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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Das Recht der Persönlichkeit

Auch hat der Begriff "Persönlichkeit" wirklich, vom Geschlecht ganz abgesehen,
einen weitern Umfang als der Begriff "Mann," wie auch als der verwandte,
nur uach der Willensseite gehende "Charakter," er entspricht eher dem früher
auch für ihn verwendeten "Individualität." Man kann eine Persönlichkeit
und braucht noch kein Mann zu sein, wie denn unsre Dekadenten z.B. wohl
Persönlichkeiten, Individualitäten, aber nicht Männer zu heißen verlangen
dürfen. "Persönlichkeit" soll also (um die Begriffsbestimmung rasch zu be¬
enden) einfach "eigenartiger Mensch" bedeuten -- daß das Wort "eigenartig"
infolge des damit getriebnen Unfugs bereits eine abgegriffne Münze geworden
ist, dafür kann ich nicht --, und die Persönlichkeiten werden zu der sogenannten
Dutzendware der Natur, den Klischeemenschen, dem Herdenvieh in den schärfsten
Gegensatz gestellt, ihnen auch, frei nach Nietzsche, ein eignes Recht eingeräumt.
Übersehen darf man endlich nicht, daß in dem modernen Begriff "Persönlich¬
keit" noch eine ursprünglich in dem Worte nicht enthaltene Nebenbedeutung
steckt: als Persönlichkeit gilt unter allen Umständen nur, was sich als solche
geltend macht, und wir geraten daher hier in eine bedenkliche Nähe des schönen
Begriffs der "Schneidigkeit." Als dieser in der allgemeinen Schätzung soweit
heruntergekommen war, daß ihn nur noch die Nah- und Dienstmädchen von
ihren Schützen gebrauchten, da mußte etwas neues oder vielmehr modernes
für die höhern Kreise erfunden werden, und da man das Nietzschifche "Über¬
mensch" nicht brauchen konnte, so verfiel man auf "Persönlichkeit." Das ist
allerdings nur meine bescheidne Mutmaßung, aber sie hat etwas für sich, und
vielleicht erleben wirs noch, daß sich jeder Kommis und jeder Friseurgehilfe
für eine "Persönlichkeit," in Anführungszeichen, versteht sich, erklärt und das
"große Recht der Persönlichkeit" für sich in Anspruch nimmt. Wer wills ihnen
auch abstreiten?

Im Grunde sind wir ja alle Persönlichkeiten, Individualitäten. Wie man
kaum zwei Gesichter findet, die sich vollständig gleichen, so weist auch das
Wesen jedes Menschen wenigstens einen individuellen Zug auf. Das ist ein
Gemeinplatz, aber der ihm auf der andern Seite entsprechende Satz, daß man
die große Masse der Menschen nach Eigenschaften und Neigungen in einen
Topf werfen kann, ist auch einer. In Wirklichkeit giebt es doch den Normal¬
menschen nicht, und die Grenze, wo dieser aufhört und der lloroo sui "engris
beginnt, ist nicht zu ziehen. Geben hervorragendere Verstcmdeskrüfte, größere
Gefühlstiefe, stärkere Willenskraft, geben besondre Anlagen das Recht auf deu
Ehrentitel "Persönlichkeit", giebt eine bestimmte harmonische Verbindung dieser
Dinge dieses Recht? Diese vielleicht am wenigsten, glaube ich; denn auf das
Unterscheidende kommt es an. Nun kann ich mich aber in einem, in manchem
von andern unterscheiden und doch in der Hauptsache wie sie sein. Im all¬
gemeinen beurteilt man die Menschen darnach, wie sie im persönlichen Verkehr
sind, und dann nach ihren Leistungen. Da treffe ich auf einen Menschen, der


Grenzboten I 1896 4<!
Das Recht der Persönlichkeit

Auch hat der Begriff „Persönlichkeit" wirklich, vom Geschlecht ganz abgesehen,
einen weitern Umfang als der Begriff „Mann," wie auch als der verwandte,
nur uach der Willensseite gehende „Charakter," er entspricht eher dem früher
auch für ihn verwendeten „Individualität." Man kann eine Persönlichkeit
und braucht noch kein Mann zu sein, wie denn unsre Dekadenten z.B. wohl
Persönlichkeiten, Individualitäten, aber nicht Männer zu heißen verlangen
dürfen. „Persönlichkeit" soll also (um die Begriffsbestimmung rasch zu be¬
enden) einfach „eigenartiger Mensch" bedeuten — daß das Wort „eigenartig"
infolge des damit getriebnen Unfugs bereits eine abgegriffne Münze geworden
ist, dafür kann ich nicht —, und die Persönlichkeiten werden zu der sogenannten
Dutzendware der Natur, den Klischeemenschen, dem Herdenvieh in den schärfsten
Gegensatz gestellt, ihnen auch, frei nach Nietzsche, ein eignes Recht eingeräumt.
Übersehen darf man endlich nicht, daß in dem modernen Begriff „Persönlich¬
keit" noch eine ursprünglich in dem Worte nicht enthaltene Nebenbedeutung
steckt: als Persönlichkeit gilt unter allen Umständen nur, was sich als solche
geltend macht, und wir geraten daher hier in eine bedenkliche Nähe des schönen
Begriffs der „Schneidigkeit." Als dieser in der allgemeinen Schätzung soweit
heruntergekommen war, daß ihn nur noch die Nah- und Dienstmädchen von
ihren Schützen gebrauchten, da mußte etwas neues oder vielmehr modernes
für die höhern Kreise erfunden werden, und da man das Nietzschifche „Über¬
mensch" nicht brauchen konnte, so verfiel man auf „Persönlichkeit." Das ist
allerdings nur meine bescheidne Mutmaßung, aber sie hat etwas für sich, und
vielleicht erleben wirs noch, daß sich jeder Kommis und jeder Friseurgehilfe
für eine „Persönlichkeit," in Anführungszeichen, versteht sich, erklärt und das
„große Recht der Persönlichkeit" für sich in Anspruch nimmt. Wer wills ihnen
auch abstreiten?

