selbst wenn die
Schrift, deren Vorhandensein im Epos selbst in der bekannten Stelle der Ilias
(6, 168) vorausgesetzt wird, noch nicht zum Aufschreiben so großer Dichtungen
verwendet worden wäre, genügte eine Art Hieroglyphenschrift, um die Reihen¬
folge der einzelnen Szenen festzuhalten, und das Gedächtnis leistete das übrige.
Denn wenn es im fünften Jahrhundert in Athen noch Leute gab, die den
Homer auswendig wußten, wieviel eher können wir diese Gabe in jener alten
Zeit und bei Menschen voraussetzen, deren einziges Interesse diesen Gedichten
zugewendet war. Die Odyssee giebt uns in Demodokos auch wirklich ein
Beispiel von einem solchen Sänger, der ohne weiteres auf die Aufforderung
eines Gastes hin ein Gedicht aus dein troischen Sagenkreise frei ans dem
Gedächtnis -- denn er ist blind -- vorträgt. Die vielen Wiederholungen
und überhaupt das Formelhafte in der Sprache erleichterten die Aufgabe.

Ist durch diese Untersuchungen und Darlegungen wenigstens die Möglich¬
keit erwiesen, daß ein großer Dichter Homer gelebt und die unter seinem Namen
gehenden großen Werke verfaßt hat, so führen ästhetische Erwägungen über
die Kunstform der Gedichte entschieden zu der Annahme, daß nur ein wirk¬
licher Dichter, nicht ein mechanischer Scnnmler, ein "Flickpoet" oder "stümper¬
hafter Redaktor" oder gar eine Kommission gelehrter Männer der Schöpfer
dieser Einheiten sein kann. In dieser Beziehung ist schon das Urteil des
Aristoteles, des feinsinnigsten Kritikers des Altertums, bezeichnend, der ihre
Einheit im Unterschied von mnngelhaftern Dichtungen darin sah, daß sie einen
bestimmten Anfang und ein Ende hätten, und daß ein Plan durch das Ganze
gehe. So könne man aus der Ilias und der Odyssee auch nur je eine Tra¬
gödie bilden, während sich aus den sogenannten kyklischen Epen drei, vier, ja
acht Tragödien ableiten ließen. Es hat also diesen Dichtungen an der innern
Einheit gefehlt, sie haben auch keinen kunstvollen Anfang gehabt, wie Ilias
und Odyssee, und ebenso war ihr Schluß nicht so notwendig, daß sie nicht
etwa auch noch weiter geführt werden konnten. Diesem Urteil des großen
Kritikers siud nun nicht nur die Alten, die doch noch Vergleiche zwischen den
verschiednen epischen Dichtungen anstellen konnten, da sie noch vorhanden Ware",
fast ohne Ausnahme gefolgt, im besondern auch Horaz in der ^rs xostiou.,
sondern auch unsre Kritiker und Dichter bis auf Wolf. Hielt doch noch der
scharfsinnige Lessing die homerischen Gedichte für so fest gefugt, daß er meinte,


Die Homerische Frage

oder noch lange nicht merkt —, und in der unvergleichlichen Geschichte vom
Hunde Argos im siebzehnten Buche hat derselbe Dichter dem ganzem Ge¬
schlecht ein unvergängliches und wohlverdientes Denkmal gesetzt." Ähnliche
Liebe für die Tierwelt und sorgfältige Beobachtung ihres Lebens und Treibens
zeigt der Dichter in unzähligen Gleichnissen, die eine gewaltige Kluft von allen
andern Dichtungen trennt.

Wie Knötel, weist auch Jäger die Bedenken Wolfs gegen die Möglich¬
keit der Verbreitung so großer Epen in so alter Zeit zurück. Selbst wenn die
Schrift, deren Vorhandensein im Epos selbst in der bekannten Stelle der Ilias
(6, 168) vorausgesetzt wird, noch nicht zum Aufschreiben so großer Dichtungen
verwendet worden wäre, genügte eine Art Hieroglyphenschrift, um die Reihen¬
folge der einzelnen Szenen festzuhalten, und das Gedächtnis leistete das übrige.
Denn wenn es im fünften Jahrhundert in Athen noch Leute gab, die den
Homer auswendig wußten, wieviel eher können wir diese Gabe in jener alten
Zeit und bei Menschen voraussetzen, deren einziges Interesse diesen Gedichten
zugewendet war. Die Odyssee giebt uns in Demodokos auch wirklich ein
Beispiel von einem solchen Sänger, der ohne weiteres auf die Aufforderung
eines Gastes hin ein Gedicht aus dein troischen Sagenkreise frei ans dem
Gedächtnis — denn er ist blind — vorträgt. Die vielen Wiederholungen
und überhaupt das Formelhafte in der Sprache erleichterten die Aufgabe.

