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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Die Lmser Legende

durchaus gegen den Krieg gewesen. Aber nach dem, was wir heute wissen,
wäre der Krieg im September doch ausgebrochen, oder spätestens im nächsten
Frühjahr. Wir können das jetzt beweisen; geahnt haben es ja schon seit 1870
sehr viele.

Wie ist es nun gekommen, daß der Krieg nicht im Herbst, sondern im
Hochsommer ausbrach, also zu einer Zeit, wo uns die Russen noch den Rücken
decken, nämlich auf ihren Landwegen noch marschieren konnten?

Wir müssen zunächst nach Ems zurückkehren. Dort mußte Benedetti am
13. Juli wiederholt versuchen, den König Wilhelm zu dem Zugeständnis zu
bewegen, daß er auch "für alle Zukunft" seine Einwilligung verweigern werde,
wenn die Hohenzollern je wieder auf die Kandidatur zurückkommen sollten.
Diese Zumutung wurde jedesmal abgelehnt, ebenso die noch tollere, einen Ent¬
schuldigungsbrief an Napoleon zu schreiben. Aber alles geschah in durchaus
höflichen Formen; ja am Abend, unmittelbar vor seiner Abreise, hat der König
den Botschafter noch auf dem Bahnhof zu einer kurzen Abschiedsaudienz em¬
pfangen. Benedetti versichert in seinen Büchern, es habe in Ems keinen Be¬
leidiger und keinen Beleidigten gegeben; und als ihm die Emser Depesche be¬
kannt wurde, telegraphirte er nur an Grammont, die Sache sei richtig, er
habe aber mit niemand darüber gesprochen, die Veröffentlichung sei also nicht
von ihm ausgegangen.

Viele Leser, die die geschichtlichen Einzelschriften nicht verfolgt haben,
werden fragen: Aber der Denkstein auf der Emser Promenade? Und jene
Worte des Volksliedes?: "Sagte gar nichts weiter, Sündern j Wandte sich
so, daß bewundern, j Jener seinen Rücken kann." Ist denn das alles unge¬
schichtlich? Allerdings. König Wilhelm ist also von Benedetti nicht persön¬
lich beleidigt worden? Nein. Wir Deutschen haben also kein Recht, uns durch
die Emser Vorgänge gekränkt zu fühlen? Das haben wir nicht gesagt. Es
gab allerdings einen Beleidiger und einen Beleidigten in Ems. Das waren
das französische und das deutsche Volk. Durch die unverbrüchlichen gesellschaft¬
lichen Formen, in denen so hohe Herren mit einander verkehren müssen, war
der Schimpf, den man Deutschland angethan hatte, verdeckt worden, ja die
diplomatischen Formen haben die Sachlage geradezu gefälscht!

Es gereicht König Wilhelm zum höchsten Ruhme (und wenige Menschen
werden ihm das nachmachen, wenn sie Händel bekommen), daß er seine Ruhe
bewahrt und die Form nicht verletzt hat, obwohl er über die Zumutungen sehr
entrüstet war. Aber sein Minister hat durch Schürfung jener Emser Depesche
den Fehler der höflichen Formen wieder korrigirt. Bismarck hat die höflichen
Formen, die die Herausforderung der französischen Nation an die deutsche ver¬
hüllten, mit einem Nuck hinweggerissen und nackt und groß das ungeheure
Bild der Wahrheit aller Welt vor Augen gestellt. Wohlgemerkt, das Bild der
Wahrheit. Denn die Erzählung, daß König Wilhelm Herrn Benedetti den
Rücken gewandt habe, ist eben auch nur eine Legende, glücklicherweise eine echte


Die Lmser Legende

durchaus gegen den Krieg gewesen. Aber nach dem, was wir heute wissen,
wäre der Krieg im September doch ausgebrochen, oder spätestens im nächsten
Frühjahr. Wir können das jetzt beweisen; geahnt haben es ja schon seit 1870
sehr viele.

Wie ist es nun gekommen, daß der Krieg nicht im Herbst, sondern im
Hochsommer ausbrach, also zu einer Zeit, wo uns die Russen noch den Rücken
decken, nämlich auf ihren Landwegen noch marschieren konnten?

Wir müssen zunächst nach Ems zurückkehren. Dort mußte Benedetti am
13. Juli wiederholt versuchen, den König Wilhelm zu dem Zugeständnis zu
bewegen, daß er auch „für alle Zukunft" seine Einwilligung verweigern werde,
wenn die Hohenzollern je wieder auf die Kandidatur zurückkommen sollten.
Diese Zumutung wurde jedesmal abgelehnt, ebenso die noch tollere, einen Ent¬
schuldigungsbrief an Napoleon zu schreiben. Aber alles geschah in durchaus
höflichen Formen; ja am Abend, unmittelbar vor seiner Abreise, hat der König
den Botschafter noch auf dem Bahnhof zu einer kurzen Abschiedsaudienz em¬
pfangen. Benedetti versichert in seinen Büchern, es habe in Ems keinen Be¬
leidiger und keinen Beleidigten gegeben; und als ihm die Emser Depesche be¬
kannt wurde, telegraphirte er nur an Grammont, die Sache sei richtig, er
habe aber mit niemand darüber gesprochen, die Veröffentlichung sei also nicht
von ihm ausgegangen.

