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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Zur Hilfslehrerfrage in Preußen

große Mehrzahl hat sich unterzubringen gewußt. Nun, daß sich die Kandidaten
in irgend einer Weise unterzubringen gewußt haben, darüber war wohl nie¬
mand im Zweifel; was wäre auch sonst aus ihnen geworden? Das Unglück
besteht ja eben darin, daß sie der Not gehorchend sich unterbringen müssen,
unterbringen um jeden Preis. Das Publikum überträgt natürlich den Grad
von Achtung, den es diesen Kandidaten entgegenbringt, auch auf den Lehrer
in amtlicher Stellung.

Wenn der Minister die Größe des Notstands darnach bemißt, ob mehr
oder weniger Hilfslehrer mit sieben- bis neunjähriger Dienstzeit persönlich ihn
um Beschäftigung bitten, so ist dem entgegenzuhalten, daß nach der Einführung
der Anciennität jeder die Fruchtlosigkeit solcher Bemühungen von selber ein¬
sieht. Nach der Angabe des Ministers ist die Zahl der Hilfslehrer während
des Jahres 1893/94 von 1492 auf 1565 gestiegen, die Zahl der Neuanstel¬
lungen dagegen zurückgegangen. Daraus sollte man doch schließen, die An¬
stellungsaussichten der Hilfslehrer hätten sich noch mehr verschlechtert. Der
Minister aber bemerkt, die Regierung habe mit Erfolg an der Besserung der
Verhältnisse gearbeitet. Er führt ferner an, die Wartezeit an nichtstaatlichen
Anstalten betrage drei Jahre fünf Monate, und damit lasse sich allenfalls noch
auskommen. Dagegen ist zu bemerken: 1. Die Wartezeit an staatlichen An¬
stalten ist, wie der Minister selbst zugiebt, beträchtlich großer, sie steht zu jener
im Verhältnis vou 3 : 2. 2. Drei Jahre fünf Monate war die Durchschnitts-
dauer der Wartezeit in den Jahren 1888 bis 1893, die weit günstigern Zu¬
stände der frühern Jahre haben also auch auf jene Zahl mit eingewirkt; für
1892/93 betrug die Durchschuittsdauer bereits vier Jahre drei Monate. 3. Seit¬
dem haben sich die Verhältnisse noch mehr verschlimmert, für 1894 beträgt
die Wartezeit im Durchschnitt schon fttnfuudeiuhalb Jahr. Wenn also der
Minister von der allergünstigsten Ziffer (drei Jahre fünf Monate) nur be¬
haupten kann, damit lasse sich allenfalls noch auskommen, und wenn sich aus
seinen eignen Zahlen klar ersehen läßt, daß schon jetzt, wo die Jahrgänge der
Überproduktion noch auf Anstellung warten, an staatlichen Anstalten die durch¬
schnittliche Wartezeit um nicht weniger als vier Jahre über jene Zahl hinaus¬
reicht, so liegt in den Worten des Ministers doch das unwillkürliche Zuge¬
ständnis, daß für die überwiegende Mehrheit der Hilfslehrer ein außerordent¬
licher Notstand besteht. Angesichts dieser Lage wendet sich die Regierung an
den Idealismus der Lehrer, aber "es geht nicht an, eine einzelne Beamtenklasse
auf die Idealität ihres Berufs zu verweisen und dem gegenüber die andern
Beziehungen ihres Gedeihens als unwichtig zurücktreten zu lassen," so heißt es
mit Recht in der Eingabe der Provinzialvereinc an den Kultusminister.

Die Negierung behauptet ferner, die Verhältnisse würden sich von selber
bessern, denn die jährliche Zahl der Anstelliingsfähigen sei zurückgegangen; aber
der Rückgang wäre doch nur dann beweisend, wenn jene Zahl ganz bedeutend


Zur Hilfslehrerfrage in Preußen

große Mehrzahl hat sich unterzubringen gewußt. Nun, daß sich die Kandidaten
in irgend einer Weise unterzubringen gewußt haben, darüber war wohl nie¬
mand im Zweifel; was wäre auch sonst aus ihnen geworden? Das Unglück
besteht ja eben darin, daß sie der Not gehorchend sich unterbringen müssen,
unterbringen um jeden Preis. Das Publikum überträgt natürlich den Grad
von Achtung, den es diesen Kandidaten entgegenbringt, auch auf den Lehrer
in amtlicher Stellung.

