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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

schüttern, ist nur dem erlaubt, der der Überzeugung lebt, daß das Volk mit
seinem bisherigen Glauben zeitlichem oder ewigem Verderben verfalle, und daß
er, der Apostel, den einzige" Weg zum zeitlichen oder ewigen Heil weise. Einmal
wurde ich aufgefordert, eine Beerdigung vorzunehmen; der evangelische Kantor
war so freundlich, sie mit seinen Singjungen zu verschönern. Sonst ist nichts
vorgekommen. Ob etwa Nachbargeistliche Krankenbesuche oder Taufen verrichtet
haben, daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Nur dessen entsinne ich mich
noch, daß der Propst Hühner den Herrn von Kamptz gefragt hat, ob ich ihn
denunziren würde, wenn er in die Lage käme, in Harpersdorf kirchliche
Handlungen vornehmen zu müssen. Darüber konnte ihn Kamptz, der mich genau
kannte, vollständig beruhigen. Das Denunziren liegt meinem Geschmack so fern
wie möglich, und die Unvernunft der Maigesetze empfand vielleicht kaum ein
ultramontaner Geistlicher so lebhaft wie ich, wenn ich auch in meiner ganz
verrückten Lage nicht daran denken konnte, dagegen aufzutreten. Männer wie
den vortrefflichen, in den weitesten Kreisen hochgeschützten Propst Hübner oder
den edeln Aust, der sich dreißig Jahre lang für königlich preußische Schulen
geschunden hatte, ohne je einen Pfennig dafür zu bekommen, einsperren, weil
sie in einer Nachbarpfarrei einen Kranken versehen hätten (und das wäre ihnen
doch vorkommenden Falls begegnet, wenn sich ein Denunziant gefunden hätte),
nein, das war um an den Wänden hinauszulaufen. Und alle nicht fanatisirten
oder durch ein Parteiinteresse voreingenommnen Protestanten empfanden natür¬
lich ebenso. Der Graf Nostitz, erzählte mir Kamptz einmal, habe Hühnern
gesagt: Na, wenn Sie eingesperrt werden, alter Propst, so werden wir, darauf
können Sie sich verlassen, schon dafür sorgen, daß Sie im Gefängnis einen
guten Tropfen bekommen; und zu einem Whist besuchen wir Sie auch. Und
wäre ich in die Lage gekommen, zu einer dringenden Amtshandlung in einer
Nachbargemeinde aufgefordert zu werden, so würde ich sie unbedenklich ohne
die Erlaubnis des Oberpräsidenten vorgenommen haben. Wenn ich in der
oben mitgeteilten Ansprache die Maigesetze für giltig erklärt hatte, so meinte
ich damit nicht, daß der Einzelne verpflichtet sei, sie auch in solchen Füllen
zu beobachten, wo die Beobachtung ungereimt wäre und eine höhere Pflicht
verletzen würde, sondern nur, daß die Verwaltungsbeamten und die Richter
diese Gesetze anwenden dürften, ohne dadurch ihr Gewissen zu beschweren, und
daß sich der Übertreter die Strafe gefallen lassen müsse. Das lief nun aller¬
dings so ziemlich auf die Erlaubtheit des passiven Widerstandes hinaus, die
die ultramontanen Blätter predigten.

(Schluß folgt)




Wandlungen des Ich im Zeitenstrome

schüttern, ist nur dem erlaubt, der der Überzeugung lebt, daß das Volk mit
seinem bisherigen Glauben zeitlichem oder ewigem Verderben verfalle, und daß
er, der Apostel, den einzige» Weg zum zeitlichen oder ewigen Heil weise. Einmal
wurde ich aufgefordert, eine Beerdigung vorzunehmen; der evangelische Kantor
war so freundlich, sie mit seinen Singjungen zu verschönern. Sonst ist nichts
vorgekommen. Ob etwa Nachbargeistliche Krankenbesuche oder Taufen verrichtet
haben, daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Nur dessen entsinne ich mich
noch, daß der Propst Hühner den Herrn von Kamptz gefragt hat, ob ich ihn
denunziren würde, wenn er in die Lage käme, in Harpersdorf kirchliche
Handlungen vornehmen zu müssen. Darüber konnte ihn Kamptz, der mich genau
kannte, vollständig beruhigen. Das Denunziren liegt meinem Geschmack so fern
wie möglich, und die Unvernunft der Maigesetze empfand vielleicht kaum ein
ultramontaner Geistlicher so lebhaft wie ich, wenn ich auch in meiner ganz
verrückten Lage nicht daran denken konnte, dagegen aufzutreten. Männer wie
den vortrefflichen, in den weitesten Kreisen hochgeschützten Propst Hübner oder
den edeln Aust, der sich dreißig Jahre lang für königlich preußische Schulen
geschunden hatte, ohne je einen Pfennig dafür zu bekommen, einsperren, weil
sie in einer Nachbarpfarrei einen Kranken versehen hätten (und das wäre ihnen
doch vorkommenden Falls begegnet, wenn sich ein Denunziant gefunden hätte),
nein, das war um an den Wänden hinauszulaufen. Und alle nicht fanatisirten
oder durch ein Parteiinteresse voreingenommnen Protestanten empfanden natür¬
lich ebenso. Der Graf Nostitz, erzählte mir Kamptz einmal, habe Hühnern
gesagt: Na, wenn Sie eingesperrt werden, alter Propst, so werden wir, darauf
können Sie sich verlassen, schon dafür sorgen, daß Sie im Gefängnis einen
guten Tropfen bekommen; und zu einem Whist besuchen wir Sie auch. Und
wäre ich in die Lage gekommen, zu einer dringenden Amtshandlung in einer
Nachbargemeinde aufgefordert zu werden, so würde ich sie unbedenklich ohne
die Erlaubnis des Oberpräsidenten vorgenommen haben. Wenn ich in der
oben mitgeteilten Ansprache die Maigesetze für giltig erklärt hatte, so meinte
ich damit nicht, daß der Einzelne verpflichtet sei, sie auch in solchen Füllen
zu beobachten, wo die Beobachtung ungereimt wäre und eine höhere Pflicht
verletzen würde, sondern nur, daß die Verwaltungsbeamten und die Richter
diese Gesetze anwenden dürften, ohne dadurch ihr Gewissen zu beschweren, und
daß sich der Übertreter die Strafe gefallen lassen müsse. Das lief nun aller¬
dings so ziemlich auf die Erlaubtheit des passiven Widerstandes hinaus, die
die ultramontanen Blätter predigten.

(Schluß folgt)




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/386>, abgerufen am 01.09.2024.