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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Oon den Berliner Theatern

Kgedeutet in Berlin die "Premiere," dieses sehr nach Hauffe und Baisse
schmeckende Wort aus dem Bühuenknuderwelsch, schlechthin die erste
Aufführung eines Theaterstückes? Schiverlich; denn was man bei
einer ersten Aufführung erwartet: ein litterarisch urteilsfähiges
Publikum, das mit völliger Uubefnugenheit über das neue Bühnen-
!werk zu Gericht sitzt, wird man in einer Premiere nicht finden.
Wie mag man überhaupt das Unbefangne in der Berliner "Premiere" suchen?
Sind doch vielleicht nur die unbefangen, die gekommen sind, um das nach ihrer
Meinung interessante Schauspiel zu genießen, das die Zuschauerschaft selbst dar¬
bietet. Sehen wir einmal zu, welche Leute ein Unbefangner da kennen lernt.

Voran die Herren von der strengen Zunft der Kritiker mit ihrem weiblichen
und sonstigen Anhange. Manche von ihnen lieben es, eine gefällige Figur zu
machen, damit sie niemand übersehe. Andre lassen schon während der Vorstellung
ihr Urteil vernehmen, und zwar möglichst laut, um dann nächtlicherweile für das
Morgenblntt so ziemlich das Gegenteil niederzuschreiben; sie wollen mißliebigen
"Genossen" eine kleine Falle stellen. Die dritten sind die Allerweltsliebens-
würdigen: hier ein Händedruck, dort ein freundliches Lächeln; keine Größe, keine
Berühmtheit, mit der sie nicht ein kürzeres oder längeres Gespräch führten. Die
vierten kommen still und gehen still; aber sie sind nicht ungefährlich. Wenn aber
nun unser Unbefangner am nächsten Tage im Kaffeehause alles das liest, was die
Herren schnell in der Nacht zum Druck gebracht haben, o weh, welch ein vielfältig
verworrner Richterspruch! Was sollen dann die armen Theaterdirektoren draußen
in der "Provinz" (so heißt ja das Land, das außerhalb Berlins liegt!) anfangen?
Mögen sie zusehen!

Aber es giebt in der "Premiere" noch eine weitere, noch fesselndere Gruppe
als die der Kritiker; das sind die Dichter, die Kollegen dessen, von dem das neue
Stück ist, und Schauspieler und Schauspielerinnen, die für diese" Abend frei sind.
Unter den erstgenannten übt gegenwärtig einer eine besonders bezaubernde Wir¬
kung: Hermann Sudermann. Ich war vor kurzem bei einem Vortragsabende
Sudermanns Zeuge eines Andranges, insbesondre von ältern und jüngern Damen,
wie ihn die ärgsten "Sensationen" nicht stärker hervorrufen können. Allerdings
ist etwas um die Persönlichkeit Sudermanns, das man suggestiv nennen möchte.
Zu der seinen äußern Erscheinung, dem energischen Kopfe mit dem tiefschwnrzen
Barte, den dunkeln Augen, der weißen Hautfarbe, gesellt sich ein, trotz der Härte
der Königsberger Mundart, liebenswürdig klangvolles Organ, das der Dichter der
"Ehre" im Vortrag mit guter Wirkung zu gebrauchen weiß. An dem erwähnten
Abend las Sudermanu ein neues, bisher uugedrucktes Drama ans seiner Feder,
wobei er die handelnden Personen beinahe plastisch hervortreten ließ. Keiner der


Grenzboten I 1896 36


Oon den Berliner Theatern

Kgedeutet in Berlin die „Premiere," dieses sehr nach Hauffe und Baisse
schmeckende Wort aus dem Bühuenknuderwelsch, schlechthin die erste
Aufführung eines Theaterstückes? Schiverlich; denn was man bei
einer ersten Aufführung erwartet: ein litterarisch urteilsfähiges
Publikum, das mit völliger Uubefnugenheit über das neue Bühnen-
!werk zu Gericht sitzt, wird man in einer Premiere nicht finden.
Wie mag man überhaupt das Unbefangne in der Berliner „Premiere" suchen?
Sind doch vielleicht nur die unbefangen, die gekommen sind, um das nach ihrer
Meinung interessante Schauspiel zu genießen, das die Zuschauerschaft selbst dar¬
bietet. Sehen wir einmal zu, welche Leute ein Unbefangner da kennen lernt.

Voran die Herren von der strengen Zunft der Kritiker mit ihrem weiblichen
und sonstigen Anhange. Manche von ihnen lieben es, eine gefällige Figur zu
machen, damit sie niemand übersehe. Andre lassen schon während der Vorstellung
ihr Urteil vernehmen, und zwar möglichst laut, um dann nächtlicherweile für das
Morgenblntt so ziemlich das Gegenteil niederzuschreiben; sie wollen mißliebigen
„Genossen" eine kleine Falle stellen. Die dritten sind die Allerweltsliebens-
würdigen: hier ein Händedruck, dort ein freundliches Lächeln; keine Größe, keine
Berühmtheit, mit der sie nicht ein kürzeres oder längeres Gespräch führten. Die
vierten kommen still und gehen still; aber sie sind nicht ungefährlich. Wenn aber
nun unser Unbefangner am nächsten Tage im Kaffeehause alles das liest, was die
Herren schnell in der Nacht zum Druck gebracht haben, o weh, welch ein vielfältig
verworrner Richterspruch! Was sollen dann die armen Theaterdirektoren draußen
in der „Provinz" (so heißt ja das Land, das außerhalb Berlins liegt!) anfangen?
Mögen sie zusehen!

