Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

ist. Sollte es wirklich keine passendere Bezeichnung geben, warum befreit man
sie nicht wenigstens von einem Titel, den sie selber als Makel empfinden? Es
kostet ja nichts. Jeder Referendar, der Offizieraspirant ist und den Vermögens¬
nachweis liefert, wird ohne weiteres zur Offizierswahl gestellt. Nicht so der
Schulamtskandidat. Und warum das? Hören wir den Herrn Kriegsminister!
"Es kann nicht verschwiegen werden, schreibt er, daß wiederholentlich Fälle
vorgekommen sind, in denen die Probezeit der Kandidaten nicht zu ihren Gunsten
ausfiel, und dann häufig der Umstand eintrat, daß sie ihre Laufbahn aufgeben
mußten und in Lebensstellungen gerieten, die mit dem Offizierstande nicht ver¬
einbar waren." Mit andern Worten: Fälle, wo Referendare, weil sie die
zweite Prüfung nicht bestanden hätten, in Lebensstellungen gedrängt worden
wären, die mit dem Osfizierstcmde nicht vereinbar waren, sind noch nie vor¬
gekommen und werden nie vorkommen.

Wenn sich diese Übelstände nur aus ein oder zwei Jahre nach Erlangung
der Austellungsfühigkeit erstreckten, blieben sie auch so noch eine durch nichts
gerechtfertigte Zurücksetzung des Lehrerstandes, aber sie wären doch wenigstens
in der Praxis erträglich. Geradezu unerträglich werden sie aber durch die
stetig zunehmende Ausdehnung der Wartezeit bis zur Anstellung. Die Warte¬
zeit an staatlichen Anstalten betrug bereits am 1. April 1889 im Durchschnitt
3 Jahre 6 Monate, sie stieg bis zum 1. April 1893 auf 6 Jahre 10 Monate
und 1894 auf 7 Jahre 6 Monate. Am 1. Mai 1894 gab es in Preußen 1565
anstellungsfähige Kandidaten; dieser Zahl stehen jährlich ungefähr 200 Neu¬
aufteilungen gegenüber, d. h. für die, die Ostern 1894 anstellungsfähig geworden
sind, beträgt die Wartezeit etwa acht Jahre. Soviel der eine Teil hinter der
Durchschnittszahl zurückbleibt, um soviel steigt der andre Teil darüber hinaus;
Michaeli 1895 gab es 277 Hilfslehrer mit mehr als siebenjähriger Dienstzeit
(110 zwischen 7 und 8. 69 zwischen 8 und 9, 40 zwischen 9 und 10, 58
über 10 Jahre). Da nach der Statistik die wissenschaftliche und praktische Vor¬
bereitung für den Beruf annähernd 8 Jahre in Anspruch nimmt, so verstreichen
vom Beginn der Studienzeit bis zur festen Anstellung im Durchschnitt min¬
destens 15 Jahre. Schon 1893 wurden 61 Prozent der Lehrer in einem
Lebensalter von 30 bis 35 Jahren angestellt, und 24 Prozent aller nicht fest
angestellten Lehrer hatten das fünfunddreißigste Lebensjahr bereits überschritten.
Nach etwa achtjähriger Vorbereitungszeit für den Beruf wird ein großer Teil
der jüngern Lehrer eine Reihe von Jahren amtlich überhaupt nicht beschäftigt,
und zwar gerade in den Jahren, wo die Schaffenskraft und Schaffenslust am
meisten zur Bethätigung drängt; es hängt vom Zufall ab, ob sie in dieser Zeit
durch private Thätigkeit erwerben, was zum Leben nötig ist. Der Begriff
"standesgemäß" spielt da nur allzuoft eine recht untergeordnete Rolle. Weitere
Jahre unterrichten sie dann in amtlicher Eigenschaft gegen einen Lohn von
125, wenns hoch kommt 150 Mark im Momie.


