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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Wandlungen des Ich im Zeitenstronie

nicht das Schiff der Reform gewesen, was er flott machte, sondern das Schiff
der unveränderten römischen Kirche; was sich von dieser losriß, war nur ein
winziger Kahn. Weiterhin schreibt Tröltsch: "Würde überall konsequent ge¬
dacht, so müßten die einen den Untergang der Kirchen und die andern den
Untergang der Welt erwarten. Diejenigen, die in der Mitte zwischen beiden
an einer Reform der Kirche arbeiten, mögen aber aus der Geschichte lernen,
daß mit etwas liberaler Theologie und etwas Gemeindebelebnng dieses Ziel
nicht erreicht wird. Kirchen werden nur im heißen Feuer eines allgemeinen
Brandes umgeschmolzen." Es gab also keine Sache, die mich Hütte aus der
Kirche hinauslocken können, sondern nur Zumutungen, durch deren Nichtab-
weisung meine persönliche Würde gelitten hätte, konnten mich Hinansdrängen.

Eine solche Zumutung herauszufordern, konnte mich mein Temperament
leicht hinreißen, drum nahm ich mich in acht. Zunächst vor den Amtsbrttdern;
den Verkehr mit ihnen beschränkte ich auf das notwendigste, und wenn ich mit
einem zusammenkam, suchte ich Gesprächen über die Tagesereignisse möglichst
auszuweichen. Sah ich einen geistlichen Besuch nahen, so verbarg ich schleunigst
die Schlesische Zeitung, um nicht an das Doppelverbrechen zu erinnern, daß
ich sie, und nicht die Hausblätter, hielt. Einmal wurde sie von dem alten,
dicken, pathetischen, unfreiwillig komischen Pfarrer P. in der Küche aufgestöbert,
wohin ich sie in der Eile geflüchtet hatte. Nein, rief er, wie können Sie immer
noch dieses Schandblatt mithalten, das unsre heilige Kirche verfolgt und be¬
schimpft und erst dieser Tage wiederum eine abscheuliche Geschichte von einem
katholischen Geistlichen erzählt hat! Die Entrüstung war sehr erklärlich, denn
er und sein Kaplan, den er anhatte, waren beide, wie ich genau wußte,
in xnnoto xuueti nicht ganz taktfest. Übrigens hielt er es in Zeitnngssachen
nicht anders, als es eben die meisten Leute bis auf den heutigen Tag zu halten
Pflegen. Jeder erklärt jedes Blatt für ein Schandblatt, das von Männern
seiner Partei Skandalgeschichten erzählt. Schaden könnte es ja nichts, wenn
Skandalgeschichten überhaupt nicht gedruckt würden, und die Wild der Reporter
genannten Hyänen, aus allen Winkeln alles Aas auf den Markt der Öffent¬
lichkeit zu schleppen, dazu auch noch allen Abfall und alles Gemüll, allen
Plunder bedeutungsloser Kleinigkeiten, ist greulich und lächerlich zugleich. Aber
da nun einmal die modernen Verkehrsmittel diese Öffentlichkeit -- trotz Brause¬
wetter -- geschaffen haben, und da sich insbesondre die Berichterstattung über
Verbrechen und Strafurteile schlechterdings nicht verhindern läßt, so muß
wenigstens die Fälschung der öffentlichen Meinung vermieden werden, die darin
liegen würde, daß sich nur gewisse Volksschichten die Veröffentlichung ihrer
Skandalchronik gefallen lassen müßten, gewisse Kreise aber das Privilegium
hätten, bei ihren eignen "Unfällen" rücksichtsvolles Schweigen fordern zu dürfen.
Es wäre unbillig, einem Blatte zuzumuten, daß es sich beeilen solle, die Schande
von Angehörigen der eignen Partei aufzudecken; aber wenn es die der Gegen-


Wandlungen des Ich im Zeitenstronie

nicht das Schiff der Reform gewesen, was er flott machte, sondern das Schiff
der unveränderten römischen Kirche; was sich von dieser losriß, war nur ein
winziger Kahn. Weiterhin schreibt Tröltsch: „Würde überall konsequent ge¬
dacht, so müßten die einen den Untergang der Kirchen und die andern den
Untergang der Welt erwarten. Diejenigen, die in der Mitte zwischen beiden
an einer Reform der Kirche arbeiten, mögen aber aus der Geschichte lernen,
daß mit etwas liberaler Theologie und etwas Gemeindebelebnng dieses Ziel
nicht erreicht wird. Kirchen werden nur im heißen Feuer eines allgemeinen
Brandes umgeschmolzen." Es gab also keine Sache, die mich Hütte aus der
Kirche hinauslocken können, sondern nur Zumutungen, durch deren Nichtab-
weisung meine persönliche Würde gelitten hätte, konnten mich Hinansdrängen.

