Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Sittlichkeit auf dem Lande

wird das Streben darnach schon einen bedeutenden Raum einnehmen, und wird
er zuletzt ein rationeller Landwirt, so werden die Versuche und Pläne, die
Sorgen und Hoffnungen eines solchen möglicherweise sein ganzes Innere aus¬
füllen. Ein intelligenter und strebsamer Arbeiter der Großstadt, der sich auch
noch an der politischen Agitation lebhaft beteiligt, mag ab und zu eine Handlung
begehen, die vom streng christlichen Standpunkte aus noch sündhafter erscheint
als die Gewohnheitssünden des Bauernknechts, aber "wie das liebe Vieh"
lebt er nicht. Damit hängt nun auch das letzte zusammen: edle Geselligkeit.
Das Tanzen möchten die Eifrer für die Sittlichkeit am liebsten ganz verbieten,
als ob nicht Tanz und Spiel die natürliche Erholung der Jugend an jedem
Feierabend oder wenigstens an jedem Sonn- und Festtage wären, und als ob
es ganz selbstverständlich wäre, daß sich junge Leute beim Tanze nicht anders
benehmen könnten als brünstige Tiere bei ihren Balgereien. Manche wollen
die Geschlechter auch bei der Arbeit getrennt wissen und halten sich darüber
auf, daß sie in der Schule noch nicht überall getrennt sind. Andern dagegen
fällt ein, daß die vollkommen durchgeführte Trennung der Geschlechter die
Sache noch verschlimmert, und daß noch ärgere Dinge getrieben werden, wenn
die Buben für sich und die Mädchen für sich abgesperrt Hausen. Da wird
wohl nichts übrig bleiben, als jeden und jede am Strick zur Arbeit zu führen,
dann wieder in den Stall zurückzuführen und einzeln anzubinden, womöglich
in eine Zelle zu sperren. Wahrhaftig, wir haben es herrlich weit gebracht
in unsern christlichen Kulturstaaten, beinahe dreitausend Jahre nach der Zeit,
wo Homer (z. V. am Schluß des achtzehnten Gesanges der Ilias) die Ar¬
beiten und Tänze der Landleute so anmutig beschrieben hat, ohne auch nur
einen Zug von Roheit oder Laszivität einzumischen; und er hat, als naiver
Realist, sicherlich naturgetreu beschrieben. Freilich haben wirs im Norden
schwerer, wegen der Rauheit des Klimas und weil unserm Landvolke das
Schönheitsgefühl beinahe gänzlich fehlt. Aber unüberwindlich sind diese
Schwierigkeiten doch nicht. Gebhardt meint, vor ein paar hundert Jahren
hätten seine Thüringer den Sinn für Farbenharmonie und für Formen noch
gehabt, der ihnen jetzt fehlt; die Verarmung seit dem dreißigjährigen Kriege
und der Rationalismus hätten sie darum gebracht. Jetzt, wo sie wohlhabend
geworden seien (der für arm geltende ist dort jetzt, wie er darlegt, wohl¬
habender als vor fünfzig Jahren der große Bauer), werde es damit schon
wieder besser, und musikalisch seien sie doch alle. Dahin gehört denn auch
alles das, was Rolfs in seiner vortrefflichen Abhandlung über die Volksfeste
ausgeführt hat. Die bisherigen Versuche einer Reform der Geselligkeit des
Landvolks und der untern Klassen sind meistens durch zwei Fehler um den
Erfolg gebracht worden. Der Pastor Gerade hatte einen Gesangverein für die
Jünglinge und einen Strick- und Nähverein für die "Jungfrauen" gegründet.
Er machte sehr merkwürdige Erfahrungen damit, und die Sache nahm ein