ist. Sollte es wirklich keine passendere Bezeichnung geben, warum befreit man
sie nicht wenigstens von einem Titel, den sie selber als Makel empfinden? Es
kostet ja nichts. Jeder Referendar, der Offizieraspirant ist und den Vermögens¬
nachweis liefert, wird ohne weiteres zur Offizierswahl gestellt. Nicht so der
Schulamtskandidat. Und warum das? Hören wir den Herrn Kriegsminister!
„Es kann nicht verschwiegen werden, schreibt er, daß wiederholentlich Fälle
vorgekommen sind, in denen die Probezeit der Kandidaten nicht zu ihren Gunsten
ausfiel, und dann häufig der Umstand eintrat, daß sie ihre Laufbahn aufgeben
mußten und in Lebensstellungen gerieten, die mit dem Offizierstande nicht ver¬
einbar waren." Mit andern Worten: Fälle, wo Referendare, weil sie die
zweite Prüfung nicht bestanden hätten, in Lebensstellungen gedrängt worden
wären, die mit dem Osfizierstcmde nicht vereinbar waren, sind noch nie vor¬
gekommen und werden nie vorkommen.

Wenn sich diese Übelstände nur aus ein oder zwei Jahre nach Erlangung
der Austellungsfühigkeit erstreckten, blieben sie auch so noch eine durch nichts
gerechtfertigte Zurücksetzung des Lehrerstandes, aber sie wären doch wenigstens
in der Praxis erträglich. Geradezu unerträglich werden sie aber durch die
stetig zunehmende Ausdehnung der Wartezeit bis zur Anstellung. Die Warte¬
zeit an staatlichen Anstalten betrug bereits am 1. April 1889 im Durchschnitt
3 Jahre 6 Monate, sie stieg bis zum 1. April 1893 auf 6 Jahre 10 Monate
und 1894 auf 7 Jahre 6 Monate. Am 1. Mai 1894 gab es in Preußen 1565
anstellungsfähige Kandidaten; dieser Zahl stehen jährlich ungefähr 200 Neu¬
aufteilungen gegenüber, d. h. für die, die Ostern 1894 anstellungsfähig geworden
sind, beträgt die Wartezeit etwa acht Jahre. Soviel der eine Teil hinter der
Durchschnittszahl zurückbleibt, um soviel steigt der andre Teil darüber hinaus;
Michaeli 1895 gab es 277 Hilfslehrer mit mehr als siebenjähriger Dienstzeit
(110 zwischen 7 und 8. 69 zwischen 8 und 9, 40 zwischen 9 und 10, 58
über 10 Jahre). Da nach der Statistik die wissenschaftliche und praktische Vor¬
bereitung für den Beruf annähernd 8 Jahre in Anspruch nimmt, so verstreichen
vom Beginn der Studienzeit bis zur festen Anstellung im Durchschnitt min¬
destens 15 Jahre. Schon 1893 wurden 61 Prozent der Lehrer in einem
Lebensalter von 30 bis 35 Jahren angestellt, und 24 Prozent aller nicht fest
angestellten Lehrer hatten das fünfunddreißigste Lebensjahr bereits überschritten.