Im Grunde sind wir ja alle Persönlichkeiten, Individualitäten. Wie man
kaum zwei Gesichter findet, die sich vollständig gleichen, so weist auch das
Wesen jedes Menschen wenigstens einen individuellen Zug auf. Das ist ein
Gemeinplatz, aber der ihm auf der andern Seite entsprechende Satz, daß man
die große Masse der Menschen nach Eigenschaften und Neigungen in einen
Topf werfen kann, ist auch einer. In Wirklichkeit giebt es doch den Normal¬
menschen nicht, und die Grenze, wo dieser aufhört und der lloroo sui »engris
beginnt, ist nicht zu ziehen. Geben hervorragendere Verstcmdeskrüfte, größere
Gefühlstiefe, stärkere Willenskraft, geben besondre Anlagen das Recht auf deu
Ehrentitel „Persönlichkeit", giebt eine bestimmte harmonische Verbindung dieser
Dinge dieses Recht? Diese vielleicht am wenigsten, glaube ich; denn auf das
Unterscheidende kommt es an. Nun kann ich mich aber in einem, in manchem
von andern unterscheiden und doch in der Hauptsache wie sie sein. Im all¬
gemeinen beurteilt man die Menschen darnach, wie sie im persönlichen Verkehr
sind, und dann nach ihren Leistungen. Da treffe ich auf einen Menschen, der


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[0369] Das Recht der Persönlichkeit Auch hat der Begriff „Persönlichkeit" wirklich, vom Geschlecht ganz abgesehen, einen weitern Umfang als der Begriff „Mann," wie auch als der verwandte, nur uach der Willensseite gehende „Charakter," er entspricht eher dem früher auch für ihn verwendeten „Individualität." Man kann eine Persönlichkeit und braucht noch kein Mann zu sein, wie denn unsre Dekadenten z.B. wohl Persönlichkeiten, Individualitäten, aber nicht Männer zu heißen verlangen dürfen. „Persönlichkeit" soll also (um die Begriffsbestimmung rasch zu be¬ enden) einfach „eigenartiger Mensch" bedeuten — daß das Wort „eigenartig" infolge des damit getriebnen Unfugs bereits eine abgegriffne Münze geworden ist, dafür kann ich nicht —, und die Persönlichkeiten werden zu der sogenannten Dutzendware der Natur, den Klischeemenschen, dem Herdenvieh in den schärfsten Gegensatz gestellt, ihnen auch, frei nach Nietzsche, ein eignes Recht eingeräumt. Übersehen darf man endlich nicht, daß in dem modernen Begriff „Persönlich¬ keit" noch eine ursprünglich in dem Worte nicht enthaltene Nebenbedeutung steckt: als Persönlichkeit gilt unter allen Umständen nur, was sich als solche geltend macht, und wir geraten daher hier in eine bedenkliche Nähe des schönen Begriffs der „Schneidigkeit." Als dieser in der allgemeinen Schätzung soweit heruntergekommen war, daß ihn nur noch die Nah- und Dienstmädchen von ihren Schützen gebrauchten, da mußte etwas neues oder vielmehr modernes für die höhern Kreise erfunden werden, und da man das Nietzschifche „Über¬ mensch" nicht brauchen konnte, so verfiel man auf „Persönlichkeit." Das ist allerdings nur meine bescheidne Mutmaßung, aber sie hat etwas für sich, und vielleicht erleben wirs noch, daß sich jeder Kommis und jeder Friseurgehilfe für eine „Persönlichkeit," in Anführungszeichen, versteht sich, erklärt und das „große Recht der Persönlichkeit" für sich in Anspruch nimmt. Wer wills ihnen auch abstreiten? Im Grunde sind wir ja alle Persönlichkeiten, Individualitäten. Wie man kaum zwei Gesichter findet, die sich vollständig gleichen, so weist auch das Wesen jedes Menschen wenigstens einen individuellen Zug auf. Das ist ein Gemeinplatz, aber der ihm auf der andern Seite entsprechende Satz, daß man die große Masse der Menschen nach Eigenschaften und Neigungen in einen Topf werfen kann, ist auch einer. In Wirklichkeit giebt es doch den Normal¬ menschen nicht, und die Grenze, wo dieser aufhört und der lloroo sui »engris beginnt, ist nicht zu ziehen. Geben hervorragendere Verstcmdeskrüfte, größere Gefühlstiefe, stärkere Willenskraft, geben besondre Anlagen das Recht auf deu Ehrentitel „Persönlichkeit", giebt eine bestimmte harmonische Verbindung dieser Dinge dieses Recht? Diese vielleicht am wenigsten, glaube ich; denn auf das Unterscheidende kommt es an. Nun kann ich mich aber in einem, in manchem von andern unterscheiden und doch in der Hauptsache wie sie sein. Im all¬ gemeinen beurteilt man die Menschen darnach, wie sie im persönlichen Verkehr sind, und dann nach ihren Leistungen. Da treffe ich auf einen Menschen, der Grenzboten I 1896 4<!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/369>, abgerufen am 01.09.2024.