Eine solche Zumutung herauszufordern, konnte mich mein Temperament
leicht hinreißen, drum nahm ich mich in acht. Zunächst vor den Amtsbrttdern;
den Verkehr mit ihnen beschränkte ich auf das notwendigste, und wenn ich mit
einem zusammenkam, suchte ich Gesprächen über die Tagesereignisse möglichst
auszuweichen. Sah ich einen geistlichen Besuch nahen, so verbarg ich schleunigst
die Schlesische Zeitung, um nicht an das Doppelverbrechen zu erinnern, daß
ich sie, und nicht die Hausblätter, hielt. Einmal wurde sie von dem alten,
dicken, pathetischen, unfreiwillig komischen Pfarrer P. in der Küche aufgestöbert,
wohin ich sie in der Eile geflüchtet hatte. Nein, rief er, wie können Sie immer
noch dieses Schandblatt mithalten, das unsre heilige Kirche verfolgt und be¬
schimpft und erst dieser Tage wiederum eine abscheuliche Geschichte von einem
katholischen Geistlichen erzählt hat! Die Entrüstung war sehr erklärlich, denn
er und sein Kaplan, den er anhatte, waren beide, wie ich genau wußte,
in xnnoto xuueti nicht ganz taktfest. Übrigens hielt er es in Zeitnngssachen
nicht anders, als es eben die meisten Leute bis auf den heutigen Tag zu halten
Pflegen. Jeder erklärt jedes Blatt für ein Schandblatt, das von Männern
seiner Partei Skandalgeschichten erzählt. Schaden könnte es ja nichts, wenn
Skandalgeschichten überhaupt nicht gedruckt würden, und die Wild der Reporter
genannten Hyänen, aus allen Winkeln alles Aas auf den Markt der Öffent¬
lichkeit zu schleppen, dazu auch noch allen Abfall und alles Gemüll, allen
Plunder bedeutungsloser Kleinigkeiten, ist greulich und lächerlich zugleich. Aber
da nun einmal die modernen Verkehrsmittel diese Öffentlichkeit — trotz Brause¬
wetter — geschaffen haben, und da sich insbesondre die Berichterstattung über
Verbrechen und Strafurteile schlechterdings nicht verhindern läßt, so muß
wenigstens die Fälschung der öffentlichen Meinung vermieden werden, die darin
liegen würde, daß sich nur gewisse Volksschichten die Veröffentlichung ihrer
Skandalchronik gefallen lassen müßten, gewisse Kreise aber das Privilegium
hätten, bei ihren eignen „Unfällen" rücksichtsvolles Schweigen fordern zu dürfen.
Es wäre unbillig, einem Blatte zuzumuten, daß es sich beeilen solle, die Schande
von Angehörigen der eignen Partei aufzudecken; aber wenn es die der Gegen-


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[0341] Wandlungen des Ich im Zeitenstronie nicht das Schiff der Reform gewesen, was er flott machte, sondern das Schiff der unveränderten römischen Kirche; was sich von dieser losriß, war nur ein winziger Kahn. Weiterhin schreibt Tröltsch: „Würde überall konsequent ge¬ dacht, so müßten die einen den Untergang der Kirchen und die andern den Untergang der Welt erwarten. Diejenigen, die in der Mitte zwischen beiden an einer Reform der Kirche arbeiten, mögen aber aus der Geschichte lernen, daß mit etwas liberaler Theologie und etwas Gemeindebelebnng dieses Ziel nicht erreicht wird. Kirchen werden nur im heißen Feuer eines allgemeinen Brandes umgeschmolzen." Es gab also keine Sache, die mich Hütte aus der Kirche hinauslocken können, sondern nur Zumutungen, durch deren Nichtab- weisung meine persönliche Würde gelitten hätte, konnten mich Hinansdrängen. Eine solche Zumutung herauszufordern, konnte mich mein Temperament leicht hinreißen, drum nahm ich mich in acht. Zunächst vor den Amtsbrttdern; den Verkehr mit ihnen beschränkte ich auf das notwendigste, und wenn ich mit einem zusammenkam, suchte ich Gesprächen über die Tagesereignisse möglichst auszuweichen. Sah ich einen geistlichen Besuch nahen, so verbarg ich schleunigst die Schlesische Zeitung, um nicht an das Doppelverbrechen zu erinnern, daß ich sie, und nicht die Hausblätter, hielt. Einmal wurde sie von dem alten, dicken, pathetischen, unfreiwillig komischen Pfarrer P. in der Küche aufgestöbert, wohin ich sie in der Eile geflüchtet hatte. Nein, rief er, wie können Sie immer noch dieses Schandblatt mithalten, das unsre heilige Kirche verfolgt und be¬ schimpft und erst dieser Tage wiederum eine abscheuliche Geschichte von einem katholischen Geistlichen erzählt hat! Die Entrüstung war sehr erklärlich, denn er und sein Kaplan, den er anhatte, waren beide, wie ich genau wußte, in xnnoto xuueti nicht ganz taktfest. Übrigens hielt er es in Zeitnngssachen nicht anders, als es eben die meisten Leute bis auf den heutigen Tag zu halten Pflegen. Jeder erklärt jedes Blatt für ein Schandblatt, das von Männern seiner Partei Skandalgeschichten erzählt. Schaden könnte es ja nichts, wenn Skandalgeschichten überhaupt nicht gedruckt würden, und die Wild der Reporter genannten Hyänen, aus allen Winkeln alles Aas auf den Markt der Öffent¬ lichkeit zu schleppen, dazu auch noch allen Abfall und alles Gemüll, allen Plunder bedeutungsloser Kleinigkeiten, ist greulich und lächerlich zugleich. Aber da nun einmal die modernen Verkehrsmittel diese Öffentlichkeit — trotz Brause¬ wetter — geschaffen haben, und da sich insbesondre die Berichterstattung über Verbrechen und Strafurteile schlechterdings nicht verhindern läßt, so muß wenigstens die Fälschung der öffentlichen Meinung vermieden werden, die darin liegen würde, daß sich nur gewisse Volksschichten die Veröffentlichung ihrer Skandalchronik gefallen lassen müßten, gewisse Kreise aber das Privilegium hätten, bei ihren eignen „Unfällen" rücksichtsvolles Schweigen fordern zu dürfen. Es wäre unbillig, einem Blatte zuzumuten, daß es sich beeilen solle, die Schande von Angehörigen der eignen Partei aufzudecken; aber wenn es die der Gegen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/341>, abgerufen am 01.09.2024.