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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Die Linser Legende

die Klemme geraten, wenn er mit einem Sozialdemokraten ins Gespräch käme,
er würde dessen Argumente nicht ^so ohne weiteres, gewissermaßen aus dem
Handgelenk, besiegen können. Denn wir müssen uns klar machen, daß die
landläufige Erzählung zum Teil wirklich eine Legende ist. Müssen wir des¬
halb erschrecken? Ist jede Legende ohne weiteres eine geschichtliche Unwahrheit?

Auf diese Frage hat Adolf Harnack einmal eine treffende Antwort ge¬
geben. Er sagt: Es giebt zwei Arten der Geschichte. Erstens die Geschichte
der Thatsachen. Die Thatsache selbst ist brutal und stumm. Sie trifft aber
nicht auf Holz und Stein, fondern auf den menschlischer Geist, und dieser
nimmt sofort Stellung zu den Thatsachen, er beurteilt sie; und ost genug ist
die Beurteilung der Thatsachen für die Weltgeschichte wichtiger geworden als
die Thatsachen selbst. Diese Beurteilung der Geschichte nun in der Form der
Geschichtserzühlung ist die Legende. Wir alle leben täglich inmitten der
Legende und helfen sie neu schaffen. Man kann die Legende der Schlingpflanze
vergleichen, die überall aufwächst, wo Geschichte aufwächst. Sie umklammert
die Thatsache ebenso wie die Person. Ein Stamm nach dem andern im Walde
wird ausgesogen und verdorrt; die natürliche Mannichfaltigkeit der verschiednen
Bäume stellt sich dem Beschauer nicht mehr dar; schließlich erscheint überall
das einförmige Laub der Schlingpflanze.

Ist denn nun jede Beurteilung der Geschichte etwas bedenkliches? Nein,
denn wo blieben sonst die großen Geschichtschreiber aller Völker! Wer von
ihnen hat denn wirklich sine irs, se swciio geschrieben? Niemand hat diese
Forderung weniger erfüllt als ihr Urheber. Darauf kommt es an, ob der
Beurteiler Treitschke oder Janssen heißt; denn die echte Legende ist in der
Weltgeschichte die Wahrheit, und die falsche Legende ist die Lüge. Die echte
Legende sollen wir ruhig weiter hochhalten, selbst wenn sich nicht erweisen läßt,
daß sich alles genau so zugetragen hat, oder gar daß es sich anders verhalten
hat. Luther hat nach dem Teufel schwerlich mit dem Tintenfaß geworfen, und
doch ist in dieser populären Form unübertrefflich zusammengefaßt, was Konrad
Ferdinand Meyer so ausspricht:

Gustav Adolf hat schwedische Politik getrieben und Deutschland Länder rauben
wollen. Aber Gustav Adolf rettete den Protestantismus, wenn er auch Deutsch¬
land zerfleischen half, die Rettung des Protestantismus aber war mittelbar
auch die Rettung Deutschlands, ja die einzige Rettung; denn ein spcmisch-
hnbsburgisch-jesuitisches Deutschland wäre kein Deutschland mehr gewesen. So
kann man mit gutem Gewissen die Legende fortpflanzen, daß Gustav Adolf
ein deutscher Held gewesen sei. Auf dem herrlichen Magdeburger Kriegerdenkmal


Die Linser Legende

die Klemme geraten, wenn er mit einem Sozialdemokraten ins Gespräch käme,
er würde dessen Argumente nicht ^so ohne weiteres, gewissermaßen aus dem
Handgelenk, besiegen können. Denn wir müssen uns klar machen, daß die
landläufige Erzählung zum Teil wirklich eine Legende ist. Müssen wir des¬
halb erschrecken? Ist jede Legende ohne weiteres eine geschichtliche Unwahrheit?

Auf diese Frage hat Adolf Harnack einmal eine treffende Antwort ge¬
geben. Er sagt: Es giebt zwei Arten der Geschichte. Erstens die Geschichte
der Thatsachen. Die Thatsache selbst ist brutal und stumm. Sie trifft aber
nicht auf Holz und Stein, fondern auf den menschlischer Geist, und dieser
nimmt sofort Stellung zu den Thatsachen, er beurteilt sie; und ost genug ist
die Beurteilung der Thatsachen für die Weltgeschichte wichtiger geworden als
die Thatsachen selbst. Diese Beurteilung der Geschichte nun in der Form der
Geschichtserzühlung ist die Legende. Wir alle leben täglich inmitten der
Legende und helfen sie neu schaffen. Man kann die Legende der Schlingpflanze
vergleichen, die überall aufwächst, wo Geschichte aufwächst. Sie umklammert
die Thatsache ebenso wie die Person. Ein Stamm nach dem andern im Walde
wird ausgesogen und verdorrt; die natürliche Mannichfaltigkeit der verschiednen
Bäume stellt sich dem Beschauer nicht mehr dar; schließlich erscheint überall
das einförmige Laub der Schlingpflanze.

