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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Die Infektionskrankheiten

21, 29, 24, 11, 14, 17. Mit diesem Vorbehalt berechnet sich die Diphtherie¬
sterblichkeit in denselben Jahren auf: 30,5; 27.6; 35,0; 25,5; 25,7; 24,8;
28,1; 32,1; 28,8; 32,7; im Durchschnitt also auf 29,1.

Vergleicht man nun mit diesen Todeszahlen die der im Jahre 1893 in
den Berliner Krankenhäusern mit Serum behandelten Kranken (23,6, d. h. 11,4
weniger als die ungünstigste, 1,2 weniger als die günstigste und 5,5 weniger
als die Durchschnittszahl), so ist die Wahrscheinlichkeit, daß das Serum einen
vorteilhaften Einfluß auf den Verlauf und Ausgang der Krankheit ausgeübt
habe, nicht von der Hand zu weisen. Dazu kommt, daß zur Berechnung der
Prozentsätze in den Vorjahren auch die in der Privatpraxis behandelten Fülle
mit benutzt worden sind, während die Zahlen der mit Heilserum behandelten
nur aus den Krankenhäusern stammen, wodurch das Ergebnis wesentlich zu
Ungunsten der letztern verschoben wird.

Trotzdem würde ein Pessimist immer noch manche Gründe vorbringen
können, um die ganze Rechnung als nicht völlig zulässig hinzustellen und des¬
halb ihr Ergebnis zu verwerfen. Glücklicherweise liegen aber heute auch aus
dem Jahre 1894 Beobachtungen vor, die selbst dem größten Zweifler eine
günstige Auffassung abnötigen müssen. Diese Beobachtungen stammen ebenfalls
aus den Berliner Krankenhäusern und beziehen sich auf 1332 ohne Serum
und auf 1534 mit Serum behandelte Diphtheriekranke; von erstern starben
517, d. h. 38,8 Prozent, von letztern 293. d. h. 19,1 Prozent. Dazu kommt,
daß in einzelnen Krankenhäusern für die Zeit, wo die Serumbehandlung aus¬
gesetzt werden mußte, weil es ausgegangen und nicht sofort neu zu beschaffen war,
die Todeszahl jäh in die Höhe schnellte und wieder sank, sobald die Serum-
behandlnug wieder aufgenommen werden konnte. Bei dieser Art der Statistik
ist die subjektive Wertschätzung des Mittels durch die behandelnden Ärzte
völlig ausgeschlossen; nimmt man aber diese hinzu, so gewinnt dadurch
die günstige Beurteilung des neuen Mittels bedeutend. In der That wird
kein Arzt, der sich am Krankenbett über die Bösartigkeit und Heimtücke der
Diphtherie und über die Schwäche seiner Waffen gegen sie ausreichende Er¬
fahrung erworben hat, in Abrede stellen, daß eine fast wunderbare Veränderung
des Krankheitsbildes sowohl an den sichtbar ergriffnen Teilen als im allge¬
meinen fast unmittelbar nach der Einspritzung des Serums oft auch dann noch
eintritt, wenn der tötliche Ausgang nicht mehr abgewendet werden kann. In
Wirklichkeit hat der Arzt heute eine brauchbare Waffe gegen einen Feind, der
sonst jedem unmittelbaren Angriff unzugänglich war und von seinem Schlacht¬
opfer in der Regel erst abließ, nachdem er es entweder vernichtet oder nach
vielerlei Richtungen aufs schwerste geschädigt hatte. Freilich ist es trotzdem
mit der Sernmbehandlung allein nicht gethan, und ich möchte mit voller Über¬
zeugung und mit Nachdruck die Worte Professor Leidens in seinem Bericht
über die Erfolge des Kochschen Mittels bei Tuberkulose auch auf die Diph¬
therie anwenden. "Ich muß es, sagt er, eine Herabsetzung unsrer Kunst


Die Infektionskrankheiten

21, 29, 24, 11, 14, 17. Mit diesem Vorbehalt berechnet sich die Diphtherie¬
sterblichkeit in denselben Jahren auf: 30,5; 27.6; 35,0; 25,5; 25,7; 24,8;
28,1; 32,1; 28,8; 32,7; im Durchschnitt also auf 29,1.

Vergleicht man nun mit diesen Todeszahlen die der im Jahre 1893 in
den Berliner Krankenhäusern mit Serum behandelten Kranken (23,6, d. h. 11,4
weniger als die ungünstigste, 1,2 weniger als die günstigste und 5,5 weniger
als die Durchschnittszahl), so ist die Wahrscheinlichkeit, daß das Serum einen
vorteilhaften Einfluß auf den Verlauf und Ausgang der Krankheit ausgeübt
habe, nicht von der Hand zu weisen. Dazu kommt, daß zur Berechnung der
Prozentsätze in den Vorjahren auch die in der Privatpraxis behandelten Fülle
mit benutzt worden sind, während die Zahlen der mit Heilserum behandelten
nur aus den Krankenhäusern stammen, wodurch das Ergebnis wesentlich zu
Ungunsten der letztern verschoben wird.

