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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Verschuldung tritt aber unbedingt da ein, wo menschliche Hingebung erst hin¬
genommen und dann schmählich verraten und getäuscht wird. Es ist zuzu¬
geben, daß der Künstler, jeder bedeutende Mensch, in die Lage kommen kann,
entweder ein menschliches Verhältnis oder sich selbst aufgeben zu müssen, und
es ist dann nur natürlich, wenn er das erstere wählt; denn er ist als Künstler
geboren, und man kann niemandem zumuten, Selbstmord zu begehen. Aber
ohne Schuld wird er auch in diesem Fall nicht bleiben, ein Künstlerrecht giebt
es auch hier uicht. Gerade der echte, der große Künstler wird auch, des bin
ich überzeugt, von allen Sonderrechten nichts wissen, er wird weiter nichts
als Mensch sein wollen und zufrieden sein, wenn er für sein Leben und sein
Handeln die milde Beurteilung und mögliche Entschuldigung findet, deren wir
alle bedürfe", da wir allzumal Sünder sind. Die aber, die ans ihre Künstler¬
rechte pochen, werden selten wahre Künstler, höchstens Virtuosen (im weitern
Sinne) sein, die, weil sie meist nicht wahrhaft produktiv sind, also kein mäch¬
tiges inneres Leben haben, ein bewegtes äußeres als Ersatz gewinnen wollen
und endlich mit dem Leben spielen, wie auf ihrem Instrument.

Ganz dasselbe, was von den Künstlerrechten gilt, gilt von den Königs¬
rechten. Unter "König" ist hier natürlich jeder zu verstehen, der aktiv in die
Geschicke der Menschheit eingreift, der Thatmensch gegenüber dem ncichgestnl-
tenden Künstler. Das Privatleben der Großen dieser Erde betrachtet man
schon lange ganz von dem Standpunkte, den man dem des gewöhnlichen
Bürgers gegenüber einnimmt, aber man macht bisweilen noch Versuche, zwischen
einer privaten und öffentlichen oder Staatsmoral zu unterscheiden. Die Unter¬
scheidung ist natürlich unhaltbar, wenn es anch verkehrt ist, aus engsten Ver¬
hältnissen genommene Grundsätze ohne weiteres auf große und weite zu über¬
tragen; denn alles will uuter seinen natürlichen Bedingungen beurteilt sein.
Aber Privat- und Völkerrecht haben unbedingt die gemeinschaftliche sittliche
Grundlage. Uns geht hier namentlich wieder der Fall an, wo sich eine große
Persönlichkeit durchzusetzen versucht. Ich behaupte, daß auch der Thatmensch
keineswegs skrupellos in der Wahl seiner Mittel zu sein und die Schwächern
zu vergewaltigen braucht. Aber freilich empfinden viele Menschen schon das
bloße Beherrschtwerden als Vergewaltigung. Je größer ein Mensch ist, je höher
stehen auch seiue Mittel, Napoleon I. schreckte vor dem Äußersten nicht zurück,
aber Dezembermorde wie Napoleon III. hat er denn doch nicht gebraucht;
denn die Niederkartätschung eines wohlorganisirten Aufstandes wird man doch
lvohl nicht mit dem feigen Mord unbewaffneter Volksmassen vergleichen. Bis-
mcirck ließ es auf einen Verfassungsbruch ankommen, aber er war auch bereit,
für seinen König den Weg eines Stafford zu gehen; da ist dann der sittliche
Ausgleich. Bemächtigt sich ein Thatmensch auf unrechtmäßige Weise der Herr¬
schaft, so enthebt ihn nie das Recht der Persönlichkeit der Verantwortung, oft
aber etwas andres: mag Gewalt manchmal vor Recht gehen, vielfach ist, wo


Verschuldung tritt aber unbedingt da ein, wo menschliche Hingebung erst hin¬
genommen und dann schmählich verraten und getäuscht wird. Es ist zuzu¬
geben, daß der Künstler, jeder bedeutende Mensch, in die Lage kommen kann,
entweder ein menschliches Verhältnis oder sich selbst aufgeben zu müssen, und
es ist dann nur natürlich, wenn er das erstere wählt; denn er ist als Künstler
geboren, und man kann niemandem zumuten, Selbstmord zu begehen. Aber
ohne Schuld wird er auch in diesem Fall nicht bleiben, ein Künstlerrecht giebt
es auch hier uicht. Gerade der echte, der große Künstler wird auch, des bin
ich überzeugt, von allen Sonderrechten nichts wissen, er wird weiter nichts
als Mensch sein wollen und zufrieden sein, wenn er für sein Leben und sein
Handeln die milde Beurteilung und mögliche Entschuldigung findet, deren wir
alle bedürfe», da wir allzumal Sünder sind. Die aber, die ans ihre Künstler¬
rechte pochen, werden selten wahre Künstler, höchstens Virtuosen (im weitern
Sinne) sein, die, weil sie meist nicht wahrhaft produktiv sind, also kein mäch¬
tiges inneres Leben haben, ein bewegtes äußeres als Ersatz gewinnen wollen
und endlich mit dem Leben spielen, wie auf ihrem Instrument.

