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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Der Untergang der antiken Joell

sie das ganze Volk durchdrungen hat, und für den formenden Geist kein zu
formendes Rohmaterial an Naturmenschen mehr übrig bleibt. Die Kinder der
Gebildeten können das nicht ersetzen, denn die hören schon im zweiten Lebens¬
jahre auf, Naturmenschen zu sein. Die ästhetische Verfeinerung verleidet die
natürlichen Genüsse, erweckt die unersättliche Begierde nach immer neuen Er¬
scheinungen und verleitet zur Unnatur. Die philosophische Grübelei verekelt
sowohl die einfachen natürlichen Genüsse wie die Arbeit; die einen dadurch,
daß sie sie in Illusionen auflöst, die andre, indem sie ihre Zwecklosigkeit auf¬
deckt. Religiöse und moralische Grillen lassen in allen Genüssen und zuletzt
auch i" aller Thätigkeit Sünden wittern. So wird das Leben verleidet, und
dann kommen noch die wirtschaftliche Not und Klugheit und verbieten das
Kinderzeugen. Wie soll da ein Volk gesund und am Leben bleiben?

Worin bestand denn die Überlegenheit der deutscheu Barbaren? Darin,
daß sie gedankenlos in den Tag hinein lebten, sich ihres Lebens freuten, so
viel Kiuder zeugten, wie sie konnten, und den herangewachsenen Söhnen sagten:
nun zieht hinaus in die Welt, raubt euch Vieh, Äcker, Schätze, Weiber, schlagt
jeden tot, der euch die Beute streitig macht, und werdet ihr selber totgeschlagen,
nun dann trinkt und turnt in Walhall weiter! Totgeschlagen wurden ihrer
genug, aber da immer neuer Nachschub folgte, so behaupteten sie zuguderletzt
das Feld. Wem verdankt denn das Judenvolk seiue Unverwüstlichkeit? Dem
Optimismus des heiligen Buches, an dem die Juden mit unerschütterlichem
Glauben hänge", und das da lehrt, alle Dinge seien von einem guten Gotte
gut geschaffen (den Teufel, den spätere Grübler eingeschmuggelt haben, über¬
lassen sie den Christen), das ihnen irdisches Wohlergehen verheißt, ihnen be¬
fiehlt, Jehovah Feste zu feiern mit Essen, Trinken und Fröhlichsein, und das
reichen Kindersegen als das größte Glück und die größte Ehre preist.
(Schopenhauer hat das Alte Testament grimmig gehaßt.) Eben jetzt sind
fromme Leute daran, die "bodenlose Unsittlichkeit" unsers Landvolks auf¬
zudecken und zu bejammern. Nun, diese bodenlos unsittlichen Weiber, Ehe¬
weiber nud Mädchen haben durchschnittlich vier bis sechs Kinder, mitunter
anch sechs bis acht. Wenn man unsre Landleute erst alle vollkommen ästhetisch,
gesittet, moralisch gemacht, ihnen Selbstbeherrschung und wirtschaftliche Klug¬
heit beigebracht haben wird, dann wird in ganz Deutschland teils der strenge
Zölibat, teils das Zweikindershstem herrschen; von den zwei Kindern wird oft
"och eins sterben, und unser Land, das seinen Bewohnern längst zu enge ge¬
worden ist, wird bald Raum haben für gelbe, braune und schwarze Barbaren.
Worin besteht denn die Vielbeklagte Überlegenheit der Polen über die Deutschen
in Ostelbien? Darin, daß sie noch gedankenloser, leichtsinniger und "unsitt¬
licher" sind als das rohe deutsche Landvolk, unter dem sie leben, und noch
mehr Kinder haben. Übervölkerung, sagt secat sehr gut, ist die Krankheit der
gesunden Nationen. Natürlich muß man beachten, daß auch die Gesuudheits-


Der Untergang der antiken Joell

sie das ganze Volk durchdrungen hat, und für den formenden Geist kein zu
formendes Rohmaterial an Naturmenschen mehr übrig bleibt. Die Kinder der
Gebildeten können das nicht ersetzen, denn die hören schon im zweiten Lebens¬
jahre auf, Naturmenschen zu sein. Die ästhetische Verfeinerung verleidet die
natürlichen Genüsse, erweckt die unersättliche Begierde nach immer neuen Er¬
scheinungen und verleitet zur Unnatur. Die philosophische Grübelei verekelt
sowohl die einfachen natürlichen Genüsse wie die Arbeit; die einen dadurch,
daß sie sie in Illusionen auflöst, die andre, indem sie ihre Zwecklosigkeit auf¬
deckt. Religiöse und moralische Grillen lassen in allen Genüssen und zuletzt
auch i» aller Thätigkeit Sünden wittern. So wird das Leben verleidet, und
dann kommen noch die wirtschaftliche Not und Klugheit und verbieten das
Kinderzeugen. Wie soll da ein Volk gesund und am Leben bleiben?

Worin bestand denn die Überlegenheit der deutscheu Barbaren? Darin,
daß sie gedankenlos in den Tag hinein lebten, sich ihres Lebens freuten, so
viel Kiuder zeugten, wie sie konnten, und den herangewachsenen Söhnen sagten:
nun zieht hinaus in die Welt, raubt euch Vieh, Äcker, Schätze, Weiber, schlagt
jeden tot, der euch die Beute streitig macht, und werdet ihr selber totgeschlagen,
nun dann trinkt und turnt in Walhall weiter! Totgeschlagen wurden ihrer
genug, aber da immer neuer Nachschub folgte, so behaupteten sie zuguderletzt
das Feld. Wem verdankt denn das Judenvolk seiue Unverwüstlichkeit? Dem
Optimismus des heiligen Buches, an dem die Juden mit unerschütterlichem
Glauben hänge», und das da lehrt, alle Dinge seien von einem guten Gotte
gut geschaffen (den Teufel, den spätere Grübler eingeschmuggelt haben, über¬
lassen sie den Christen), das ihnen irdisches Wohlergehen verheißt, ihnen be¬
fiehlt, Jehovah Feste zu feiern mit Essen, Trinken und Fröhlichsein, und das
reichen Kindersegen als das größte Glück und die größte Ehre preist.
(Schopenhauer hat das Alte Testament grimmig gehaßt.) Eben jetzt sind
fromme Leute daran, die „bodenlose Unsittlichkeit" unsers Landvolks auf¬
zudecken und zu bejammern. Nun, diese bodenlos unsittlichen Weiber, Ehe¬
weiber nud Mädchen haben durchschnittlich vier bis sechs Kinder, mitunter
anch sechs bis acht. Wenn man unsre Landleute erst alle vollkommen ästhetisch,
gesittet, moralisch gemacht, ihnen Selbstbeherrschung und wirtschaftliche Klug¬
heit beigebracht haben wird, dann wird in ganz Deutschland teils der strenge
Zölibat, teils das Zweikindershstem herrschen; von den zwei Kindern wird oft
»och eins sterben, und unser Land, das seinen Bewohnern längst zu enge ge¬
worden ist, wird bald Raum haben für gelbe, braune und schwarze Barbaren.
Worin besteht denn die Vielbeklagte Überlegenheit der Polen über die Deutschen
in Ostelbien? Darin, daß sie noch gedankenloser, leichtsinniger und „unsitt¬
licher" sind als das rohe deutsche Landvolk, unter dem sie leben, und noch
mehr Kinder haben. Übervölkerung, sagt secat sehr gut, ist die Krankheit der
gesunden Nationen. Natürlich muß man beachten, daß auch die Gesuudheits-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/239>, abgerufen am 01.09.2024.