Ist durch diese Untersuchungen und Darlegungen wenigstens die Möglich¬
keit erwiesen, daß ein großer Dichter Homer gelebt und die unter seinem Namen
gehenden großen Werke verfaßt hat, so führen ästhetische Erwägungen über
die Kunstform der Gedichte entschieden zu der Annahme, daß nur ein wirk¬
licher Dichter, nicht ein mechanischer Scnnmler, ein „Flickpoet" oder „stümper¬
hafter Redaktor" oder gar eine Kommission gelehrter Männer der Schöpfer
dieser Einheiten sein kann. In dieser Beziehung ist schon das Urteil des
Aristoteles, des feinsinnigsten Kritikers des Altertums, bezeichnend, der ihre
Einheit im Unterschied von mnngelhaftern Dichtungen darin sah, daß sie einen
bestimmten Anfang und ein Ende hätten, und daß ein Plan durch das Ganze
gehe. So könne man aus der Ilias und der Odyssee auch nur je eine Tra¬
gödie bilden, während sich aus den sogenannten kyklischen Epen drei, vier, ja
acht Tragödien ableiten ließen. Es hat also diesen Dichtungen an der innern
Einheit gefehlt, sie haben auch keinen kunstvollen Anfang gehabt, wie Ilias
und Odyssee, und ebenso war ihr Schluß nicht so notwendig, daß sie nicht
etwa auch noch weiter geführt werden konnten. Diesem Urteil des großen
Kritikers siud nun nicht nur die Alten, die doch noch Vergleiche zwischen den
verschiednen epischen Dichtungen anstellen konnten, da sie noch vorhanden Ware»,
fast ohne Ausnahme gefolgt, im besondern auch Horaz in der ^rs xostiou.,
sondern auch unsre Kritiker und Dichter bis auf Wolf. Hielt doch noch der
scharfsinnige Lessing die homerischen Gedichte für so fest gefugt, daß er meinte,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0394" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/222040"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Homerische Frage</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1292" prev="#ID_1291"> oder noch lange nicht merkt &#x2014;, und in der unvergleichlichen Geschichte vom<lb/>
Hunde Argos im siebzehnten Buche hat derselbe Dichter dem ganzem Ge¬<lb/>
schlecht ein unvergängliches und wohlverdientes Denkmal gesetzt." Ähnliche<lb/>
Liebe für die Tierwelt und sorgfältige Beobachtung ihres Lebens und Treibens<lb/>
zeigt der Dichter in unzähligen Gleichnissen, die eine gewaltige Kluft von allen<lb/>
andern Dichtungen trennt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1293"> Wie Knötel, weist auch Jäger die Bedenken Wolfs gegen die Möglich¬<lb/>
keit der Verbreitung so großer Epen in so alter Zeit zurück. Selbst wenn die<lb/>
Schrift, deren Vorhandensein im Epos selbst in der bekannten Stelle der Ilias<lb/>
(6, 168) vorausgesetzt wird, noch nicht zum Aufschreiben so großer Dichtungen<lb/>
verwendet worden wäre, genügte eine Art Hieroglyphenschrift, um die Reihen¬<lb/>
folge der einzelnen Szenen festzuhalten, und das Gedächtnis leistete das übrige.<lb/>
Denn wenn es im fünften Jahrhundert in Athen noch Leute gab, die den<lb/>
Homer auswendig wußten, wieviel eher können wir diese Gabe in jener alten<lb/>
Zeit und bei Menschen voraussetzen, deren einziges Interesse diesen Gedichten<lb/>
zugewendet war. Die Odyssee giebt uns in Demodokos auch wirklich ein<lb/>
Beispiel von einem solchen Sänger, der ohne weiteres auf die Aufforderung<lb/>
eines Gastes hin ein Gedicht aus dein troischen Sagenkreise frei ans dem<lb/>
Gedächtnis &#x2014; denn er ist blind &#x2014; vorträgt. Die vielen Wiederholungen<lb/>
und überhaupt das Formelhafte in der Sprache erleichterten die Aufgabe.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1294" next="#ID_1295"> Ist durch diese Untersuchungen und Darlegungen wenigstens die Möglich¬<lb/>
keit erwiesen, daß ein großer Dichter Homer gelebt und die unter seinem Namen<lb/>
gehenden großen Werke verfaßt hat, so führen ästhetische Erwägungen über<lb/>
die Kunstform der Gedichte entschieden zu der Annahme, daß nur ein wirk¬<lb/>
licher Dichter, nicht ein mechanischer Scnnmler, ein &#x201E;Flickpoet" oder &#x201E;stümper¬<lb/>
hafter Redaktor" oder gar eine Kommission gelehrter Männer der Schöpfer<lb/>
dieser Einheiten sein kann. In dieser Beziehung ist schon das Urteil des<lb/>
Aristoteles, des feinsinnigsten Kritikers des Altertums, bezeichnend, der ihre<lb/>
Einheit im Unterschied von mnngelhaftern Dichtungen darin sah, daß sie einen<lb/>