Viele Leser, die die geschichtlichen Einzelschriften nicht verfolgt haben,
werden fragen: Aber der Denkstein auf der Emser Promenade? Und jene
Worte des Volksliedes?: „Sagte gar nichts weiter, Sündern j Wandte sich
so, daß bewundern, j Jener seinen Rücken kann." Ist denn das alles unge¬
schichtlich? Allerdings. König Wilhelm ist also von Benedetti nicht persön¬
lich beleidigt worden? Nein. Wir Deutschen haben also kein Recht, uns durch
die Emser Vorgänge gekränkt zu fühlen? Das haben wir nicht gesagt. Es
gab allerdings einen Beleidiger und einen Beleidigten in Ems. Das waren
das französische und das deutsche Volk. Durch die unverbrüchlichen gesellschaft¬
lichen Formen, in denen so hohe Herren mit einander verkehren müssen, war
der Schimpf, den man Deutschland angethan hatte, verdeckt worden, ja die
diplomatischen Formen haben die Sachlage geradezu gefälscht!

Es gereicht König Wilhelm zum höchsten Ruhme (und wenige Menschen
werden ihm das nachmachen, wenn sie Händel bekommen), daß er seine Ruhe
bewahrt und die Form nicht verletzt hat, obwohl er über die Zumutungen sehr
entrüstet war. Aber sein Minister hat durch Schürfung jener Emser Depesche
den Fehler der höflichen Formen wieder korrigirt. Bismarck hat die höflichen
Formen, die die Herausforderung der französischen Nation an die deutsche ver¬
hüllten, mit einem Nuck hinweggerissen und nackt und groß das ungeheure
Bild der Wahrheit aller Welt vor Augen gestellt. Wohlgemerkt, das Bild der
Wahrheit. Denn die Erzählung, daß König Wilhelm Herrn Benedetti den
Rücken gewandt habe, ist eben auch nur eine Legende, glücklicherweise eine echte


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[0038] Die Lmser Legende durchaus gegen den Krieg gewesen. Aber nach dem, was wir heute wissen, wäre der Krieg im September doch ausgebrochen, oder spätestens im nächsten Frühjahr. Wir können das jetzt beweisen; geahnt haben es ja schon seit 1870 sehr viele. Wie ist es nun gekommen, daß der Krieg nicht im Herbst, sondern im Hochsommer ausbrach, also zu einer Zeit, wo uns die Russen noch den Rücken decken, nämlich auf ihren Landwegen noch marschieren konnten? Wir müssen zunächst nach Ems zurückkehren. Dort mußte Benedetti am 13. Juli wiederholt versuchen, den König Wilhelm zu dem Zugeständnis zu bewegen, daß er auch „für alle Zukunft" seine Einwilligung verweigern werde, wenn die Hohenzollern je wieder auf die Kandidatur zurückkommen sollten. Diese Zumutung wurde jedesmal abgelehnt, ebenso die noch tollere, einen Ent¬ schuldigungsbrief an Napoleon zu schreiben. Aber alles geschah in durchaus höflichen Formen; ja am Abend, unmittelbar vor seiner Abreise, hat der König den Botschafter noch auf dem Bahnhof zu einer kurzen Abschiedsaudienz em¬ pfangen. Benedetti versichert in seinen Büchern, es habe in Ems keinen Be¬ leidiger und keinen Beleidigten gegeben; und als ihm die Emser Depesche be¬ kannt wurde, telegraphirte er nur an Grammont, die Sache sei richtig, er habe aber mit niemand darüber gesprochen, die Veröffentlichung sei also nicht von ihm ausgegangen. Viele Leser, die die geschichtlichen Einzelschriften nicht verfolgt haben, werden fragen: Aber der Denkstein auf der Emser Promenade? Und jene Worte des Volksliedes?: „Sagte gar nichts weiter, Sündern j Wandte sich so, daß bewundern, j Jener seinen Rücken kann." Ist denn das alles unge¬ schichtlich? Allerdings. König Wilhelm ist also von Benedetti nicht persön¬ lich beleidigt worden? Nein. Wir Deutschen haben also kein Recht, uns durch die Emser Vorgänge gekränkt zu fühlen? Das haben wir nicht gesagt. Es gab allerdings einen Beleidiger und einen Beleidigten in Ems. Das waren das französische und das deutsche Volk. Durch die unverbrüchlichen gesellschaft¬ lichen Formen, in denen so hohe Herren mit einander verkehren müssen, war der Schimpf, den man Deutschland angethan hatte, verdeckt worden, ja die diplomatischen Formen haben die Sachlage geradezu gefälscht! Es gereicht König Wilhelm zum höchsten Ruhme (und wenige Menschen werden ihm das nachmachen, wenn sie Händel bekommen), daß er seine Ruhe bewahrt und die Form nicht verletzt hat, obwohl er über die Zumutungen sehr entrüstet war. Aber sein Minister hat durch Schürfung jener Emser Depesche den Fehler der höflichen Formen wieder korrigirt. Bismarck hat die höflichen Formen, die die Herausforderung der französischen Nation an die deutsche ver¬ hüllten, mit einem Nuck hinweggerissen und nackt und groß das ungeheure Bild der Wahrheit aller Welt vor Augen gestellt. Wohlgemerkt, das Bild der Wahrheit. Denn die Erzählung, daß König Wilhelm Herrn Benedetti den Rücken gewandt habe, ist eben auch nur eine Legende, glücklicherweise eine echte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/38>, abgerufen am 01.09.2024.