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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Die Homerische Frage

In dem an erster Stelle in der Anmerkung genannten Werke sucht zu¬
nächst Knötel^) auf Grund eines mit dem erstaunlichsten Fleiße aus den ver¬
schiedensten Quellen gesammelten Materials Homer als geschichtliche Persön¬
lichkeit nachzuweisen und von seinem Leben ein Bild zu geben, bei dem freilich
zwischen Wahrheit und Dichtung nicht immer geschieden wird, weil die "Quellen"
nicht streng auf ihren Wert geprüft und manche Lücken in der Überlieferung
durch kühne Schlüsse ergänzt werden. Knötel holt weit aus. Für ihn wird,
was bisher allgemein als sagenhaft gegolten hat, z. B. die Herrschaft des
Minos, die Einwanderung des Kadmos, die Herrschaft des Kekrops, Er¬
zählungen von Tantalvs, Lnomedon, Tros und unzähliger andrer zur wirk¬
lichen Geschichte. Noch vor zehn bis zwanzig Jahren würde man für der¬
artige Annahmen nur ein Lächeln gehabt haben; seit aber die Ausgrabungen
in Ägypten und in den Euphratlcindern durch sichere Denkmäler eine hohe
Kultur mehr als viertausend Jahre vor unsrer Zeitrechnung nachgewiesen
haben, seit namentlich die letzten Ausgrabungen in Ägypten die überraschende
Thatsache ergeben haben, daß die Verwendung der Säulenhalle zu architek¬
tonischen Zwecken, die bisher als Kunstform für ein Erzeugnis griechischen
Geistes galt, sich wenigstens neunzehnhundert Jahre vor unsrer Zeitrechnung
schon in Ägypten findet, und daß um dieselbe Zeit kühne Unternehmungen
zur Erforschung Afrikas ausgehen, die wir am liebsten erst unserm Jahrhundert
zusprechen mochten, dürfen wir auch größere Unternehmungen von Ägypten
oder von den Euphratländern aus, die zur Unterwerfung größerer Teile von
Griechenland oder von Kleinasien geführt haben, nicht mehr schlechthin in das
Reich der Fabel verweisen. Jedenfalls muß die Möglichkeit zugegeben werden,
daß sich bei griechischen Schriftstellern der spätern Zeit, die bestimmte Nach¬
richten aus dieser alten Zeit geben, eine ältere, vielleicht wohlbegründete Über¬
lieferung erhalten hat. Eine solche bestimmte Quelle ist z. B. für Knötel eine
Inschrift auf dem in Xanthos gefundnen Pfeiler, die nach seiner Ansicht die
ältere Geschichte Lykieus enthielt und zwischen 470 bis 460 v. Chr. angefertigt
war (II, S. 69 ff.). Wenn wir ihm also auch nicht überallhin folgen können,
so wundern wir uns jedenfalls nicht, wenn er (II, 64) schreibt: "Nach be¬
stimmter Angabe fiel die Einnahme und Zerstörung Trojas 715 Jahre vor
den Zug Alexanders des Großen, also ins Jahr 1049 v. Chr., demnach
84 Jahre -- nach Thukydides 80 -- vor den Einfall der Herakliden in den
Peloponnes (965), ferner 272 Jahre nach der Ära des Menephthes (1321)
und 273 vor den Anfang der Olympiadenrechnung, also fast genau in die



Von demselben Verfasser ist das Buch: Atlantis und das Volk der Atlanten.
Ein Beitrag zur vierhundertjährigen Festfeier der Entdeckung Amerikas. Leipzig, F. W. Grunow,
1893. 418 S, Es ist in demselben Geiste geschrieve n und behandelt auch die Vorgeschichte
Griechenlands, die Existenz eines alten Kulturvolkes, der Atlanten, und ihre Ausbreitung um
das Mittelnteer herum und darüber hinaus.
Die Homerische Frage

In dem an erster Stelle in der Anmerkung genannten Werke sucht zu¬
nächst Knötel^) auf Grund eines mit dem erstaunlichsten Fleiße aus den ver¬
schiedensten Quellen gesammelten Materials Homer als geschichtliche Persön¬
lichkeit nachzuweisen und von seinem Leben ein Bild zu geben, bei dem freilich
zwischen Wahrheit und Dichtung nicht immer geschieden wird, weil die „Quellen"
nicht streng auf ihren Wert geprüft und manche Lücken in der Überlieferung
durch kühne Schlüsse ergänzt werden. Knötel holt weit aus. Für ihn wird,
was bisher allgemein als sagenhaft gegolten hat, z. B. die Herrschaft des
Minos, die Einwanderung des Kadmos, die Herrschaft des Kekrops, Er¬
zählungen von Tantalvs, Lnomedon, Tros und unzähliger andrer zur wirk¬
lichen Geschichte. Noch vor zehn bis zwanzig Jahren würde man für der¬
artige Annahmen nur ein Lächeln gehabt haben; seit aber die Ausgrabungen
in Ägypten und in den Euphratlcindern durch sichere Denkmäler eine hohe
Kultur mehr als viertausend Jahre vor unsrer Zeitrechnung nachgewiesen
haben, seit namentlich die letzten Ausgrabungen in Ägypten die überraschende
Thatsache ergeben haben, daß die Verwendung der Säulenhalle zu architek¬
tonischen Zwecken, die bisher als Kunstform für ein Erzeugnis griechischen
Geistes galt, sich wenigstens neunzehnhundert Jahre vor unsrer Zeitrechnung
schon in Ägypten findet, und daß um dieselbe Zeit kühne Unternehmungen
zur Erforschung Afrikas ausgehen, die wir am liebsten erst unserm Jahrhundert
zusprechen mochten, dürfen wir auch größere Unternehmungen von Ägypten
oder von den Euphratländern aus, die zur Unterwerfung größerer Teile von
Griechenland oder von Kleinasien geführt haben, nicht mehr schlechthin in das
Reich der Fabel verweisen. Jedenfalls muß die Möglichkeit zugegeben werden,
daß sich bei griechischen Schriftstellern der spätern Zeit, die bestimmte Nach¬
richten aus dieser alten Zeit geben, eine ältere, vielleicht wohlbegründete Über¬
lieferung erhalten hat. Eine solche bestimmte Quelle ist z. B. für Knötel eine
Inschrift auf dem in Xanthos gefundnen Pfeiler, die nach seiner Ansicht die
ältere Geschichte Lykieus enthielt und zwischen 470 bis 460 v. Chr. angefertigt
war (II, S. 69 ff.). Wenn wir ihm also auch nicht überallhin folgen können,
so wundern wir uns jedenfalls nicht, wenn er (II, 64) schreibt: „Nach be¬
stimmter Angabe fiel die Einnahme und Zerstörung Trojas 715 Jahre vor
den Zug Alexanders des Großen, also ins Jahr 1049 v. Chr., demnach
84 Jahre — nach Thukydides 80 — vor den Einfall der Herakliden in den
Peloponnes (965), ferner 272 Jahre nach der Ära des Menephthes (1321)
und 273 vor den Anfang der Olympiadenrechnung, also fast genau in die