Die Sittlichkeit auf dem Lande

wird das Streben darnach schon einen bedeutenden Raum einnehmen, und wird
er zuletzt ein rationeller Landwirt, so werden die Versuche und Pläne, die
Sorgen und Hoffnungen eines solchen möglicherweise sein ganzes Innere aus¬
füllen. Ein intelligenter und strebsamer Arbeiter der Großstadt, der sich auch
noch an der politischen Agitation lebhaft beteiligt, mag ab und zu eine Handlung
begehen, die vom streng christlichen Standpunkte aus noch sündhafter erscheint
als die Gewohnheitssünden des Bauernknechts, aber „wie das liebe Vieh"
lebt er nicht. Damit hängt nun auch das letzte zusammen: edle Geselligkeit.
Das Tanzen möchten die Eifrer für die Sittlichkeit am liebsten ganz verbieten,
als ob nicht Tanz und Spiel die natürliche Erholung der Jugend an jedem
Feierabend oder wenigstens an jedem Sonn- und Festtage wären, und als ob
es ganz selbstverständlich wäre, daß sich junge Leute beim Tanze nicht anders
benehmen könnten als brünstige Tiere bei ihren Balgereien. Manche wollen
die Geschlechter auch bei der Arbeit getrennt wissen und halten sich darüber
auf, daß sie in der Schule noch nicht überall getrennt sind. Andern dagegen
fällt ein, daß die vollkommen durchgeführte Trennung der Geschlechter die
Sache noch verschlimmert, und daß noch ärgere Dinge getrieben werden, wenn
die Buben für sich und die Mädchen für sich abgesperrt Hausen. Da wird
wohl nichts übrig bleiben, als jeden und jede am Strick zur Arbeit zu führen,
dann wieder in den Stall zurückzuführen und einzeln anzubinden, womöglich
in eine Zelle zu sperren. Wahrhaftig, wir haben es herrlich weit gebracht
in unsern christlichen Kulturstaaten, beinahe dreitausend Jahre nach der Zeit,
wo Homer (z. V. am Schluß des achtzehnten Gesanges der Ilias) die Ar¬
beiten und Tänze der Landleute so anmutig beschrieben hat, ohne auch nur
einen Zug von Roheit oder Laszivität einzumischen; und er hat, als naiver
Realist, sicherlich naturgetreu beschrieben. Freilich haben wirs im Norden
schwerer, wegen der Rauheit des Klimas und weil unserm Landvolke das
Schönheitsgefühl beinahe gänzlich fehlt. Aber unüberwindlich sind diese
Schwierigkeiten doch nicht. Gebhardt meint, vor ein paar hundert Jahren
hätten seine Thüringer den Sinn für Farbenharmonie und für Formen noch
gehabt, der ihnen jetzt fehlt; die Verarmung seit dem dreißigjährigen Kriege
und der Rationalismus hätten sie darum gebracht. Jetzt, wo sie wohlhabend
geworden seien (der für arm geltende ist dort jetzt, wie er darlegt, wohl¬
habender als vor fünfzig Jahren der große Bauer), werde es damit schon
wieder besser, und musikalisch seien sie doch alle. Dahin gehört denn auch
alles das, was Rolfs in seiner vortrefflichen Abhandlung über die Volksfeste
ausgeführt hat. Die bisherigen Versuche einer Reform der Geselligkeit des
Landvolks und der untern Klassen sind meistens durch zwei Fehler um den
Erfolg gebracht worden. Der Pastor Gerade hatte einen Gesangverein für die
Jünglinge und einen Strick- und Nähverein für die „Jungfrauen" gegründet.
Er machte sehr merkwürdige Erfahrungen damit, und die Sache nahm ein