Ganz dasselbe, was von den Künstlerrechten gilt, gilt von den Königs¬
rechten. Unter „König" ist hier natürlich jeder zu verstehen, der aktiv in die
Geschicke der Menschheit eingreift, der Thatmensch gegenüber dem ncichgestnl-
tenden Künstler. Das Privatleben der Großen dieser Erde betrachtet man
schon lange ganz von dem Standpunkte, den man dem des gewöhnlichen
Bürgers gegenüber einnimmt, aber man macht bisweilen noch Versuche, zwischen
einer privaten und öffentlichen oder Staatsmoral zu unterscheiden. Die Unter¬
scheidung ist natürlich unhaltbar, wenn es anch verkehrt ist, aus engsten Ver¬
hältnissen genommene Grundsätze ohne weiteres auf große und weite zu über¬
tragen; denn alles will uuter seinen natürlichen Bedingungen beurteilt sein.
Aber Privat- und Völkerrecht haben unbedingt die gemeinschaftliche sittliche
Grundlage. Uns geht hier namentlich wieder der Fall an, wo sich eine große
Persönlichkeit durchzusetzen versucht. Ich behaupte, daß auch der Thatmensch
keineswegs skrupellos in der Wahl seiner Mittel zu sein und die Schwächern
zu vergewaltigen braucht. Aber freilich empfinden viele Menschen schon das
bloße Beherrschtwerden als Vergewaltigung. Je größer ein Mensch ist, je höher
stehen auch seiue Mittel, Napoleon I. schreckte vor dem Äußersten nicht zurück,
aber Dezembermorde wie Napoleon III. hat er denn doch nicht gebraucht;
denn die Niederkartätschung eines wohlorganisirten Aufstandes wird man doch
lvohl nicht mit dem feigen Mord unbewaffneter Volksmassen vergleichen. Bis-
mcirck ließ es auf einen Verfassungsbruch ankommen, aber er war auch bereit,
für seinen König den Weg eines Stafford zu gehen; da ist dann der sittliche
Ausgleich. Bemächtigt sich ein Thatmensch auf unrechtmäßige Weise der Herr¬
schaft, so enthebt ihn nie das Recht der Persönlichkeit der Verantwortung, oft
aber etwas andres: mag Gewalt manchmal vor Recht gehen, vielfach ist, wo


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[0375] Verschuldung tritt aber unbedingt da ein, wo menschliche Hingebung erst hin¬ genommen und dann schmählich verraten und getäuscht wird. Es ist zuzu¬ geben, daß der Künstler, jeder bedeutende Mensch, in die Lage kommen kann, entweder ein menschliches Verhältnis oder sich selbst aufgeben zu müssen, und es ist dann nur natürlich, wenn er das erstere wählt; denn er ist als Künstler geboren, und man kann niemandem zumuten, Selbstmord zu begehen. Aber ohne Schuld wird er auch in diesem Fall nicht bleiben, ein Künstlerrecht giebt es auch hier uicht. Gerade der echte, der große Künstler wird auch, des bin ich überzeugt, von allen Sonderrechten nichts wissen, er wird weiter nichts als Mensch sein wollen und zufrieden sein, wenn er für sein Leben und sein Handeln die milde Beurteilung und mögliche Entschuldigung findet, deren wir alle bedürfe», da wir allzumal Sünder sind. Die aber, die ans ihre Künstler¬ rechte pochen, werden selten wahre Künstler, höchstens Virtuosen (im weitern Sinne) sein, die, weil sie meist nicht wahrhaft produktiv sind, also kein mäch¬ tiges inneres Leben haben, ein bewegtes äußeres als Ersatz gewinnen wollen und endlich mit dem Leben spielen, wie auf ihrem Instrument. Ganz dasselbe, was von den Künstlerrechten gilt, gilt von den Königs¬ rechten. Unter „König" ist hier natürlich jeder zu verstehen, der aktiv in die Geschicke der Menschheit eingreift, der Thatmensch gegenüber dem ncichgestnl- tenden Künstler. Das Privatleben der Großen dieser Erde betrachtet man schon lange ganz von dem Standpunkte, den man dem des gewöhnlichen Bürgers gegenüber einnimmt, aber man macht bisweilen noch Versuche, zwischen einer privaten und öffentlichen oder Staatsmoral zu unterscheiden. Die Unter¬ scheidung ist natürlich unhaltbar, wenn es anch verkehrt ist, aus engsten Ver¬ hältnissen genommene Grundsätze ohne weiteres auf große und weite zu über¬ tragen; denn alles will uuter seinen natürlichen Bedingungen beurteilt sein. Aber Privat- und Völkerrecht haben unbedingt die gemeinschaftliche sittliche Grundlage. Uns geht hier namentlich wieder der Fall an, wo sich eine große Persönlichkeit durchzusetzen versucht. Ich behaupte, daß auch der Thatmensch keineswegs skrupellos in der Wahl seiner Mittel zu sein und die Schwächern zu vergewaltigen braucht. Aber freilich empfinden viele Menschen schon das bloße Beherrschtwerden als Vergewaltigung. Je größer ein Mensch ist, je höher stehen auch seiue Mittel, Napoleon I. schreckte vor dem Äußersten nicht zurück, aber Dezembermorde wie Napoleon III. hat er denn doch nicht gebraucht; denn die Niederkartätschung eines wohlorganisirten Aufstandes wird man doch lvohl nicht mit dem feigen Mord unbewaffneter Volksmassen vergleichen. Bis- mcirck ließ es auf einen Verfassungsbruch ankommen, aber er war auch bereit, für seinen König den Weg eines Stafford zu gehen; da ist dann der sittliche Ausgleich. Bemächtigt sich ein Thatmensch auf unrechtmäßige Weise der Herr¬ schaft, so enthebt ihn nie das Recht der Persönlichkeit der Verantwortung, oft aber etwas andres: mag Gewalt manchmal vor Recht gehen, vielfach ist, wo

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/375>, abgerufen am 01.09.2024.