Trotzdem würde ein Pessimist immer noch manche Gründe vorbringen
können, um die ganze Rechnung als nicht völlig zulässig hinzustellen und des¬
halb ihr Ergebnis zu verwerfen. Glücklicherweise liegen aber heute auch aus
dem Jahre 1894 Beobachtungen vor, die selbst dem größten Zweifler eine
günstige Auffassung abnötigen müssen. Diese Beobachtungen stammen ebenfalls
aus den Berliner Krankenhäusern und beziehen sich auf 1332 ohne Serum
und auf 1534 mit Serum behandelte Diphtheriekranke; von erstern starben
517, d. h. 38,8 Prozent, von letztern 293. d. h. 19,1 Prozent. Dazu kommt,
daß in einzelnen Krankenhäusern für die Zeit, wo die Serumbehandlung aus¬
gesetzt werden mußte, weil es ausgegangen und nicht sofort neu zu beschaffen war,
die Todeszahl jäh in die Höhe schnellte und wieder sank, sobald die Serum-
behandlnug wieder aufgenommen werden konnte. Bei dieser Art der Statistik
ist die subjektive Wertschätzung des Mittels durch die behandelnden Ärzte
völlig ausgeschlossen; nimmt man aber diese hinzu, so gewinnt dadurch
die günstige Beurteilung des neuen Mittels bedeutend. In der That wird
kein Arzt, der sich am Krankenbett über die Bösartigkeit und Heimtücke der
Diphtherie und über die Schwäche seiner Waffen gegen sie ausreichende Er¬
fahrung erworben hat, in Abrede stellen, daß eine fast wunderbare Veränderung
des Krankheitsbildes sowohl an den sichtbar ergriffnen Teilen als im allge¬
meinen fast unmittelbar nach der Einspritzung des Serums oft auch dann noch
eintritt, wenn der tötliche Ausgang nicht mehr abgewendet werden kann. In
Wirklichkeit hat der Arzt heute eine brauchbare Waffe gegen einen Feind, der
sonst jedem unmittelbaren Angriff unzugänglich war und von seinem Schlacht¬
opfer in der Regel erst abließ, nachdem er es entweder vernichtet oder nach
vielerlei Richtungen aufs schwerste geschädigt hatte. Freilich ist es trotzdem
mit der Sernmbehandlung allein nicht gethan, und ich möchte mit voller Über¬
zeugung und mit Nachdruck die Worte Professor Leidens in seinem Bericht
über die Erfolge des Kochschen Mittels bei Tuberkulose auch auf die Diph¬
therie anwenden. „Ich muß es, sagt er, eine Herabsetzung unsrer Kunst


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[0030] Die Infektionskrankheiten 21, 29, 24, 11, 14, 17. Mit diesem Vorbehalt berechnet sich die Diphtherie¬ sterblichkeit in denselben Jahren auf: 30,5; 27.6; 35,0; 25,5; 25,7; 24,8; 28,1; 32,1; 28,8; 32,7; im Durchschnitt also auf 29,1. Vergleicht man nun mit diesen Todeszahlen die der im Jahre 1893 in den Berliner Krankenhäusern mit Serum behandelten Kranken (23,6, d. h. 11,4 weniger als die ungünstigste, 1,2 weniger als die günstigste und 5,5 weniger als die Durchschnittszahl), so ist die Wahrscheinlichkeit, daß das Serum einen vorteilhaften Einfluß auf den Verlauf und Ausgang der Krankheit ausgeübt habe, nicht von der Hand zu weisen. Dazu kommt, daß zur Berechnung der Prozentsätze in den Vorjahren auch die in der Privatpraxis behandelten Fülle mit benutzt worden sind, während die Zahlen der mit Heilserum behandelten nur aus den Krankenhäusern stammen, wodurch das Ergebnis wesentlich zu Ungunsten der letztern verschoben wird. Trotzdem würde ein Pessimist immer noch manche Gründe vorbringen können, um die ganze Rechnung als nicht völlig zulässig hinzustellen und des¬ halb ihr Ergebnis zu verwerfen. Glücklicherweise liegen aber heute auch aus dem Jahre 1894 Beobachtungen vor, die selbst dem größten Zweifler eine günstige Auffassung abnötigen müssen. Diese Beobachtungen stammen ebenfalls aus den Berliner Krankenhäusern und beziehen sich auf 1332 ohne Serum und auf 1534 mit Serum behandelte Diphtheriekranke; von erstern starben 517, d. h. 38,8 Prozent, von letztern 293. d. h. 19,1 Prozent. Dazu kommt, daß in einzelnen Krankenhäusern für die Zeit, wo die Serumbehandlung aus¬ gesetzt werden mußte, weil es ausgegangen und nicht sofort neu zu beschaffen war, die Todeszahl jäh in die Höhe schnellte und wieder sank, sobald die Serum- behandlnug wieder aufgenommen werden konnte. Bei dieser Art der Statistik ist die subjektive Wertschätzung des Mittels durch die behandelnden Ärzte völlig ausgeschlossen; nimmt man aber diese hinzu, so gewinnt dadurch die günstige Beurteilung des neuen Mittels bedeutend. In der That wird kein Arzt, der sich am Krankenbett über die Bösartigkeit und Heimtücke der Diphtherie und über die Schwäche seiner Waffen gegen sie ausreichende Er¬ fahrung erworben hat, in Abrede stellen, daß eine fast wunderbare Veränderung des Krankheitsbildes sowohl an den sichtbar ergriffnen Teilen als im allge¬ meinen fast unmittelbar nach der Einspritzung des Serums oft auch dann noch eintritt, wenn der tötliche Ausgang nicht mehr abgewendet werden kann. In Wirklichkeit hat der Arzt heute eine brauchbare Waffe gegen einen Feind, der sonst jedem unmittelbaren Angriff unzugänglich war und von seinem Schlacht¬ opfer in der Regel erst abließ, nachdem er es entweder vernichtet oder nach vielerlei Richtungen aufs schwerste geschädigt hatte. Freilich ist es trotzdem mit der Sernmbehandlung allein nicht gethan, und ich möchte mit voller Über¬ zeugung und mit Nachdruck die Worte Professor Leidens in seinem Bericht über die Erfolge des Kochschen Mittels bei Tuberkulose auch auf die Diph¬ therie anwenden. „Ich muß es, sagt er, eine Herabsetzung unsrer Kunst

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/30>, abgerufen am 01.09.2024.