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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Die Homerische Frage

zu wollen, geradezu "barbarisch" und sah in der "Continuität" und "Reci¬
procität" der Handlung ihre wirksamste Schönheit. Die Wirkung von Wolfs
Schrift aber ist weiter gegangen; sie hat die theologischen Untersuchungen über
die Bibel ebenso beeinflußt wie die Geschichtsforschung. Man fing erst jetzt
an, gründlich das "Quellenverhältnis" zu untersuchen, z.B. zu fragen, wie
es mit der Abfassung des Pentateuch stehe, welches das Verhältnis der
Synoptiker zu einander sei, oder aus welchen Quellen Livius geschöpft habe
und welchen Wert diese hätten.

Solange man aber nur Möglichkeiten >erwog, wurde die eigentliche "Ho¬
merische Frage" wenig gefördert, und sie wäre wohl schon längst aus der
Welt verschwunden, wenn nicht Karl Lachmann mit dem schärfsten kritischen
Verstände die Ilias untersucht und darin soviel Unebenheiten und Widersprüche
entdeckt hätte, daß der Glaube an eine einheitliche Schöpfung fortan als Thor¬
heit kritikloser Köpfe erschien.

Die Odyssee war lange von diesem Berwerfnngsurteile verschont geblieben.
Einzelne Angriffe im Sinne Landmanns blieben ziemlich unbemerkt, bis Adolf
Kirchhofs auch ihren bisher viel bewunderten Aufbau, den noch Wolf als das
größte Erzeugnis griechischen Geistes gepriesen hatte, als das Werk eines
elenden Stümpers hinstellte, der ein älteres, auch schon nicht mehr einheit¬
liches Gedicht mit verschiednen Zusätzen, die er teils selbst gemacht, teils ans
andern Dichtungen entlehnt habe, meist ohne Sinn und Verstand versehen
habe. Diese Ansicht stellte der große Gelehrte zunächst (1859) in einer Aus¬
gabe der Odyssee als ein "Fazit ohne Rechnung" auf, holte aber später in
einer Reihe von Aufsätzen den Beweis nach und hatte damit den größten
Erfolg. Beide Meister, Lachmann und Kirchhofs, haben viele Schüler gefunden,
die ihre Ausführungen ergänzten und sie im wegwerfenden Urteil über Stellen,
die jene noch unbeanstandet gelassen hatten, noch übertrafen. Ja ihr Einfluß
war so groß, daß selbst Männer, die das Auge offen behielten für die klar
hervortretende Einheitlichkeit des Plans und der Handlung, nicht nur einzelne
Verse und Versreihen, sondern ganze Bücher willig preisgaben und in dem
verdammenden Urteil über solche Teile der homerischen Gedichte, für die das
Schlagwort "elender Nachahmerstil" allgemeine Aufnahme fand, mit den ver¬
wegensten Lachmannianern und Kirchhoffianern übereinstimmten.

Nichts beweist wohl aber die einzige Größe von Homers Dichterbegabung
deutlicher, als die Thatsache, daß er auch diese mit dem größten Scharfsinn
ein ganzes Jahrhundert hindurch geführten Angriffe glücklich bestanden hat,
daß jetzt Männer, von dem verschiedensten Standpunkt ausgehend, durch ge¬
schichtliche, ästhetische und rein philologische Betrachtung zu dem Ergebnis
gekommen sind, Ilias und Odyssee seien wirkliche Einheiten, Erzeugnisse eines
großen Dichters, nicht bloß Sammlers, und nicht wesentlich verschieden in
ihren Unebenheiten und Widersprüchen von alten und neuern Dichtungen.


Die Homerische Frage

zu wollen, geradezu „barbarisch" und sah in der „Continuität" und „Reci¬
procität" der Handlung ihre wirksamste Schönheit. Die Wirkung von Wolfs
Schrift aber ist weiter gegangen; sie hat die theologischen Untersuchungen über
die Bibel ebenso beeinflußt wie die Geschichtsforschung. Man fing erst jetzt
an, gründlich das „Quellenverhältnis" zu untersuchen, z.B. zu fragen, wie
es mit der Abfassung des Pentateuch stehe, welches das Verhältnis der
Synoptiker zu einander sei, oder aus welchen Quellen Livius geschöpft habe
und welchen Wert diese hätten.

Solange man aber nur Möglichkeiten >erwog, wurde die eigentliche „Ho¬
merische Frage" wenig gefördert, und sie wäre wohl schon längst aus der
Welt verschwunden, wenn nicht Karl Lachmann mit dem schärfsten kritischen
Verstände die Ilias untersucht und darin soviel Unebenheiten und Widersprüche
entdeckt hätte, daß der Glaube an eine einheitliche Schöpfung fortan als Thor¬
heit kritikloser Köpfe erschien.