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0186" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/221832"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Sittlichkeit auf dem Lande</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_570" prev="#ID_569" next="#ID_571"> wird das Streben darnach schon einen bedeutenden Raum einnehmen, und wird<lb/>
er zuletzt ein rationeller Landwirt, so werden die Versuche und Pläne, die<lb/>
Sorgen und Hoffnungen eines solchen möglicherweise sein ganzes Innere aus¬<lb/>
füllen. Ein intelligenter und strebsamer Arbeiter der Großstadt, der sich auch<lb/>
noch an der politischen Agitation lebhaft beteiligt, mag ab und zu eine Handlung<lb/>
begehen, die vom streng christlichen Standpunkte aus noch sündhafter erscheint<lb/>
als die Gewohnheitssünden des Bauernknechts, aber &#x201E;wie das liebe Vieh"<lb/>
lebt er nicht. Damit hängt nun auch das letzte zusammen: edle Geselligkeit.<lb/>
Das Tanzen möchten die Eifrer für die Sittlichkeit am liebsten ganz verbieten,<lb/>
als ob nicht Tanz und Spiel die natürliche Erholung der Jugend an jedem<lb/>
Feierabend oder wenigstens an jedem Sonn- und Festtage wären, und als ob<lb/>
es ganz selbstverständlich wäre, daß sich junge Leute beim Tanze nicht anders<lb/>
benehmen könnten als brünstige Tiere bei ihren Balgereien. Manche wollen<lb/>
die Geschlechter auch bei der Arbeit getrennt wissen und halten sich darüber<lb/>
auf, daß sie in der Schule noch nicht überall getrennt sind. Andern dagegen<lb/>
fällt ein, daß die vollkommen durchgeführte Trennung der Geschlechter die<lb/>
Sache noch verschlimmert, und daß noch ärgere Dinge getrieben werden, wenn<lb/>
die Buben für sich und die Mädchen für sich abgesperrt Hausen. Da wird<lb/>
wohl nichts übrig bleiben, als jeden und jede am Strick zur Arbeit zu führen,<lb/>
dann wieder in den Stall zurückzuführen und einzeln anzubinden, womöglich<lb/>
in eine Zelle zu sperren. Wahrhaftig, wir haben es herrlich weit gebracht<lb/>
in unsern christlichen Kulturstaaten, beinahe dreitausend Jahre nach der Zeit,<lb/>
wo Homer (z. V. am Schluß des achtzehnten Gesanges der Ilias) die Ar¬<lb/>
beiten und Tänze der Landleute so anmutig beschrieben hat, ohne auch nur<lb/>
einen Zug von Roheit oder Laszivität einzumischen; und er hat, als naiver<lb/>
Realist, sicherlich naturgetreu beschrieben. Freilich haben wirs im Norden<lb/>
schwerer, wegen der Rauheit des Klimas und weil unserm Landvolke das<lb/>
Schönheitsgefühl beinahe gänzlich fehlt. Aber unüberwindlich sind diese<lb/>
Schwierigkeiten doch nicht. Gebhardt meint, vor ein paar hundert Jahren<lb/>
hätten seine Thüringer den Sinn für Farbenharmonie und für Formen noch<lb/>
gehabt, der ihnen jetzt fehlt; die Verarmung seit dem dreißigjährigen Kriege<lb/>
und der Rationalismus hätten sie darum gebracht. Jetzt, wo sie wohlhabend<lb/>
geworden seien (der für arm geltende ist dort jetzt, wie er darlegt, wohl¬<lb/>
habender als vor fünfzig Jahren der große Bauer), werde es damit schon<lb/>
wieder besser, und musikalisch seien sie doch alle. Dahin gehört denn auch<lb/>
alles das, was Rolfs in seiner vortrefflichen Abhandlung über die Volksfeste<lb/>
ausgeführt hat. Die bisherigen Versuche einer Reform der Geselligkeit des<lb/>
Landvolks und der untern Klassen sind meistens durch zwei Fehler um den<lb/>
Erfolg gebracht worden. Der Pastor Gerade hatte einen Gesangverein für die<lb/>
Jünglinge und einen Strick- und Nähverein für die &#x201E;Jungfrauen" gegründet.<lb/>
Er machte sehr merkwürdige Erfahrungen damit, und die Sache nahm ein</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0186] Die Sittlichkeit auf dem Lande wird das Streben darnach schon einen bedeutenden Raum einnehmen, und wird er zuletzt ein rationeller Landwirt, so werden die Versuche und Pläne, die Sorgen und Hoffnungen eines solchen möglicherweise sein ganzes Innere aus¬ füllen. Ein intelligenter und strebsamer Arbeiter der Großstadt, der sich auch noch an der politischen Agitation lebhaft beteiligt, mag ab und zu eine Handlung begehen, die vom streng christlichen Standpunkte aus noch sündhafter erscheint als die Gewohnheitssünden des Bauernknechts, aber „wie das liebe Vieh" lebt er nicht. Damit hängt nun auch das letzte zusammen: edle Geselligkeit. Das Tanzen möchten die Eifrer für die Sittlichkeit am liebsten ganz verbieten, als ob nicht Tanz und Spiel die natürliche Erholung der Jugend an jedem Feierabend oder wenigstens an jedem Sonn- und Festtage wären, und als ob es ganz selbstverständlich wäre, daß sich junge Leute beim Tanze nicht anders benehmen könnten als brünstige Tiere bei ihren Balgereien. Manche wollen die Geschlechter auch bei der Arbeit getrennt wissen und halten sich darüber auf, daß sie in der Schule noch nicht überall getrennt sind. Andern dagegen fällt ein, daß die vollkommen durchgeführte Trennung der Geschlechter die Sache noch verschlimmert, und daß noch ärgere Dinge getrieben werden, wenn die Buben für sich und die Mädchen für sich abgesperrt Hausen. Da wird wohl nichts übrig bleiben, als jeden und jede am Strick zur Arbeit zu führen, dann wieder in den Stall zurückzuführen und einzeln anzubinden, womöglich in eine Zelle zu sperren. Wahrhaftig, wir haben es herrlich weit gebracht in unsern christlichen Kulturstaaten, beinahe dreitausend Jahre nach der Zeit, wo Homer (z. V. am Schluß des achtzehnten Gesanges der Ilias) die Ar¬ beiten und Tänze der Landleute so anmutig beschrieben hat, ohne auch nur einen Zug von Roheit oder Laszivität einzumischen; und er hat, als naiver Realist, sicherlich naturgetreu beschrieben. Freilich haben wirs im Norden schwerer, wegen der Rauheit des Klimas und weil unserm Landvolke das Schönheitsgefühl beinahe gänzlich fehlt. Aber unüberwindlich sind diese Schwierigkeiten doch nicht. Gebhardt meint, vor ein paar hundert Jahren hätten seine Thüringer den Sinn für Farbenharmonie und für Formen noch gehabt, der ihnen jetzt fehlt; die Verarmung seit dem dreißigjährigen Kriege und der Rationalismus hätten sie darum gebracht. Jetzt, wo sie wohlhabend geworden seien (der für arm geltende ist dort jetzt, wie er darlegt, wohl¬ habender als vor fünfzig Jahren der große Bauer), werde es damit schon wieder besser, und musikalisch seien sie doch alle. Dahin gehört denn auch alles das, was Rolfs in seiner vortrefflichen Abhandlung über die Volksfeste ausgeführt hat. Die bisherigen Versuche einer Reform der Geselligkeit des Landvolks und der untern Klassen sind meistens durch zwei Fehler um den Erfolg gebracht worden. Der Pastor Gerade hatte einen Gesangverein für die Jünglinge und einen Strick- und Nähverein für die „Jungfrauen" gegründet. Er machte sehr merkwürdige Erfahrungen damit, und die Sache nahm ein

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/186
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/186>, abgerufen am 01.09.2024.