Ist denn nun jede Beurteilung der Geschichte etwas bedenkliches? Nein,
denn wo blieben sonst die großen Geschichtschreiber aller Völker! Wer von
ihnen hat denn wirklich sine irs, se swciio geschrieben? Niemand hat diese
Forderung weniger erfüllt als ihr Urheber. Darauf kommt es an, ob der
Beurteiler Treitschke oder Janssen heißt; denn die echte Legende ist in der
Weltgeschichte die Wahrheit, und die falsche Legende ist die Lüge. Die echte
Legende sollen wir ruhig weiter hochhalten, selbst wenn sich nicht erweisen läßt,
daß sich alles genau so zugetragen hat, oder gar daß es sich anders verhalten
hat. Luther hat nach dem Teufel schwerlich mit dem Tintenfaß geworfen, und
doch ist in dieser populären Form unübertrefflich zusammengefaßt, was Konrad
Ferdinand Meyer so ausspricht:

Gustav Adolf hat schwedische Politik getrieben und Deutschland Länder rauben
wollen. Aber Gustav Adolf rettete den Protestantismus, wenn er auch Deutsch¬
land zerfleischen half, die Rettung des Protestantismus aber war mittelbar
auch die Rettung Deutschlands, ja die einzige Rettung; denn ein spcmisch-
hnbsburgisch-jesuitisches Deutschland wäre kein Deutschland mehr gewesen. So
kann man mit gutem Gewissen die Legende fortpflanzen, daß Gustav Adolf
ein deutscher Held gewesen sei. Auf dem herrlichen Magdeburger Kriegerdenkmal


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[0035] Die Linser Legende die Klemme geraten, wenn er mit einem Sozialdemokraten ins Gespräch käme, er würde dessen Argumente nicht ^so ohne weiteres, gewissermaßen aus dem Handgelenk, besiegen können. Denn wir müssen uns klar machen, daß die landläufige Erzählung zum Teil wirklich eine Legende ist. Müssen wir des¬ halb erschrecken? Ist jede Legende ohne weiteres eine geschichtliche Unwahrheit? Auf diese Frage hat Adolf Harnack einmal eine treffende Antwort ge¬ geben. Er sagt: Es giebt zwei Arten der Geschichte. Erstens die Geschichte der Thatsachen. Die Thatsache selbst ist brutal und stumm. Sie trifft aber nicht auf Holz und Stein, fondern auf den menschlischer Geist, und dieser nimmt sofort Stellung zu den Thatsachen, er beurteilt sie; und ost genug ist die Beurteilung der Thatsachen für die Weltgeschichte wichtiger geworden als die Thatsachen selbst. Diese Beurteilung der Geschichte nun in der Form der Geschichtserzühlung ist die Legende. Wir alle leben täglich inmitten der Legende und helfen sie neu schaffen. Man kann die Legende der Schlingpflanze vergleichen, die überall aufwächst, wo Geschichte aufwächst. Sie umklammert die Thatsache ebenso wie die Person. Ein Stamm nach dem andern im Walde wird ausgesogen und verdorrt; die natürliche Mannichfaltigkeit der verschiednen Bäume stellt sich dem Beschauer nicht mehr dar; schließlich erscheint überall das einförmige Laub der Schlingpflanze. Ist denn nun jede Beurteilung der Geschichte etwas bedenkliches? Nein, denn wo blieben sonst die großen Geschichtschreiber aller Völker! Wer von ihnen hat denn wirklich sine irs, se swciio geschrieben? Niemand hat diese Forderung weniger erfüllt als ihr Urheber. Darauf kommt es an, ob der Beurteiler Treitschke oder Janssen heißt; denn die echte Legende ist in der Weltgeschichte die Wahrheit, und die falsche Legende ist die Lüge. Die echte Legende sollen wir ruhig weiter hochhalten, selbst wenn sich nicht erweisen läßt, daß sich alles genau so zugetragen hat, oder gar daß es sich anders verhalten hat. Luther hat nach dem Teufel schwerlich mit dem Tintenfaß geworfen, und doch ist in dieser populären Form unübertrefflich zusammengefaßt, was Konrad Ferdinand Meyer so ausspricht: Gustav Adolf hat schwedische Politik getrieben und Deutschland Länder rauben wollen. Aber Gustav Adolf rettete den Protestantismus, wenn er auch Deutsch¬ land zerfleischen half, die Rettung des Protestantismus aber war mittelbar auch die Rettung Deutschlands, ja die einzige Rettung; denn ein spcmisch- hnbsburgisch-jesuitisches Deutschland wäre kein Deutschland mehr gewesen. So kann man mit gutem Gewissen die Legende fortpflanzen, daß Gustav Adolf ein deutscher Held gewesen sei. Auf dem herrlichen Magdeburger Kriegerdenkmal

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/35>, abgerufen am 01.09.2024.