Wenn der Minister die Größe des Notstands darnach bemißt, ob mehr
oder weniger Hilfslehrer mit sieben- bis neunjähriger Dienstzeit persönlich ihn
um Beschäftigung bitten, so ist dem entgegenzuhalten, daß nach der Einführung
der Anciennität jeder die Fruchtlosigkeit solcher Bemühungen von selber ein¬
sieht. Nach der Angabe des Ministers ist die Zahl der Hilfslehrer während
des Jahres 1893/94 von 1492 auf 1565 gestiegen, die Zahl der Neuanstel¬
lungen dagegen zurückgegangen. Daraus sollte man doch schließen, die An¬
stellungsaussichten der Hilfslehrer hätten sich noch mehr verschlechtert. Der
Minister aber bemerkt, die Regierung habe mit Erfolg an der Besserung der
Verhältnisse gearbeitet. Er führt ferner an, die Wartezeit an nichtstaatlichen
Anstalten betrage drei Jahre fünf Monate, und damit lasse sich allenfalls noch
auskommen. Dagegen ist zu bemerken: 1. Die Wartezeit an staatlichen An¬
stalten ist, wie der Minister selbst zugiebt, beträchtlich großer, sie steht zu jener
im Verhältnis vou 3 : 2. 2. Drei Jahre fünf Monate war die Durchschnitts-
dauer der Wartezeit in den Jahren 1888 bis 1893, die weit günstigern Zu¬
stände der frühern Jahre haben also auch auf jene Zahl mit eingewirkt; für
1892/93 betrug die Durchschuittsdauer bereits vier Jahre drei Monate. 3. Seit¬
dem haben sich die Verhältnisse noch mehr verschlimmert, für 1894 beträgt
die Wartezeit im Durchschnitt schon fttnfuudeiuhalb Jahr. Wenn also der
Minister von der allergünstigsten Ziffer (drei Jahre fünf Monate) nur be¬
haupten kann, damit lasse sich allenfalls noch auskommen, und wenn sich aus
seinen eignen Zahlen klar ersehen läßt, daß schon jetzt, wo die Jahrgänge der
Überproduktion noch auf Anstellung warten, an staatlichen Anstalten die durch¬
schnittliche Wartezeit um nicht weniger als vier Jahre über jene Zahl hinaus¬
reicht, so liegt in den Worten des Ministers doch das unwillkürliche Zuge¬
ständnis, daß für die überwiegende Mehrheit der Hilfslehrer ein außerordent¬
licher Notstand besteht. Angesichts dieser Lage wendet sich die Regierung an
den Idealismus der Lehrer, aber „es geht nicht an, eine einzelne Beamtenklasse
auf die Idealität ihres Berufs zu verweisen und dem gegenüber die andern
Beziehungen ihres Gedeihens als unwichtig zurücktreten zu lassen," so heißt es
mit Recht in der Eingabe der Provinzialvereinc an den Kultusminister.

Die Negierung behauptet ferner, die Verhältnisse würden sich von selber
bessern, denn die jährliche Zahl der Anstelliingsfähigen sei zurückgegangen; aber
der Rückgang wäre doch nur dann beweisend, wenn jene Zahl ganz bedeutend


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[0229] Zur Hilfslehrerfrage in Preußen große Mehrzahl hat sich unterzubringen gewußt. Nun, daß sich die Kandidaten in irgend einer Weise unterzubringen gewußt haben, darüber war wohl nie¬ mand im Zweifel; was wäre auch sonst aus ihnen geworden? Das Unglück besteht ja eben darin, daß sie der Not gehorchend sich unterbringen müssen, unterbringen um jeden Preis. Das Publikum überträgt natürlich den Grad von Achtung, den es diesen Kandidaten entgegenbringt, auch auf den Lehrer in amtlicher Stellung. Wenn der Minister die Größe des Notstands darnach bemißt, ob mehr oder weniger Hilfslehrer mit sieben- bis neunjähriger Dienstzeit persönlich ihn um Beschäftigung bitten, so ist dem entgegenzuhalten, daß nach der Einführung der Anciennität jeder die Fruchtlosigkeit solcher Bemühungen von selber ein¬ sieht. Nach der Angabe des Ministers ist die Zahl der Hilfslehrer während des Jahres 1893/94 von 1492 auf 1565 gestiegen, die Zahl der Neuanstel¬ lungen dagegen zurückgegangen. Daraus sollte man doch schließen, die An¬ stellungsaussichten der Hilfslehrer hätten sich noch mehr verschlechtert. Der Minister aber bemerkt, die Regierung habe mit Erfolg an der Besserung der Verhältnisse gearbeitet. Er führt ferner an, die Wartezeit an nichtstaatlichen Anstalten betrage drei Jahre fünf Monate, und damit lasse sich allenfalls noch auskommen. Dagegen ist zu bemerken: 1. Die Wartezeit an staatlichen An¬ stalten ist, wie der Minister selbst zugiebt, beträchtlich großer, sie steht zu jener im Verhältnis vou 3 : 2. 2. Drei Jahre fünf Monate war die Durchschnitts- dauer der Wartezeit in den Jahren 1888 bis 1893, die weit günstigern Zu¬ stände der frühern Jahre haben also auch auf jene Zahl mit eingewirkt; für 1892/93 betrug die Durchschuittsdauer bereits vier Jahre drei Monate. 3. Seit¬ dem haben sich die Verhältnisse noch mehr verschlimmert, für 1894 beträgt die Wartezeit im Durchschnitt schon fttnfuudeiuhalb Jahr. Wenn also der Minister von der allergünstigsten Ziffer (drei Jahre fünf Monate) nur be¬ haupten kann, damit lasse sich allenfalls noch auskommen, und wenn sich aus seinen eignen Zahlen klar ersehen läßt, daß schon jetzt, wo die Jahrgänge der Überproduktion noch auf Anstellung warten, an staatlichen Anstalten die durch¬ schnittliche Wartezeit um nicht weniger als vier Jahre über jene Zahl hinaus¬ reicht, so liegt in den Worten des Ministers doch das unwillkürliche Zuge¬ ständnis, daß für die überwiegende Mehrheit der Hilfslehrer ein außerordent¬ licher Notstand besteht. Angesichts dieser Lage wendet sich die Regierung an den Idealismus der Lehrer, aber „es geht nicht an, eine einzelne Beamtenklasse auf die Idealität ihres Berufs zu verweisen und dem gegenüber die andern Beziehungen ihres Gedeihens als unwichtig zurücktreten zu lassen," so heißt es mit Recht in der Eingabe der Provinzialvereinc an den Kultusminister. Die Negierung behauptet ferner, die Verhältnisse würden sich von selber bessern, denn die jährliche Zahl der Anstelliingsfähigen sei zurückgegangen; aber der Rückgang wäre doch nur dann beweisend, wenn jene Zahl ganz bedeutend

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/229>, abgerufen am 25.11.2024.