Von demselben Verfasser ist das Buch: Atlantis und das Volk der Atlanten.
Ein Beitrag zur vierhundertjährigen Festfeier der Entdeckung Amerikas. Leipzig, F. W. Grunow,
1893. 418 S, Es ist in demselben Geiste geschrieve n und behandelt auch die Vorgeschichte
Griechenlands, die Existenz eines alten Kulturvolkes, der Atlanten, und ihre Ausbreitung um
das Mittelnteer herum und darüber hinaus.
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[0390] Die Homerische Frage In dem an erster Stelle in der Anmerkung genannten Werke sucht zu¬ nächst Knötel^) auf Grund eines mit dem erstaunlichsten Fleiße aus den ver¬ schiedensten Quellen gesammelten Materials Homer als geschichtliche Persön¬ lichkeit nachzuweisen und von seinem Leben ein Bild zu geben, bei dem freilich zwischen Wahrheit und Dichtung nicht immer geschieden wird, weil die „Quellen" nicht streng auf ihren Wert geprüft und manche Lücken in der Überlieferung durch kühne Schlüsse ergänzt werden. Knötel holt weit aus. Für ihn wird, was bisher allgemein als sagenhaft gegolten hat, z. B. die Herrschaft des Minos, die Einwanderung des Kadmos, die Herrschaft des Kekrops, Er¬ zählungen von Tantalvs, Lnomedon, Tros und unzähliger andrer zur wirk¬ lichen Geschichte. Noch vor zehn bis zwanzig Jahren würde man für der¬ artige Annahmen nur ein Lächeln gehabt haben; seit aber die Ausgrabungen in Ägypten und in den Euphratlcindern durch sichere Denkmäler eine hohe Kultur mehr als viertausend Jahre vor unsrer Zeitrechnung nachgewiesen haben, seit namentlich die letzten Ausgrabungen in Ägypten die überraschende Thatsache ergeben haben, daß die Verwendung der Säulenhalle zu architek¬ tonischen Zwecken, die bisher als Kunstform für ein Erzeugnis griechischen Geistes galt, sich wenigstens neunzehnhundert Jahre vor unsrer Zeitrechnung schon in Ägypten findet, und daß um dieselbe Zeit kühne Unternehmungen zur Erforschung Afrikas ausgehen, die wir am liebsten erst unserm Jahrhundert zusprechen mochten, dürfen wir auch größere Unternehmungen von Ägypten oder von den Euphratländern aus, die zur Unterwerfung größerer Teile von Griechenland oder von Kleinasien geführt haben, nicht mehr schlechthin in das Reich der Fabel verweisen. Jedenfalls muß die Möglichkeit zugegeben werden, daß sich bei griechischen Schriftstellern der spätern Zeit, die bestimmte Nach¬ richten aus dieser alten Zeit geben, eine ältere, vielleicht wohlbegründete Über¬ lieferung erhalten hat. Eine solche bestimmte Quelle ist z. B. für Knötel eine Inschrift auf dem in Xanthos gefundnen Pfeiler, die nach seiner Ansicht die ältere Geschichte Lykieus enthielt und zwischen 470 bis 460 v. Chr. angefertigt war (II, S. 69 ff.). Wenn wir ihm also auch nicht überallhin folgen können, so wundern wir uns jedenfalls nicht, wenn er (II, 64) schreibt: „Nach be¬ stimmter Angabe fiel die Einnahme und Zerstörung Trojas 715 Jahre vor den Zug Alexanders des Großen, also ins Jahr 1049 v. Chr., demnach 84 Jahre — nach Thukydides 80 — vor den Einfall der Herakliden in den Peloponnes (965), ferner 272 Jahre nach der Ära des Menephthes (1321) und 273 vor den Anfang der Olympiadenrechnung, also fast genau in die Von demselben Verfasser ist das Buch: Atlantis und das Volk der Atlanten. Ein Beitrag zur vierhundertjährigen Festfeier der Entdeckung Amerikas. Leipzig, F. W. Grunow, 1893. 418 S, Es ist in demselben Geiste geschrieve n und behandelt auch die Vorgeschichte Griechenlands, die Existenz eines alten Kulturvolkes, der Atlanten, und ihre Ausbreitung um das Mittelnteer herum und darüber hinaus.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/390>, abgerufen am 01.09.2024.