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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr.

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Die Sittlichkeit auf dem Lande

bekommt, ist schon früher bekannt gewesen. Nur durch Umgang mit einem
armen Burschen, den die Eltern nicht zum Schwiegersohn mögen, zieht sich
die Tochter Tadel zu, ebenso der junge Mann, wenn er "so dumm" ist, sich
durch unvorsichtigen Umgang mit Mädchen, die "keine Partie" für ihn sind,
Alimentationspflichten aufzuladen. So viel gesunden Sinn haben die meisten
der gefragten Pastoren, daß sie die angebotne Heimsuchung mit Missionaren,
Schriften und Sittlichkeitsvereinen ablehnen; "um Gottes willen nicht!" schreiben
einige. Dagegen haben sie nicht den Mut, die oben angedeutete Gedankenreihe
folgerichtig bis zu Ende zu führen. Nur Gebhardt hat diesen Mut, wie man
an mehreren Stellen seines Buches merkt und auf Seite 367 ganz deutlich
sieht; allerdings weicht seine Auffassung von der unsern in manchen wesent¬
lichen Punkten ab, aber worauf es hier ankommt: daß das ernsthaft ge¬
nommene reine Christentum nicht allgemeine Volksreligion sein kann, das
spricht er mutig aus.

Hätte man sich nun einmal darein ergeben, daß das echte Christentum
auf die Auserwählten beschränkt bleibt, die Masse aber höchstens einige christ¬
liche Zusätze zu ihrem Heidentum verträgt, so würde dem Geistlichen, der diese
Masse trotzdem nicht verlassen, sondern ihr noch Gutes erweisen will, die
Aussicht auf eine Wirksamkeit auch in dem fraglichen Gebiete eröffnet, die er¬
freulicher sein würde als die Verkündigung von Lehren und sittlichen Forde¬
rungen, die über die dafür unempfänglicher Gemüter herabrollen wie Regen¬
tropfen über einen Gummimantel. Es giebt eine Anzahl von Zielen, deren
Erreichbarkeit dadurch bewiesen ist, daß sie schon oft erreicht worden sind und
es auch heute hie und da noch sind. Das wesentliche am sechsten Gebot
braucht gar nicht erst erstrebt zu werden, weil es schon verwirklicht ist: auch
in den Gegenden, wo es die Ledigen am wüstesten treiben, sind die Ehen glück¬
lich und kinderreich,*) Ehescheidungen fast unbekannt, Ehebruche sehr selten.
Dagegen ist ein andres, was einen Vorzug der Germanen bildete, die späte
Reife der Jünglinge, unter den heutigen Verhältnissen schwer zu erreichen. Der
Germanenknabe badete täglich kalt oder wälzte sich im Schnee, trieb sich mit
wilden Spielen und Waffenübungen oder auf der Jagd den ganzen Tag im
Freien herum, und wenn auch natürlich die Kinder der benachbarten aber ein¬
ander nicht zu nahen Hütten Spielkameraden waren, so wurden sie doch nicht
herdenweise in engen Räumen stundenlang zusammengepreßt, um da Dinge zu
lernen, bei denen der Geist meistens abschweift, oder um still sitzend oder in



*) Wo die Bildung einzieht samt rationeller Landwirtschaft, und damit meistens auch
eine bessere äußerliche Haltung in geschlechtlichen Dingen, da ziehen leider -- das bezeugen
auch diese Bücher -- zugleich ein: Zweikindersystem, Ehescheidungen, Selbstmord, Absonderung
der ländlichen "Honoratioren" von den Dienstboten und Tagelöhnern, demnach die Arbeiter¬
frage und die Sozialdemokratie.
Die Sittlichkeit auf dem Lande

bekommt, ist schon früher bekannt gewesen. Nur durch Umgang mit einem
armen Burschen, den die Eltern nicht zum Schwiegersohn mögen, zieht sich
die Tochter Tadel zu, ebenso der junge Mann, wenn er „so dumm" ist, sich
durch unvorsichtigen Umgang mit Mädchen, die „keine Partie" für ihn sind,
Alimentationspflichten aufzuladen. So viel gesunden Sinn haben die meisten
der gefragten Pastoren, daß sie die angebotne Heimsuchung mit Missionaren,
Schriften und Sittlichkeitsvereinen ablehnen; „um Gottes willen nicht!" schreiben
einige. Dagegen haben sie nicht den Mut, die oben angedeutete Gedankenreihe
folgerichtig bis zu Ende zu führen. Nur Gebhardt hat diesen Mut, wie man
an mehreren Stellen seines Buches merkt und auf Seite 367 ganz deutlich
sieht; allerdings weicht seine Auffassung von der unsern in manchen wesent¬
lichen Punkten ab, aber worauf es hier ankommt: daß das ernsthaft ge¬
nommene reine Christentum nicht allgemeine Volksreligion sein kann, das
spricht er mutig aus.

