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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Der Osten und der Westen des Reichs und der wirtschaftliche Ausgleich

für die Entscheidung dürfen nur die Gesichtspunkte sein, die ich oben als
wahrhaft ftaatswirtschaftlich bezeichnet habe. Bei einer einfach zahlenmäßigen
Gegenüberstellung der Frachtsätze, Transportmengen, Absatzgelegenheiten würde
beispielsweise eins ganz unberücksichtigt bleiben: das Interesse der Millionen
von Konsumenten, die die Sache erst fühlen, wenn sie schon fertig ist, und die
vorher kaum Veranlassung nehmen werden, ihre Stimme zur öffentlichen Er¬
örterung zu erheben.

Da ich nun meine eignen Zahlen nicht reden lassen wollte, habe ich mich
um die andern gekümmert, die bisher aufgetaucht find. Ich kann die Fracht-
und die Neuberechnungen oder Gewinnberechnungen beider Parteien hier nicht
vorlegen, denn ich habe nur vertraulich hineinblicken dürfen. Ich kaun nur
versichern, daß meiner Ansicht nach die Breslauer zu schwarz, die Westlinge
zu rosig rechneten. Ich bedaure auch, aussprechen zu müssen, daß die Rechner
über ihren Exempeln die allgemeinen Gesichtspunkte fast ganz versäumt haben.
Wenn die Schlesier z. B. erklären: "wir erkennen die Wichtigkeit des Kanals
an" oder ähnlich -- "aber," so zeigt dieses "aber," daß die erste Wendung
wenig mehr ist als eine höfliche Verbeugung. Wer nicht anerkennen wollte,
daß der Kanal für unser Vaterland von größter Bedeutung ist, der machte
sich heute bereits zur lustigen Person. Wenn aber eine der ostländischer
Körperschaften soweit geht, nackt und bloß zu verkünden, der Kanal sei nur
wichtig "für den Güterabsatz der westlich von der Elbe gelegnen Gebiete," so
erscheint mir das sehr kurzsichtig, und wenn sie gar sagt, daß der Mittelland¬
kanal nicht eher ins Leben gerufen werden dürfe, als bis ihrem Bezirke für
den Absatz seiner Jndustrieerzeugnisfe eine vollständige und genügende Ent¬
schädigung gegeben worden sei, so ist das eine sehr bedauerliche Auffassung.
Ich glaube, in Frankreich wäre sie in der einen Gegend des Landes gegen die
andre nicht möglich gewesen.

Was ist vor der Konzessionirung der ersten Eisenbahn in Baiern alles ge¬
schrieben und geglaubt worden! "Die Eisenbahnen erleichtern") das Vordringen
eines fremden Kriegsheeres (es ist gewiß, daß Napoleon 1812 Rußland erobert
hätte, wenn dort Eisenbahnen gewesen wären); die inländische Pferdezucht, an
deren Erhaltung doch auch dem Militär viel gelegen sein muß, wird ruinirt.
Deutschland hat weder die Kapitalien noch den Verkehr, eine Eisenbahn bauen
zu können, in England und Frankreich, ja selbst in Nußland und Österreich
sind ganz andre Verhältnisse. Süddeutschland hat keinen Handel auf weitere
Entfernungen und braucht keine solchen Erleichterungen des Verkehrs, es fehlt
an Verkehr; der bisher hier vorhcmdne in Mannheim, Heilbronn, Straßburg,
am Main und in Nürnberg wird, weil er hauptsächlich Speditions- und
Transithandel ist, vernichtet werden, die Staatsfinanzen werden ruinirt, denn



*) Siehe die sehr lesenswerte Schrift "o" G. Zöpfl, Mittelländische BerkehrsproMe.
Berlin, Siemcnroth und Troschel, 189S.
Der Osten und der Westen des Reichs und der wirtschaftliche Ausgleich

für die Entscheidung dürfen nur die Gesichtspunkte sein, die ich oben als
wahrhaft ftaatswirtschaftlich bezeichnet habe. Bei einer einfach zahlenmäßigen
Gegenüberstellung der Frachtsätze, Transportmengen, Absatzgelegenheiten würde
beispielsweise eins ganz unberücksichtigt bleiben: das Interesse der Millionen
von Konsumenten, die die Sache erst fühlen, wenn sie schon fertig ist, und die
vorher kaum Veranlassung nehmen werden, ihre Stimme zur öffentlichen Er¬
örterung zu erheben.

Da ich nun meine eignen Zahlen nicht reden lassen wollte, habe ich mich
um die andern gekümmert, die bisher aufgetaucht find. Ich kann die Fracht-
und die Neuberechnungen oder Gewinnberechnungen beider Parteien hier nicht
vorlegen, denn ich habe nur vertraulich hineinblicken dürfen. Ich kaun nur
versichern, daß meiner Ansicht nach die Breslauer zu schwarz, die Westlinge
zu rosig rechneten. Ich bedaure auch, aussprechen zu müssen, daß die Rechner
über ihren Exempeln die allgemeinen Gesichtspunkte fast ganz versäumt haben.
Wenn die Schlesier z. B. erklären: „wir erkennen die Wichtigkeit des Kanals
an" oder ähnlich — „aber," so zeigt dieses „aber," daß die erste Wendung
wenig mehr ist als eine höfliche Verbeugung. Wer nicht anerkennen wollte,
daß der Kanal für unser Vaterland von größter Bedeutung ist, der machte
sich heute bereits zur lustigen Person. Wenn aber eine der ostländischer
Körperschaften soweit geht, nackt und bloß zu verkünden, der Kanal sei nur
wichtig „für den Güterabsatz der westlich von der Elbe gelegnen Gebiete," so
erscheint mir das sehr kurzsichtig, und wenn sie gar sagt, daß der Mittelland¬
kanal nicht eher ins Leben gerufen werden dürfe, als bis ihrem Bezirke für
den Absatz seiner Jndustrieerzeugnisfe eine vollständige und genügende Ent¬
schädigung gegeben worden sei, so ist das eine sehr bedauerliche Auffassung.
Ich glaube, in Frankreich wäre sie in der einen Gegend des Landes gegen die
andre nicht möglich gewesen.

Was ist vor der Konzessionirung der ersten Eisenbahn in Baiern alles ge¬
schrieben und geglaubt worden! „Die Eisenbahnen erleichtern") das Vordringen
eines fremden Kriegsheeres (es ist gewiß, daß Napoleon 1812 Rußland erobert
hätte, wenn dort Eisenbahnen gewesen wären); die inländische Pferdezucht, an
deren Erhaltung doch auch dem Militär viel gelegen sein muß, wird ruinirt.
Deutschland hat weder die Kapitalien noch den Verkehr, eine Eisenbahn bauen
zu können, in England und Frankreich, ja selbst in Nußland und Österreich
sind ganz andre Verhältnisse. Süddeutschland hat keinen Handel auf weitere
Entfernungen und braucht keine solchen Erleichterungen des Verkehrs, es fehlt
an Verkehr; der bisher hier vorhcmdne in Mannheim, Heilbronn, Straßburg,
am Main und in Nürnberg wird, weil er hauptsächlich Speditions- und
Transithandel ist, vernichtet werden, die Staatsfinanzen werden ruinirt, denn



*) Siehe die sehr lesenswerte Schrift »o» G. Zöpfl, Mittelländische BerkehrsproMe.
Berlin, Siemcnroth und Troschel, 189S.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/22>, abgerufen am 01.09.2024.