Nach etwa achtjähriger Vorbereitungszeit für den Beruf wird ein großer Teil
der jüngern Lehrer eine Reihe von Jahren amtlich überhaupt nicht beschäftigt,
und zwar gerade in den Jahren, wo die Schaffenskraft und Schaffenslust am
meisten zur Bethätigung drängt; es hängt vom Zufall ab, ob sie in dieser Zeit
durch private Thätigkeit erwerben, was zum Leben nötig ist. Der Begriff
„standesgemäß" spielt da nur allzuoft eine recht untergeordnete Rolle. Weitere
Jahre unterrichten sie dann in amtlicher Eigenschaft gegen einen Lohn von
125, wenns hoch kommt 150 Mark im Momie.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0224" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/221870"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_694" prev="#ID_693"> ist. Sollte es wirklich keine passendere Bezeichnung geben, warum befreit man<lb/>
sie nicht wenigstens von einem Titel, den sie selber als Makel empfinden? Es<lb/>
kostet ja nichts. Jeder Referendar, der Offizieraspirant ist und den Vermögens¬<lb/>
nachweis liefert, wird ohne weiteres zur Offizierswahl gestellt. Nicht so der<lb/>
Schulamtskandidat. Und warum das? Hören wir den Herrn Kriegsminister!<lb/>
&#x201E;Es kann nicht verschwiegen werden, schreibt er, daß wiederholentlich Fälle<lb/>
vorgekommen sind, in denen die Probezeit der Kandidaten nicht zu ihren Gunsten<lb/>
ausfiel, und dann häufig der Umstand eintrat, daß sie ihre Laufbahn aufgeben<lb/>
mußten und in Lebensstellungen gerieten, die mit dem Offizierstande nicht ver¬<lb/>
einbar waren." Mit andern Worten: Fälle, wo Referendare, weil sie die<lb/>
zweite Prüfung nicht bestanden hätten, in Lebensstellungen gedrängt worden<lb/>
wären, die mit dem Osfizierstcmde nicht vereinbar waren, sind noch nie vor¬<lb/>
gekommen und werden nie vorkommen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_695"> Wenn sich diese Übelstände nur aus ein oder zwei Jahre nach Erlangung<lb/>
der Austellungsfühigkeit erstreckten, blieben sie auch so noch eine durch nichts<lb/>
gerechtfertigte Zurücksetzung des Lehrerstandes, aber sie wären doch wenigstens<lb/>
in der Praxis erträglich. Geradezu unerträglich werden sie aber durch die<lb/>
stetig zunehmende Ausdehnung der Wartezeit bis zur Anstellung. Die Warte¬<lb/>
zeit an staatlichen Anstalten betrug bereits am 1. April 1889 im Durchschnitt<lb/>
3 Jahre 6 Monate, sie stieg bis zum 1. April 1893 auf 6 Jahre 10 Monate<lb/>
und 1894 auf 7 Jahre 6 Monate. Am 1. Mai 1894 gab es in Preußen 1565<lb/>
anstellungsfähige Kandidaten; dieser Zahl stehen jährlich ungefähr 200 Neu¬<lb/>
aufteilungen gegenüber, d. h. für die, die Ostern 1894 anstellungsfähig geworden<lb/>
sind, beträgt die Wartezeit etwa acht Jahre. Soviel der eine Teil hinter der<lb/>
Durchschnittszahl zurückbleibt, um soviel steigt der andre Teil darüber hinaus;<lb/>
Michaeli 1895 gab es 277 Hilfslehrer mit mehr als siebenjähriger Dienstzeit<lb/>
(110 zwischen 7 und 8. 69 zwischen 8 und 9, 40 zwischen 9 und 10, 58<lb/>
über 10 Jahre). Da nach der Statistik die wissenschaftliche und praktische Vor¬<lb/>
bereitung für den Beruf annähernd 8 Jahre in Anspruch nimmt, so verstreichen<lb/>
vom Beginn der Studienzeit bis zur festen Anstellung im Durchschnitt min¬<lb/>
destens 15 Jahre. Schon 1893 wurden 61 Prozent der Lehrer in einem<lb/>
Lebensalter von 30 bis 35 Jahren angestellt, und 24 Prozent aller nicht fest<lb/>
angestellten Lehrer hatten das fünfunddreißigste Lebensjahr bereits überschritten.<lb/>
Nach etwa achtjähriger Vorbereitungszeit für den Beruf wird ein großer Teil<lb/>
der jüngern Lehrer eine Reihe von Jahren amtlich überhaupt nicht beschäftigt,<lb/>