Hätte man sich nun einmal darein ergeben, daß das echte Christentum
auf die Auserwählten beschränkt bleibt, die Masse aber höchstens einige christ¬
liche Zusätze zu ihrem Heidentum verträgt, so würde dem Geistlichen, der diese
Masse trotzdem nicht verlassen, sondern ihr noch Gutes erweisen will, die
Aussicht auf eine Wirksamkeit auch in dem fraglichen Gebiete eröffnet, die er¬
freulicher sein würde als die Verkündigung von Lehren und sittlichen Forde¬
rungen, die über die dafür unempfänglicher Gemüter herabrollen wie Regen¬
tropfen über einen Gummimantel. Es giebt eine Anzahl von Zielen, deren
Erreichbarkeit dadurch bewiesen ist, daß sie schon oft erreicht worden sind und
es auch heute hie und da noch sind. Das wesentliche am sechsten Gebot
braucht gar nicht erst erstrebt zu werden, weil es schon verwirklicht ist: auch
in den Gegenden, wo es die Ledigen am wüstesten treiben, sind die Ehen glück¬
lich und kinderreich,*) Ehescheidungen fast unbekannt, Ehebruche sehr selten.
Dagegen ist ein andres, was einen Vorzug der Germanen bildete, die späte
Reife der Jünglinge, unter den heutigen Verhältnissen schwer zu erreichen. Der
Germanenknabe badete täglich kalt oder wälzte sich im Schnee, trieb sich mit
wilden Spielen und Waffenübungen oder auf der Jagd den ganzen Tag im
Freien herum, und wenn auch natürlich die Kinder der benachbarten aber ein¬
ander nicht zu nahen Hütten Spielkameraden waren, so wurden sie doch nicht
herdenweise in engen Räumen stundenlang zusammengepreßt, um da Dinge zu
lernen, bei denen der Geist meistens abschweift, oder um still sitzend oder in



*) Wo die Bildung einzieht samt rationeller Landwirtschaft, und damit meistens auch
eine bessere äußerliche Haltung in geschlechtlichen Dingen, da ziehen leider — das bezeugen
auch diese Bücher — zugleich ein: Zweikindersystem, Ehescheidungen, Selbstmord, Absonderung
der ländlichen „Honoratioren" von den Dienstboten und Tagelöhnern, demnach die Arbeiter¬
frage und die Sozialdemokratie.
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[0183] Die Sittlichkeit auf dem Lande bekommt, ist schon früher bekannt gewesen. Nur durch Umgang mit einem armen Burschen, den die Eltern nicht zum Schwiegersohn mögen, zieht sich die Tochter Tadel zu, ebenso der junge Mann, wenn er „so dumm" ist, sich durch unvorsichtigen Umgang mit Mädchen, die „keine Partie" für ihn sind, Alimentationspflichten aufzuladen. So viel gesunden Sinn haben die meisten der gefragten Pastoren, daß sie die angebotne Heimsuchung mit Missionaren, Schriften und Sittlichkeitsvereinen ablehnen; „um Gottes willen nicht!" schreiben einige. Dagegen haben sie nicht den Mut, die oben angedeutete Gedankenreihe folgerichtig bis zu Ende zu führen. Nur Gebhardt hat diesen Mut, wie man an mehreren Stellen seines Buches merkt und auf Seite 367 ganz deutlich sieht; allerdings weicht seine Auffassung von der unsern in manchen wesent¬ lichen Punkten ab, aber worauf es hier ankommt: daß das ernsthaft ge¬ nommene reine Christentum nicht allgemeine Volksreligion sein kann, das spricht er mutig aus. Hätte man sich nun einmal darein ergeben, daß das echte Christentum auf die Auserwählten beschränkt bleibt, die Masse aber höchstens einige christ¬ liche Zusätze zu ihrem Heidentum verträgt, so würde dem Geistlichen, der diese Masse trotzdem nicht verlassen, sondern ihr noch Gutes erweisen will, die Aussicht auf eine Wirksamkeit auch in dem fraglichen Gebiete eröffnet, die er¬ freulicher sein würde als die Verkündigung von Lehren und sittlichen Forde¬ rungen, die über die dafür unempfänglicher Gemüter herabrollen wie Regen¬ tropfen über einen Gummimantel. Es giebt eine Anzahl von Zielen, deren Erreichbarkeit dadurch bewiesen ist, daß sie schon oft erreicht worden sind und es auch heute hie und da noch sind. Das wesentliche am sechsten Gebot braucht gar nicht erst erstrebt zu werden, weil es schon verwirklicht ist: auch in den Gegenden, wo es die Ledigen am wüstesten treiben, sind die Ehen glück¬ lich und kinderreich,*) Ehescheidungen fast unbekannt, Ehebruche sehr selten. Dagegen ist ein andres, was einen Vorzug der Germanen bildete, die späte Reife der Jünglinge, unter den heutigen Verhältnissen schwer zu erreichen. Der Germanenknabe badete täglich kalt oder wälzte sich im Schnee, trieb sich mit wilden Spielen und Waffenübungen oder auf der Jagd den ganzen Tag im Freien herum, und wenn auch natürlich die Kinder der benachbarten aber ein¬ ander nicht zu nahen Hütten Spielkameraden waren, so wurden sie doch nicht herdenweise in engen Räumen stundenlang zusammengepreßt, um da Dinge zu lernen, bei denen der Geist meistens abschweift, oder um still sitzend oder in *) Wo die Bildung einzieht samt rationeller Landwirtschaft, und damit meistens auch eine bessere äußerliche Haltung in geschlechtlichen Dingen, da ziehen leider — das bezeugen auch diese Bücher — zugleich ein: Zweikindersystem, Ehescheidungen, Selbstmord, Absonderung der ländlichen „Honoratioren" von den Dienstboten und Tagelöhnern, demnach die Arbeiter¬ frage und die Sozialdemokratie.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_221645/183>, abgerufen am 01.09.2024.