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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Aus den Denkwürdigkeiten des luxemburgischen Ministers Servais

Von Luxemburg habe das Bedürfnis gehabt, sich in seinen Erinnerungen, die
nach seinem Tode veröffentlicht werden sollten, von dem während seiner Lei¬
tung der Landesangelegenheiten vielfach gegen ihn erhobnen Vorwurf zu rei¬
nigen, daß er die Würde und die Unabhängigkeit seines Vaterlandes nicht ge¬
nügend gewahrt habe. In diesem Sinne hat Servais mehrere Schriften über
die Bedeutung des Londoner Vertrags vom 11. Mai 1867 und über den
Vertrag mit dem deutschen Reiche vom 11. Juni 1872 veröffentlicht. Noch
kurz vor seinem Tode kündigte er, damals Kammerpräsident, gegen die Aus¬
führungen des Staatsministers Epheben in dessen "Staatsrecht des Großherzog¬
tums Luxemburg""') über die Pflichten eines neutralen Landes eine Jnter¬
pellation an. Aus welchem Grunde er die staatsrechtlichen Lehren seines Dienst¬
nachfolgers bemängeln wollte, ist nicht mehr bekannt geworden; denn in der
unmittelbar vorhergehenden Verhandlung hatte sich Minister Epheben für die
Nichtigkeit seiner Meinung auf einen amtlichen Bericht berufen, den der Inter¬
pellant selbst, der damalige Staatsminister Servais, am 14. März 1868 an
den König-Großherzog erstattet hatte. Nachdem die Kammer (Sitzung vom
15. Februar 1890) über die erste Jnterpellation zur Tagesordnung über¬
gegangen war, wurde der zweite Gegenstand -- die Pflichten der Neutralen --
nicht mehr besprochen.

Dieser Vorgang, den Servais in seine im Januar 1879 abgeschlossenen
und seitdem nicht fortgesetzten Denkwürdigkeiten nicht mehr hat aufnehmen
können, zeigt in lehrreicher Weise, wie selbst ein Staatsmann, der seine Er¬
innerungen gutgläubig niederschreibe, durch das Gedächtnis irregeführt werden
kann. Wenn schon die Erinnerung an so wichtige Vorgänge völlig schwinden
kann, wie leicht kann die schon durch den Wirbel der Erscheinungen und der
sie begleitende" Empfindungen getrübte Auffassung der Dinge das Gedächtnis
nachträglich beeinträchtigen! Tallehraud hat die Memoiren die Quelle der
geschichtliche" Wahrheit genannt; aber wie oft werden gerade durch Denk¬
würdigkeiten von Staatsmännern die heftigsten Widersprüche von Zeitgenossen
hervorgerufen! Darum wiederholen wir den zu Anfang gemachten Vorbehalt.

Aber beim Lesen dieser Erinnerungen drängt sich uns "och ein andrer
Gedanke auf. Der deutsch-französische Krieg hat so zahlreiche Umgestaltunge"
von Rechtsverhältnisse" zur Folge gehabt, daß eine Sammlung der Quellen
für das Verständnis der neuen Geschichte wie des neuen Rechts gewiß von
großem Nutzen sei" würde. Frankreich hat sofort nach dem Friedensschluß
begonnen, alle Urkunde" vou staatsrechtlicher Bedeutung, die auf den Krieg,
den darauf folgenden Friedensschluß und die daraus sich ergebenden par-'
lameutnrischen Verhandlungen, Gesetze, Abmachungen, Verordnungen usw. Bezug



*) 1890 im vierten Bande von Mnrquardsens Handbuch deS öffentlichen Rechts er¬
schienen-
Aus den Denkwürdigkeiten des luxemburgischen Ministers Servais

Von Luxemburg habe das Bedürfnis gehabt, sich in seinen Erinnerungen, die
nach seinem Tode veröffentlicht werden sollten, von dem während seiner Lei¬
tung der Landesangelegenheiten vielfach gegen ihn erhobnen Vorwurf zu rei¬
nigen, daß er die Würde und die Unabhängigkeit seines Vaterlandes nicht ge¬
nügend gewahrt habe. In diesem Sinne hat Servais mehrere Schriften über
die Bedeutung des Londoner Vertrags vom 11. Mai 1867 und über den
Vertrag mit dem deutschen Reiche vom 11. Juni 1872 veröffentlicht. Noch
kurz vor seinem Tode kündigte er, damals Kammerpräsident, gegen die Aus¬
führungen des Staatsministers Epheben in dessen „Staatsrecht des Großherzog¬
tums Luxemburg""') über die Pflichten eines neutralen Landes eine Jnter¬
pellation an. Aus welchem Grunde er die staatsrechtlichen Lehren seines Dienst¬
nachfolgers bemängeln wollte, ist nicht mehr bekannt geworden; denn in der
unmittelbar vorhergehenden Verhandlung hatte sich Minister Epheben für die
Nichtigkeit seiner Meinung auf einen amtlichen Bericht berufen, den der Inter¬
pellant selbst, der damalige Staatsminister Servais, am 14. März 1868 an
den König-Großherzog erstattet hatte. Nachdem die Kammer (Sitzung vom
15. Februar 1890) über die erste Jnterpellation zur Tagesordnung über¬
gegangen war, wurde der zweite Gegenstand — die Pflichten der Neutralen —
nicht mehr besprochen.

