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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Englische Bündnisbestrebungen

Würde die Welt durchschauern, und die Menschheit würde sich von einem Alp¬
drücken befreit fühlen!" Das nimmt sich in einer nüchternen englischen Zeit¬
schrift sehr sonderbar aus.

Die bedeutendste Leistung ist wohl der Aufsatz, den Mr. Se. Loe Stranses
in der Mtiong.1 ü,sol"zvv zu dem Thema der Bündnisse veröffentlicht hat. Er
ist auch deshalb besonders bemerkenswert, weil er zeigt, wie die ganz uner¬
wartete jüngste Entwicklung der Dinge selbst einen so streng konservativen
Publizisten wie Mr. Stranses vermocht hat, der ganzen Veaconsfieldschen Tra¬
dition mit einer kurz entschlossenen Wendung den Rücken zu kehren und ohne
alle Gewissensbisse über diese Ketzerei den Vorschlag zu machen, Konstantinopel
den Russen auszuhändigen. Er geht bei seinen Ausführungen davon aus, daß
England nicht länger auf die Freundschaft Deutschlands rechnen könne.

Dadurch ist England an den Scheideweg gestellt. Sollen wir, fragt er,
um die Freundschaft Berlins zu gewinnen, unsern Anschluß an den Dreibund
anbieten, oder sollen wir uns kühn einer neuen Verbindung zuwenden? Er ist
der Meinung, daß der erstere Schritt aus verschiednen Gründen unmöglich sei,
namentlich deshalb, weil sich England dadurch verpflichten würde, Deutschland
in einem Kriege, in dem Frankreich die Verlornen Provinzen wiederzugewinnen
suchte, Hilfe zu leisten. Dies, meint er, würde das sittliche Ehrgefühl des
englischen Volks empören, daher sei an einen Anschluß an den Dreibund nicht
zu denken. Es bleibt also nur ein Einverständnis mit Rußland, und ein
solches Einverständnis sollte den Grundton der englischen Politik bilden. Warum
sollten sich auch die zwei Mächte nicht verständigen können! Eine natürliche
Feindschaft zwischen ihnen besteht nicht. Rußland ist nicht Kolonialmacht in
Afrika und kann auch nicht als Nebenbuhler Englands auf dem Weltmarkt be¬
zeichnet werden. Giebt es nun irgend etwas in den Zielen der russischen
Politik, das einem Bündnis mit England entgegenstehen könnte? Allerdings:
Rußlands sehnlichstes Verlangen ist auf Konstantinopel gerichtet. Würde aber
Rußlands Besitz von Konstantinopel England zum Nachteil gereichen? Mr.
Strachey verneint das. Für die entgegengesetzte Ansicht hat es bisher immer
als der stärkste Beweis gegolten, daß der Besitz von Konstantinopel Rußland
so stark zur See machen würde, daß England sich nicht länger im Mittel¬
ländischen Meere halten könnte. Das ist nach der Ansicht des Verfassers ein
Irrtum, und zwar hat er dafür folgende Beweisführung, die freilich auf sehr
schwachen Füßen steht: "Seemacht beruht nicht auf dem Besitz von Häfen, in
denen man seine Schiffe vor der feindlichen Flotte verbergen kann -- dazu
eignet sich Konstantinopel ohne Zweifel --, sondern sie beruht auf dem Besitz
von Schiffen, die die feindlichen Schiffe schlagen können. Nußland ist eine
Gefahr für uns, wenn es eine große Flotte baut, nicht wenn es einen Ort
besitzt, wo diese Schutz finden kann. Wie soll aber der Besitz von Konstanti¬
nopel Rußland in den Stand setzen, mehr Schiffe zu bauen und eine bessere


Englische Bündnisbestrebungen

Würde die Welt durchschauern, und die Menschheit würde sich von einem Alp¬
drücken befreit fühlen!" Das nimmt sich in einer nüchternen englischen Zeit¬
schrift sehr sonderbar aus.

Die bedeutendste Leistung ist wohl der Aufsatz, den Mr. Se. Loe Stranses
in der Mtiong.1 ü,sol«zvv zu dem Thema der Bündnisse veröffentlicht hat. Er
ist auch deshalb besonders bemerkenswert, weil er zeigt, wie die ganz uner¬
wartete jüngste Entwicklung der Dinge selbst einen so streng konservativen
Publizisten wie Mr. Stranses vermocht hat, der ganzen Veaconsfieldschen Tra¬
dition mit einer kurz entschlossenen Wendung den Rücken zu kehren und ohne
alle Gewissensbisse über diese Ketzerei den Vorschlag zu machen, Konstantinopel
den Russen auszuhändigen. Er geht bei seinen Ausführungen davon aus, daß
England nicht länger auf die Freundschaft Deutschlands rechnen könne.