und zwar gerade in den Jahren, wo die Schaffenskraft und Schaffenslust am<lb/>
meisten zur Bethätigung drängt; es hängt vom Zufall ab, ob sie in dieser Zeit<lb/>
durch private Thätigkeit erwerben, was zum Leben nötig ist. Der Begriff<lb/>
&#x201E;standesgemäß" spielt da nur allzuoft eine recht untergeordnete Rolle. Weitere<lb/>
Jahre unterrichten sie dann in amtlicher Eigenschaft gegen einen Lohn von<lb/>
125, wenns hoch kommt 150 Mark im Momie.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0224] ist. Sollte es wirklich keine passendere Bezeichnung geben, warum befreit man sie nicht wenigstens von einem Titel, den sie selber als Makel empfinden? Es kostet ja nichts. Jeder Referendar, der Offizieraspirant ist und den Vermögens¬ nachweis liefert, wird ohne weiteres zur Offizierswahl gestellt. Nicht so der Schulamtskandidat. Und warum das? Hören wir den Herrn Kriegsminister! „Es kann nicht verschwiegen werden, schreibt er, daß wiederholentlich Fälle vorgekommen sind, in denen die Probezeit der Kandidaten nicht zu ihren Gunsten ausfiel, und dann häufig der Umstand eintrat, daß sie ihre Laufbahn aufgeben mußten und in Lebensstellungen gerieten, die mit dem Offizierstande nicht ver¬ einbar waren." Mit andern Worten: Fälle, wo Referendare, weil sie die zweite Prüfung nicht bestanden hätten, in Lebensstellungen gedrängt worden wären, die mit dem Osfizierstcmde nicht vereinbar waren, sind noch nie vor¬ gekommen und werden nie vorkommen. Wenn sich diese Übelstände nur aus ein oder zwei Jahre nach Erlangung der Austellungsfühigkeit erstreckten, blieben sie auch so noch eine durch nichts gerechtfertigte Zurücksetzung des Lehrerstandes, aber sie wären doch wenigstens in der Praxis erträglich. Geradezu unerträglich werden sie aber durch die stetig zunehmende Ausdehnung der Wartezeit bis zur Anstellung. Die Warte¬ zeit an staatlichen Anstalten betrug bereits am 1. April 1889 im Durchschnitt 3 Jahre 6 Monate, sie stieg bis zum 1. April 1893 auf 6 Jahre 10 Monate und 1894 auf 7 Jahre 6 Monate. Am 1. Mai 1894 gab es in Preußen 1565 anstellungsfähige Kandidaten; dieser Zahl stehen jährlich ungefähr 200 Neu¬ aufteilungen gegenüber, d. h. für die, die Ostern 1894 anstellungsfähig geworden sind, beträgt die Wartezeit etwa acht Jahre. Soviel der eine Teil hinter der Durchschnittszahl zurückbleibt, um soviel steigt der andre Teil darüber hinaus; Michaeli 1895 gab es 277 Hilfslehrer mit mehr als siebenjähriger Dienstzeit (110 zwischen 7 und 8. 69 zwischen 8 und 9, 40 zwischen 9 und 10, 58 über 10 Jahre). Da nach der Statistik die wissenschaftliche und praktische Vor¬ bereitung für den Beruf annähernd 8 Jahre in Anspruch nimmt, so verstreichen vom Beginn der Studienzeit bis zur festen Anstellung im Durchschnitt min¬ destens 15 Jahre. Schon 1893 wurden 61 Prozent der Lehrer in einem Lebensalter von 30 bis 35 Jahren angestellt, und 24 Prozent aller nicht fest angestellten Lehrer hatten das fünfunddreißigste Lebensjahr bereits überschritten. Nach etwa achtjähriger Vorbereitungszeit für den Beruf wird ein großer Teil der jüngern Lehrer eine Reihe von Jahren amtlich überhaupt nicht beschäftigt, und zwar gerade in den Jahren, wo die Schaffenskraft und Schaffenslust am meisten zur Bethätigung drängt; es hängt vom Zufall ab, ob sie in dieser Zeit durch private Thätigkeit erwerben, was zum Leben nötig ist. Der Begriff „standesgemäß" spielt da nur allzuoft eine recht untergeordnete Rolle. Weitere Jahre unterrichten sie dann in amtlicher Eigenschaft gegen einen Lohn von 125, wenns hoch kommt 150 Mark im Momie.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/224
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/224>, abgerufen am 01.09.2024.