Die Odyssee war lange von diesem Berwerfnngsurteile verschont geblieben.
Einzelne Angriffe im Sinne Landmanns blieben ziemlich unbemerkt, bis Adolf
Kirchhofs auch ihren bisher viel bewunderten Aufbau, den noch Wolf als das
größte Erzeugnis griechischen Geistes gepriesen hatte, als das Werk eines
elenden Stümpers hinstellte, der ein älteres, auch schon nicht mehr einheit¬
liches Gedicht mit verschiednen Zusätzen, die er teils selbst gemacht, teils ans
andern Dichtungen entlehnt habe, meist ohne Sinn und Verstand versehen
habe. Diese Ansicht stellte der große Gelehrte zunächst (1859) in einer Aus¬
gabe der Odyssee als ein „Fazit ohne Rechnung" auf, holte aber später in
einer Reihe von Aufsätzen den Beweis nach und hatte damit den größten
Erfolg. Beide Meister, Lachmann und Kirchhofs, haben viele Schüler gefunden,
die ihre Ausführungen ergänzten und sie im wegwerfenden Urteil über Stellen,
die jene noch unbeanstandet gelassen hatten, noch übertrafen. Ja ihr Einfluß
war so groß, daß selbst Männer, die das Auge offen behielten für die klar
hervortretende Einheitlichkeit des Plans und der Handlung, nicht nur einzelne
Verse und Versreihen, sondern ganze Bücher willig preisgaben und in dem
verdammenden Urteil über solche Teile der homerischen Gedichte, für die das
Schlagwort „elender Nachahmerstil" allgemeine Aufnahme fand, mit den ver¬
wegensten Lachmannianern und Kirchhoffianern übereinstimmten.

Nichts beweist wohl aber die einzige Größe von Homers Dichterbegabung
deutlicher, als die Thatsache, daß er auch diese mit dem größten Scharfsinn
ein ganzes Jahrhundert hindurch geführten Angriffe glücklich bestanden hat,
daß jetzt Männer, von dem verschiedensten Standpunkt ausgehend, durch ge¬
schichtliche, ästhetische und rein philologische Betrachtung zu dem Ergebnis
gekommen sind, Ilias und Odyssee seien wirkliche Einheiten, Erzeugnisse eines
großen Dichters, nicht bloß Sammlers, und nicht wesentlich verschieden in
ihren Unebenheiten und Widersprüchen von alten und neuern Dichtungen.


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[0389] Die Homerische Frage zu wollen, geradezu „barbarisch" und sah in der „Continuität" und „Reci¬ procität" der Handlung ihre wirksamste Schönheit. Die Wirkung von Wolfs Schrift aber ist weiter gegangen; sie hat die theologischen Untersuchungen über die Bibel ebenso beeinflußt wie die Geschichtsforschung. Man fing erst jetzt an, gründlich das „Quellenverhältnis" zu untersuchen, z.B. zu fragen, wie es mit der Abfassung des Pentateuch stehe, welches das Verhältnis der Synoptiker zu einander sei, oder aus welchen Quellen Livius geschöpft habe und welchen Wert diese hätten. Solange man aber nur Möglichkeiten >erwog, wurde die eigentliche „Ho¬ merische Frage" wenig gefördert, und sie wäre wohl schon längst aus der Welt verschwunden, wenn nicht Karl Lachmann mit dem schärfsten kritischen Verstände die Ilias untersucht und darin soviel Unebenheiten und Widersprüche entdeckt hätte, daß der Glaube an eine einheitliche Schöpfung fortan als Thor¬ heit kritikloser Köpfe erschien. Die Odyssee war lange von diesem Berwerfnngsurteile verschont geblieben. Einzelne Angriffe im Sinne Landmanns blieben ziemlich unbemerkt, bis Adolf Kirchhofs auch ihren bisher viel bewunderten Aufbau, den noch Wolf als das größte Erzeugnis griechischen Geistes gepriesen hatte, als das Werk eines elenden Stümpers hinstellte, der ein älteres, auch schon nicht mehr einheit¬ liches Gedicht mit verschiednen Zusätzen, die er teils selbst gemacht, teils ans andern Dichtungen entlehnt habe, meist ohne Sinn und Verstand versehen habe. Diese Ansicht stellte der große Gelehrte zunächst (1859) in einer Aus¬ gabe der Odyssee als ein „Fazit ohne Rechnung" auf, holte aber später in einer Reihe von Aufsätzen den Beweis nach und hatte damit den größten Erfolg. Beide Meister, Lachmann und Kirchhofs, haben viele Schüler gefunden, die ihre Ausführungen ergänzten und sie im wegwerfenden Urteil über Stellen, die jene noch unbeanstandet gelassen hatten, noch übertrafen. Ja ihr Einfluß war so groß, daß selbst Männer, die das Auge offen behielten für die klar hervortretende Einheitlichkeit des Plans und der Handlung, nicht nur einzelne Verse und Versreihen, sondern ganze Bücher willig preisgaben und in dem verdammenden Urteil über solche Teile der homerischen Gedichte, für die das Schlagwort „elender Nachahmerstil" allgemeine Aufnahme fand, mit den ver¬ wegensten Lachmannianern und Kirchhoffianern übereinstimmten. Nichts beweist wohl aber die einzige Größe von Homers Dichterbegabung deutlicher, als die Thatsache, daß er auch diese mit dem größten Scharfsinn ein ganzes Jahrhundert hindurch geführten Angriffe glücklich bestanden hat, daß jetzt Männer, von dem verschiedensten Standpunkt ausgehend, durch ge¬ schichtliche, ästhetische und rein philologische Betrachtung zu dem Ergebnis gekommen sind, Ilias und Odyssee seien wirkliche Einheiten, Erzeugnisse eines großen Dichters, nicht bloß Sammlers, und nicht wesentlich verschieden in ihren Unebenheiten und Widersprüchen von alten und neuern Dichtungen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/389>, abgerufen am 01.09.2024.