Dadurch ist England an den Scheideweg gestellt. Sollen wir, fragt er,
um die Freundschaft Berlins zu gewinnen, unsern Anschluß an den Dreibund
anbieten, oder sollen wir uns kühn einer neuen Verbindung zuwenden? Er ist
der Meinung, daß der erstere Schritt aus verschiednen Gründen unmöglich sei,
namentlich deshalb, weil sich England dadurch verpflichten würde, Deutschland
in einem Kriege, in dem Frankreich die Verlornen Provinzen wiederzugewinnen
suchte, Hilfe zu leisten. Dies, meint er, würde das sittliche Ehrgefühl des
englischen Volks empören, daher sei an einen Anschluß an den Dreibund nicht
zu denken. Es bleibt also nur ein Einverständnis mit Rußland, und ein
solches Einverständnis sollte den Grundton der englischen Politik bilden. Warum
sollten sich auch die zwei Mächte nicht verständigen können! Eine natürliche
Feindschaft zwischen ihnen besteht nicht. Rußland ist nicht Kolonialmacht in
Afrika und kann auch nicht als Nebenbuhler Englands auf dem Weltmarkt be¬
zeichnet werden. Giebt es nun irgend etwas in den Zielen der russischen
Politik, das einem Bündnis mit England entgegenstehen könnte? Allerdings:
Rußlands sehnlichstes Verlangen ist auf Konstantinopel gerichtet. Würde aber
Rußlands Besitz von Konstantinopel England zum Nachteil gereichen? Mr.
Strachey verneint das. Für die entgegengesetzte Ansicht hat es bisher immer
als der stärkste Beweis gegolten, daß der Besitz von Konstantinopel Rußland
so stark zur See machen würde, daß England sich nicht länger im Mittel¬
ländischen Meere halten könnte. Das ist nach der Ansicht des Verfassers ein
Irrtum, und zwar hat er dafür folgende Beweisführung, die freilich auf sehr
schwachen Füßen steht: „Seemacht beruht nicht auf dem Besitz von Häfen, in
denen man seine Schiffe vor der feindlichen Flotte verbergen kann — dazu
eignet sich Konstantinopel ohne Zweifel —, sondern sie beruht auf dem Besitz
von Schiffen, die die feindlichen Schiffe schlagen können. Nußland ist eine
Gefahr für uns, wenn es eine große Flotte baut, nicht wenn es einen Ort
besitzt, wo diese Schutz finden kann. Wie soll aber der Besitz von Konstanti¬
nopel Rußland in den Stand setzen, mehr Schiffe zu bauen und eine bessere


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[0364] Englische Bündnisbestrebungen Würde die Welt durchschauern, und die Menschheit würde sich von einem Alp¬ drücken befreit fühlen!" Das nimmt sich in einer nüchternen englischen Zeit¬ schrift sehr sonderbar aus. Die bedeutendste Leistung ist wohl der Aufsatz, den Mr. Se. Loe Stranses in der Mtiong.1 ü,sol«zvv zu dem Thema der Bündnisse veröffentlicht hat. Er ist auch deshalb besonders bemerkenswert, weil er zeigt, wie die ganz uner¬ wartete jüngste Entwicklung der Dinge selbst einen so streng konservativen Publizisten wie Mr. Stranses vermocht hat, der ganzen Veaconsfieldschen Tra¬ dition mit einer kurz entschlossenen Wendung den Rücken zu kehren und ohne alle Gewissensbisse über diese Ketzerei den Vorschlag zu machen, Konstantinopel den Russen auszuhändigen. Er geht bei seinen Ausführungen davon aus, daß England nicht länger auf die Freundschaft Deutschlands rechnen könne. Dadurch ist England an den Scheideweg gestellt. Sollen wir, fragt er, um die Freundschaft Berlins zu gewinnen, unsern Anschluß an den Dreibund anbieten, oder sollen wir uns kühn einer neuen Verbindung zuwenden? Er ist der Meinung, daß der erstere Schritt aus verschiednen Gründen unmöglich sei, namentlich deshalb, weil sich England dadurch verpflichten würde, Deutschland in einem Kriege, in dem Frankreich die Verlornen Provinzen wiederzugewinnen suchte, Hilfe zu leisten. Dies, meint er, würde das sittliche Ehrgefühl des englischen Volks empören, daher sei an einen Anschluß an den Dreibund nicht zu denken. Es bleibt also nur ein Einverständnis mit Rußland, und ein solches Einverständnis sollte den Grundton der englischen Politik bilden. Warum sollten sich auch die zwei Mächte nicht verständigen können! Eine natürliche Feindschaft zwischen ihnen besteht nicht. Rußland ist nicht Kolonialmacht in Afrika und kann auch nicht als Nebenbuhler Englands auf dem Weltmarkt be¬ zeichnet werden. Giebt es nun irgend etwas in den Zielen der russischen Politik, das einem Bündnis mit England entgegenstehen könnte? Allerdings: Rußlands sehnlichstes Verlangen ist auf Konstantinopel gerichtet. Würde aber Rußlands Besitz von Konstantinopel England zum Nachteil gereichen? Mr. Strachey verneint das. Für die entgegengesetzte Ansicht hat es bisher immer als der stärkste Beweis gegolten, daß der Besitz von Konstantinopel Rußland so stark zur See machen würde, daß England sich nicht länger im Mittel¬ ländischen Meere halten könnte. Das ist nach der Ansicht des Verfassers ein Irrtum, und zwar hat er dafür folgende Beweisführung, die freilich auf sehr schwachen Füßen steht: „Seemacht beruht nicht auf dem Besitz von Häfen, in denen man seine Schiffe vor der feindlichen Flotte verbergen kann — dazu eignet sich Konstantinopel ohne Zweifel —, sondern sie beruht auf dem Besitz von Schiffen, die die feindlichen Schiffe schlagen können. Nußland ist eine Gefahr für uns, wenn es eine große Flotte baut, nicht wenn es einen Ort besitzt, wo diese Schutz finden kann. Wie soll aber der Besitz von Konstanti¬ nopel Rußland in den Stand setzen, mehr Schiffe zu bauen und eine bessere

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/364>, abgerufen am 01.09.2024.