bestimmten Anfang und ein Ende hätten, und daß ein Plan durch das Ganze<lb/>
gehe. So könne man aus der Ilias und der Odyssee auch nur je eine Tra¬<lb/>
gödie bilden, während sich aus den sogenannten kyklischen Epen drei, vier, ja<lb/>
acht Tragödien ableiten ließen. Es hat also diesen Dichtungen an der innern<lb/>
Einheit gefehlt, sie haben auch keinen kunstvollen Anfang gehabt, wie Ilias<lb/>
und Odyssee, und ebenso war ihr Schluß nicht so notwendig, daß sie nicht<lb/>
etwa auch noch weiter geführt werden konnten. Diesem Urteil des großen<lb/>
Kritikers siud nun nicht nur die Alten, die doch noch Vergleiche zwischen den<lb/>
verschiednen epischen Dichtungen anstellen konnten, da sie noch vorhanden Ware»,<lb/>
fast ohne Ausnahme gefolgt, im besondern auch Horaz in der ^rs xostiou.,<lb/>
sondern auch unsre Kritiker und Dichter bis auf Wolf. Hielt doch noch der<lb/>
scharfsinnige Lessing die homerischen Gedichte für so fest gefugt, daß er meinte,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0394] Die Homerische Frage oder noch lange nicht merkt —, und in der unvergleichlichen Geschichte vom Hunde Argos im siebzehnten Buche hat derselbe Dichter dem ganzem Ge¬ schlecht ein unvergängliches und wohlverdientes Denkmal gesetzt." Ähnliche Liebe für die Tierwelt und sorgfältige Beobachtung ihres Lebens und Treibens zeigt der Dichter in unzähligen Gleichnissen, die eine gewaltige Kluft von allen andern Dichtungen trennt. Wie Knötel, weist auch Jäger die Bedenken Wolfs gegen die Möglich¬ keit der Verbreitung so großer Epen in so alter Zeit zurück. Selbst wenn die Schrift, deren Vorhandensein im Epos selbst in der bekannten Stelle der Ilias (6, 168) vorausgesetzt wird, noch nicht zum Aufschreiben so großer Dichtungen verwendet worden wäre, genügte eine Art Hieroglyphenschrift, um die Reihen¬ folge der einzelnen Szenen festzuhalten, und das Gedächtnis leistete das übrige. Denn wenn es im fünften Jahrhundert in Athen noch Leute gab, die den Homer auswendig wußten, wieviel eher können wir diese Gabe in jener alten Zeit und bei Menschen voraussetzen, deren einziges Interesse diesen Gedichten zugewendet war. Die Odyssee giebt uns in Demodokos auch wirklich ein Beispiel von einem solchen Sänger, der ohne weiteres auf die Aufforderung eines Gastes hin ein Gedicht aus dein troischen Sagenkreise frei ans dem Gedächtnis — denn er ist blind — vorträgt. Die vielen Wiederholungen und überhaupt das Formelhafte in der Sprache erleichterten die Aufgabe. Ist durch diese Untersuchungen und Darlegungen wenigstens die Möglich¬ keit erwiesen, daß ein großer Dichter Homer gelebt und die unter seinem Namen gehenden großen Werke verfaßt hat, so führen ästhetische Erwägungen über die Kunstform der Gedichte entschieden zu der Annahme, daß nur ein wirk¬ licher Dichter, nicht ein mechanischer Scnnmler, ein „Flickpoet" oder „stümper¬ hafter Redaktor" oder gar eine Kommission gelehrter Männer der Schöpfer dieser Einheiten sein kann. In dieser Beziehung ist schon das Urteil des Aristoteles, des feinsinnigsten Kritikers des Altertums, bezeichnend, der ihre Einheit im Unterschied von mnngelhaftern Dichtungen darin sah, daß sie einen bestimmten Anfang und ein Ende hätten, und daß ein Plan durch das Ganze gehe. So könne man aus der Ilias und der Odyssee auch nur je eine Tra¬ gödie bilden, während sich aus den sogenannten kyklischen Epen drei, vier, ja acht Tragödien ableiten ließen. Es hat also diesen Dichtungen an der innern Einheit gefehlt, sie haben auch keinen kunstvollen Anfang gehabt, wie Ilias und Odyssee, und ebenso war ihr Schluß nicht so notwendig, daß sie nicht etwa auch noch weiter geführt werden konnten. Diesem Urteil des großen Kritikers siud nun nicht nur die Alten, die doch noch Vergleiche zwischen den verschiednen epischen Dichtungen anstellen konnten, da sie noch vorhanden Ware», fast ohne Ausnahme gefolgt, im besondern auch Horaz in der ^rs xostiou., sondern auch unsre Kritiker und Dichter bis auf Wolf. Hielt doch noch der scharfsinnige Lessing die homerischen Gedichte für so fest gefugt, daß er meinte,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/394
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/394>, abgerufen am 01.09.2024.