Aber es giebt in der „Premiere" noch eine weitere, noch fesselndere Gruppe
als die der Kritiker; das sind die Dichter, die Kollegen dessen, von dem das neue
Stück ist, und Schauspieler und Schauspielerinnen, die für diese» Abend frei sind.
Unter den erstgenannten übt gegenwärtig einer eine besonders bezaubernde Wir¬
kung: Hermann Sudermann. Ich war vor kurzem bei einem Vortragsabende
Sudermanns Zeuge eines Andranges, insbesondre von ältern und jüngern Damen,
wie ihn die ärgsten „Sensationen" nicht stärker hervorrufen können. Allerdings
ist etwas um die Persönlichkeit Sudermanns, das man suggestiv nennen möchte.
Zu der seinen äußern Erscheinung, dem energischen Kopfe mit dem tiefschwnrzen
Barte, den dunkeln Augen, der weißen Hautfarbe, gesellt sich ein, trotz der Härte
der Königsberger Mundart, liebenswürdig klangvolles Organ, das der Dichter der
„Ehre" im Vortrag mit guter Wirkung zu gebrauchen weiß. An dem erwähnten
Abend las Sudermanu ein neues, bisher uugedrucktes Drama ans seiner Feder,
wobei er die handelnden Personen beinahe plastisch hervortreten ließ. Keiner der


Grenzboten I 1896 36
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[0289] [Abbildung] Oon den Berliner Theatern Kgedeutet in Berlin die „Premiere," dieses sehr nach Hauffe und Baisse schmeckende Wort aus dem Bühuenknuderwelsch, schlechthin die erste Aufführung eines Theaterstückes? Schiverlich; denn was man bei einer ersten Aufführung erwartet: ein litterarisch urteilsfähiges Publikum, das mit völliger Uubefnugenheit über das neue Bühnen- !werk zu Gericht sitzt, wird man in einer Premiere nicht finden. Wie mag man überhaupt das Unbefangne in der Berliner „Premiere" suchen? Sind doch vielleicht nur die unbefangen, die gekommen sind, um das nach ihrer Meinung interessante Schauspiel zu genießen, das die Zuschauerschaft selbst dar¬ bietet. Sehen wir einmal zu, welche Leute ein Unbefangner da kennen lernt. Voran die Herren von der strengen Zunft der Kritiker mit ihrem weiblichen und sonstigen Anhange. Manche von ihnen lieben es, eine gefällige Figur zu machen, damit sie niemand übersehe. Andre lassen schon während der Vorstellung ihr Urteil vernehmen, und zwar möglichst laut, um dann nächtlicherweile für das Morgenblntt so ziemlich das Gegenteil niederzuschreiben; sie wollen mißliebigen „Genossen" eine kleine Falle stellen. Die dritten sind die Allerweltsliebens- würdigen: hier ein Händedruck, dort ein freundliches Lächeln; keine Größe, keine Berühmtheit, mit der sie nicht ein kürzeres oder längeres Gespräch führten. Die vierten kommen still und gehen still; aber sie sind nicht ungefährlich. Wenn aber nun unser Unbefangner am nächsten Tage im Kaffeehause alles das liest, was die Herren schnell in der Nacht zum Druck gebracht haben, o weh, welch ein vielfältig verworrner Richterspruch! Was sollen dann die armen Theaterdirektoren draußen in der „Provinz" (so heißt ja das Land, das außerhalb Berlins liegt!) anfangen? Mögen sie zusehen! Aber es giebt in der „Premiere" noch eine weitere, noch fesselndere Gruppe als die der Kritiker; das sind die Dichter, die Kollegen dessen, von dem das neue Stück ist, und Schauspieler und Schauspielerinnen, die für diese» Abend frei sind. Unter den erstgenannten übt gegenwärtig einer eine besonders bezaubernde Wir¬ kung: Hermann Sudermann. Ich war vor kurzem bei einem Vortragsabende Sudermanns Zeuge eines Andranges, insbesondre von ältern und jüngern Damen, wie ihn die ärgsten „Sensationen" nicht stärker hervorrufen können. Allerdings ist etwas um die Persönlichkeit Sudermanns, das man suggestiv nennen möchte. Zu der seinen äußern Erscheinung, dem energischen Kopfe mit dem tiefschwnrzen Barte, den dunkeln Augen, der weißen Hautfarbe, gesellt sich ein, trotz der Härte der Königsberger Mundart, liebenswürdig klangvolles Organ, das der Dichter der „Ehre" im Vortrag mit guter Wirkung zu gebrauchen weiß. An dem erwähnten Abend las Sudermanu ein neues, bisher uugedrucktes Drama ans seiner Feder, wobei er die handelnden Personen beinahe plastisch hervortreten ließ. Keiner der Grenzboten I 1896 36

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/289>, abgerufen am 01.09.2024.