Dieser Vorgang, den Servais in seine im Januar 1879 abgeschlossenen
und seitdem nicht fortgesetzten Denkwürdigkeiten nicht mehr hat aufnehmen
können, zeigt in lehrreicher Weise, wie selbst ein Staatsmann, der seine Er¬
innerungen gutgläubig niederschreibe, durch das Gedächtnis irregeführt werden
kann. Wenn schon die Erinnerung an so wichtige Vorgänge völlig schwinden
kann, wie leicht kann die schon durch den Wirbel der Erscheinungen und der
sie begleitende» Empfindungen getrübte Auffassung der Dinge das Gedächtnis
nachträglich beeinträchtigen! Tallehraud hat die Memoiren die Quelle der
geschichtliche» Wahrheit genannt; aber wie oft werden gerade durch Denk¬
würdigkeiten von Staatsmännern die heftigsten Widersprüche von Zeitgenossen
hervorgerufen! Darum wiederholen wir den zu Anfang gemachten Vorbehalt.

Aber beim Lesen dieser Erinnerungen drängt sich uns »och ein andrer
Gedanke auf. Der deutsch-französische Krieg hat so zahlreiche Umgestaltunge»
von Rechtsverhältnisse» zur Folge gehabt, daß eine Sammlung der Quellen
für das Verständnis der neuen Geschichte wie des neuen Rechts gewiß von
großem Nutzen sei» würde. Frankreich hat sofort nach dem Friedensschluß
begonnen, alle Urkunde» vou staatsrechtlicher Bedeutung, die auf den Krieg,
den darauf folgenden Friedensschluß und die daraus sich ergebenden par-'
lameutnrischen Verhandlungen, Gesetze, Abmachungen, Verordnungen usw. Bezug



*) 1890 im vierten Bande von Mnrquardsens Handbuch deS öffentlichen Rechts er¬
schienen-
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[0245] Aus den Denkwürdigkeiten des luxemburgischen Ministers Servais Von Luxemburg habe das Bedürfnis gehabt, sich in seinen Erinnerungen, die nach seinem Tode veröffentlicht werden sollten, von dem während seiner Lei¬ tung der Landesangelegenheiten vielfach gegen ihn erhobnen Vorwurf zu rei¬ nigen, daß er die Würde und die Unabhängigkeit seines Vaterlandes nicht ge¬ nügend gewahrt habe. In diesem Sinne hat Servais mehrere Schriften über die Bedeutung des Londoner Vertrags vom 11. Mai 1867 und über den Vertrag mit dem deutschen Reiche vom 11. Juni 1872 veröffentlicht. Noch kurz vor seinem Tode kündigte er, damals Kammerpräsident, gegen die Aus¬ führungen des Staatsministers Epheben in dessen „Staatsrecht des Großherzog¬ tums Luxemburg""') über die Pflichten eines neutralen Landes eine Jnter¬ pellation an. Aus welchem Grunde er die staatsrechtlichen Lehren seines Dienst¬ nachfolgers bemängeln wollte, ist nicht mehr bekannt geworden; denn in der unmittelbar vorhergehenden Verhandlung hatte sich Minister Epheben für die Nichtigkeit seiner Meinung auf einen amtlichen Bericht berufen, den der Inter¬ pellant selbst, der damalige Staatsminister Servais, am 14. März 1868 an den König-Großherzog erstattet hatte. Nachdem die Kammer (Sitzung vom 15. Februar 1890) über die erste Jnterpellation zur Tagesordnung über¬ gegangen war, wurde der zweite Gegenstand — die Pflichten der Neutralen — nicht mehr besprochen. Dieser Vorgang, den Servais in seine im Januar 1879 abgeschlossenen und seitdem nicht fortgesetzten Denkwürdigkeiten nicht mehr hat aufnehmen können, zeigt in lehrreicher Weise, wie selbst ein Staatsmann, der seine Er¬ innerungen gutgläubig niederschreibe, durch das Gedächtnis irregeführt werden kann. Wenn schon die Erinnerung an so wichtige Vorgänge völlig schwinden kann, wie leicht kann die schon durch den Wirbel der Erscheinungen und der sie begleitende» Empfindungen getrübte Auffassung der Dinge das Gedächtnis nachträglich beeinträchtigen! Tallehraud hat die Memoiren die Quelle der geschichtliche» Wahrheit genannt; aber wie oft werden gerade durch Denk¬ würdigkeiten von Staatsmännern die heftigsten Widersprüche von Zeitgenossen hervorgerufen! Darum wiederholen wir den zu Anfang gemachten Vorbehalt. Aber beim Lesen dieser Erinnerungen drängt sich uns »och ein andrer Gedanke auf. Der deutsch-französische Krieg hat so zahlreiche Umgestaltunge» von Rechtsverhältnisse» zur Folge gehabt, daß eine Sammlung der Quellen für das Verständnis der neuen Geschichte wie des neuen Rechts gewiß von großem Nutzen sei» würde. Frankreich hat sofort nach dem Friedensschluß begonnen, alle Urkunde» vou staatsrechtlicher Bedeutung, die auf den Krieg, den darauf folgenden Friedensschluß und die daraus sich ergebenden par-' lameutnrischen Verhandlungen, Gesetze, Abmachungen, Verordnungen usw. Bezug *) 1890 im vierten Bande von Mnrquardsens Handbuch deS öffentlichen Rechts er¬ schienen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/245>, abgerufen am 01.09.2024.